Alexander Auler (Hans) und Judith Caspari (Traute) in "Scholl - Die Knospe der weißen Rose" © Thomas Langer
Alexander Auler (Hans) und Judith Caspari (Traute) in "Scholl - Die Knospe der weißen Rose" © Thomas Langer

Scholl - Die Knospe der Weißen Rose (2023)
Stadttheater, Fürth

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Mit “SCHOLL – Die Knospe der weißen Rose” haben Thomas Borchert und Titus Hoffmann ein außergewöhnlich komplexes und inhaltlich anspruchsvolles Werk geschaffen, das seine Uraufführung im Stadttheater Fürth in einer eindrucksvoll präsentierten Inszenierung mit einem bombastischen, vor Talent strotzenden jungen Cast feiert. Ein bedeutendes Stück deutscher Geschichte ist hier aufbereitet als hochphilosophisches Coming-of-Age-Drama mit den Irrungen und Wirrungen junger und außergewöhnlicher Leben in der NS-Zeit.

Anders als man aufgrund des Titels und gewisser medialer Vorprägung vielleicht erwartet, spielt nicht das Leben von Sophie und Hans Scholl die zentrale Rolle in diesem Musical. Vielmehr wird eine kleine Episode aus ihrem Leben erzählt, die sich als großer Entstehungsmoment für die historische Freiheits- und Protestbewegung um das Geschwisterpaar entpuppt: Zum Jahreswechsel 1941/42, nur knapp 1 Jahr vor der Hinrichtung der Scholl-Geschwister, verbringen Hans und Sophie mit einigen guten Freunden ein paar Tage in einer Skihütte in den Tiroler Alpen. In dieser kurzen Zeit keimen durch den ideologischen und philosophischen Austausch unter den jungen Erwachsenen und die Lektüre verbotener, kriegsfeindlicher Literatur erste Widerstandsgedanken auf, die in den Flugblattaktionen der “Weißen Rose” im Folgejahr münden sollten.

Es handelt sich also um eine Art “Prequel” zu dem, was die Scholls berühmt machte – daher auch die “Knospe” im Titel des Stücks. Präsentiert wird die Geschichte von Traute, einer Kommilitonin und kurzzeitigen Partnerin von Hans. Sie leitet als Erzählerin – aus einer zeitlichen Perspektive rückblickend nach der Hinrichtung der Geschwister – durch die Handlung, die sich in der Skihütte abspielt. Traute zeigt durch einige Rückblenden zudem die Geschehnisse, die zu der Zusammenkunft der sechs Studenten führte und schiebt in Form von Vorblenden auch immer wieder ein, wie die gemeinsamen Erlebnisse dort schließlich in der bekannten Flugblattaktion und dem Tod der Protagonisten mündete. Profane Beziehungsprobleme und Gedanken von Jugendlichen mischen sich mit existenziellem Streben nach Moral und Werten, den Fragen nach dem Sinn und dem Ziel ihrer Existenz und der Suche nach sich selbst. Dieser hochkomplexe, mehrschichtige Inhalt wird durch zahlreiche poetische Elemente sowie durch originale Schriftstücke der Protagonisten inspirierte Lieder aus verschiedensten Stilrichtungen vertont und durch eine verschachtelte Handlung mit zahlreichen Rückblenden, inneren Monologen und Traumsequenzen veranschaulicht. So komplex ist Musical nur selten.

Darin liegt auch eine Herausforderung des Stückes, die für einige Zuschauer zum Problem werden könnte: Die hohe Informationsdichte innerhalb der Lieder, die sich fast nahtlos mit abstrakten und inhaltsschweren Dialogen beinahe im Minutentakt abzuwechseln scheinen, wirkt beinahe erschlagend. Man hat kaum Zeit, das gerade Gehörte und Gesehene adäquat kognitiv und emotional zu verarbeiten, bevor das nächste lyrische Werk musikalisch oder rezitativ präsentiert wird. Es bedarf wohl mehrerer Theaterbesuche, um die präsentierten Inhalte vollends begreifen zu können. Dadurch leidet auch der rote Faden, der unter dem Schwall an poetischen Ideen und philosophischen Gedanken begraben scheint. Glücklicherweise lädt er, wenn man aufmerksam und stets aktiviert die Vorstellung verfolgt und ihn akribisch sucht, immer wieder dazu ein, sich an ihm festzuhalten, bis er wieder unter einem schweren Thema verschwindet – aber ganz weg ist er nie. Wer sich hier also ein Musical erhofft, das man als „netten Theaterabend” oder eine Art „Berieselung” kategorisieren könnte oder eine lupenreine, chronologisch aufbereitete Biographie der Geschehnisse erwartet, wird hier nicht fündig. Der Zuschauer ist in höchstem Maße gefordert. Lässt man sich darauf ein, erschließt sich einem ein mehrschichtiges und hochkomplexes Werk, das brisanter und aktueller nicht sein könnte.

Mehrere in der Höhe verstellbare Holzbalken funktionieren zusammen mit einem hölzernen Podest, einem Treppengestell, vielerlei Holzkisten und einem passend parkettierten Bühnenbodenvortrefflich als Tiroler Skihütte. Im Hintergrund befindet sich eine LED-Wand, die beispielsweise genutzt wird, um ein Alpenpanorama, Kriegsszenen oder Videomaterial aus der NS-Zeit zu projizieren und für die ohnehin komplex verschachtelte Handlung wenigstens einige Datums- und Ortsangaben zu geben. Zumeist ist diese Wand jedoch nicht aktiviert und bildet einen pechschwarzen Backdrop, der die Hütte zu einem einengenden, klaustrophobischen Ort werden lässt. Dies wird immer dann besonders durch das Herunterfahren der schwebenden Balken unterstützt, wenn die Charaktere sich in krisenhaften Situationen befinden. Ein interessanter Genie-Streich fällt erst nach mehrmaligem Hinsehen auf: Die Balken bilden ein Hakenkreuz, das bedrohlich, einem Damoklesschwert gleich, über den Figuren statisch zu schweben scheint und ihre ideologische Gefangenschaft in der Welt der Nationalsozialisten spiegelt. Wenn Freiheitsgedanken, systemschädigende Ideen und Protest bei den Protagonisten aufkommt, bricht das Hakenkreuz durch Herauf- oder Herabfahren einzelner Balken auf und verschwindet. In Situationen besonderer Machtlosigkeit gegen das Regime wird das Symbol zusätzlich durch an der Unterseite angebrachte LED-Streifen grell leuchtend betont. So ist das Bühnenbild selbst ein integraler Bestandteil des Narratives in diesem Musical. Einfach genial!

Symbiotisch mit der Bühne, den Texten und der Darstellung durch die Schauspieler*innen wirkt das ausgeklügelte Lichtdesign, das nuanciert bestimmte Figuren in den Fokus rückt. Durch entsprechende Unterschiede in der Lichtintensität und Farbe können Rückblenden, innere Monologe, narrative Einschübe und Traumsequenzen subtil voneinander unterschieden werden. Für einige Zuschauer mag dieser subtile Unterschied nicht deutlich genug sein – insgesamt funktioniert es aber erstaunlich gut, mithilfe des Lichtdesigns durch unterschiedliche Erzählebenen der verschachtelten Handlung zu führen.

Die wenigen herausstechenden Requisiten wissen zudem zu begeistern: Bei dunklem Lichtsetting schlagen die Studenten verbotene Bücher auf, aus denen warmes Licht auf ihre Gesichter fällt – ein wunderbares Sinnbild für ihre geistige Erleuchtung und den erwachenden Freiheitsgeist. Besonders beeindruckend fällt die berühmte Flugblattaktion in der Universität von München aus: Ein großer Koffer auf der Mitte der Bühne wird geöffnet, aus dem zahllose Flugblätter hinauf in die Luft geschossen werden und über die Bühne regnen. Ein unvergessliches Bild!

Die Tonqualität ist in weiten Teilen hervorragend. Auch die Abmischung lässt nichts zu wünschen übrig: Dialoge sind auditiv gut verständlich und Gesangspassagen sind so mit der Musik abgemischt, dass sowohl Melodie als auch Texte erfassbar sind. Einzelne Tonpatzer mit verzögerter Aktivierung von Mikrofonen oder verwaschenem Sound bei dem einen oder anderen Darsteller sind zu verkraften, stören aber das ansonsten einwandfreie Erlebnis.

Die Musik von Thomas Borchert, die eine fünfköpfige Band live hinter der Bühne virtuos vertont, unterstreicht die poetischen Annäherungen der Protagonisten an die für sie relevanten Lebensthemen. Sie spiegeln eine breite Palette an musikalischen Stilen wider – von Klassik und Oper über Hip Hop und Jazz bis hin zu typischen Musical-Balladen überwiegen in der Partitur vor allem rockige Töne. Komplexe und anspruchsvolle Strophenmelodien wechseln sich mit eingängigen Refrains ab. Der Musik gelingt es, die bleierne Schwere der Thematik abzufangen und den Zuschauer immer wieder daran zu erinnern, dass es sich bei der Handlung um einen Urlaub von Jugendlichen handelt, dem auch trotz aller Grübelei eine gewisse Leichtigkeit innewohnt. Trotzdem wünscht man sich bei den meisten Liedern eine klarere Strukturierung und einen dramaturgischen Aufbau, der die Stücke thematisch runder machen würde. So beginnen oder entwickeln sich viele Lieder sehr abrupt und werden durch das nächste musikalische Thema oder durch Dialogpassagen direkt wieder beendet. Das macht das Stück zwar dynamischer, büßt aber bei der Effektivität der äußerst virtuos vorgetragenen Songs ein, in denen sich noch viel mehr Potenzial versteckt.

Die siebenköpfige Besetzung ist so grandios, dass es schwerfällt sie ohne den Gebrauch zahlloser Superlative preisend herauszustellen. Eine solche geballte Salve an Talent, schauspielerischer Nuanciertheit und Stimmgewalt ist beinahe einzigartig – erst recht auf einer Stadttheaterbühne. Beim Casting wurde großes Geschick bewiesen. Handerlesen bringt jeder Darsteller und jede Darstellerin das maximal Mögliche auf die Bühne.

Judith Caspari als Traute gibt eine toughe liberale junge Frau, die emotional zerrissen und zugleich gedanklich gereift und intellektuell agiert. Keine leichte Rolle, der Caspari hier mit Bravour gerecht wird und dabei stets authentisch und glaubwürdig wirkt. Den großen gesanglichen Höhepunkt des Stückes bestreitet sie stimmgewaltig mit dem Lied “Der Doppelgänger”, in dem der innere Konflikt ihrer Figur eindrucksvoll beschrieben wird – dieser Auftritt bleibt im Gedächtnis. Als Bindeglied zwischen den Protagonisten muss Caspari in ihrer Rolle der Traute mit allen Figuren in Interaktion treten und ihren Charakter positionieren – zumeist musikalisch. Die komplexe und sich wandelnde Beziehung zu Hans stellt sie in über die Handlung verteilte Duette mit Alexander Auler dar: Vom frischen Liebesleben in “Glück” über zunehmende Unsicherheiten und Komplikationen in “Schweigen” bis hin zur Einleitung des Beziehungsendes in “Diese Worte bleiben”gelingt es den beiden, eine von Schwierigkeiten zum Scheitern verurteilte junge Liebe freundschaftlich zu beenden. Einen weiteren zwischenmenschlichen Spagat schafft Caspari im Zusammenspiel mit Karolin Konert, die Inge, die emotional erschütterte und im Glauben Zuflucht suchende ältere Schwester von Hans und Sopie Scholl spielt. Mit zwei Duetten, dem eher ruhigen “Windlicht” und dem eindringlichen “Nicht der Rede wert” machen sie ihre divergierenden Wertvorstellungen klar und schaffen es trotzdem, dass ihre Figuren einen versöhnlichen Konsens vermitteln. Caspari gefällt vor allem auch in ihrem Zusammenspiel mit Sandra Leitner, die eine energetische und leidenschaftliche Sophie Scholl verkörpert – man merkt sofort, dass beide Figuren sich in ihren Werten und Einstellungen sehr ähneln und eine aufkeimende Freundschaft erleben.

Auch wenn Judith Caspari als Traute im Zusammenspiel vielen der Figuren eine Mehrschichtigkeit entlockt, stehen die DarstellerInnen der einzelnen Rollen auch hervorragend alleine für sich ein: Alexander Aulers Interpretation von Hans Scholl ist wohl die vielschichtigste Figur des Stücks, da er sich mit mehreren Konflikten zu beschäftigen hat: Seine politische und philosophische Einstellung zum Krieg, dem Regime und dem menschlichen Leben als solches auf der einen Seite. Auf der anderen Seite kämpft er gegen seine homoerotischen Gefühle zu einem früheren Kameraden an und versucht sich in der Beziehung zu Traute selbst neu zu finden. All das bringt Auler überzeugend auf die Bühne und verfügt zudem über eine grandiose Stimmpräsenz, die sich vor allem in seinem Solo “Das geistige Gefängnis” zeigt. In “Diese Worte bleiben” oder seinem emotionalen Duett mit Sandra Leitner “Gemeinsam” überzeugt er zudem besonders in den leisen, gefühlvollen Passagen.

Leitner stellt ihr großes Gesangstalent nicht nur im klassischen Operngesang in “Sentimentaler Quatsch” unter Beweis, sondern weiß auch mit ihrem Solo “Gott ist fern” auf der eher rockigen Ebene vollends zu begeistern. Die enge Vertrautheit ihrer Figur zu ihrem Bruder spielt Leitner mit einer herzerwärmenden Überzeugung. Den starken Kontrast dazu bildet ihr entfremdet wirkendes Zusammenspiel mit Konert als ihre Schwester Inge, was den Bruch innerhalb der Familie eindrucksvoll widerspiegelt.

Dennis Hupka spielt nicht nur den heiteren Kommilitonen Freddy, sondern ist auch in einigen Rückblenden als Hans‘ Jugendliebe Rolf und als bedrohlicher NS-Offizier zu sehen, was seine schauspielerische Diversität nur unterstreicht. Mit “Am Sonntag kommt zum Kaffeeklatsch”, das er allen voran anstimmt und der Reprise von “Flamme sein” gibt zeigt sich auch auf musikalischer Ebene seine beeindruckende Fähigkeit, zwischen gänzlich unterschiedlichen emotionalen Lagen zu wechseln.

Eine stimmliche Offenbarung kommt mit Lina Gerlitz daher. In der Rolle der Ulla trägt sie einen großen Teil der leichteren Elemente des Stücks. Auch wenn ihre Figur buchbedingt hinter den anderen Protagonisten recht wenig beleuchtet wird, gelingt es Gerlitz scheinbar mühelos, ihre Ulla mehrschichtig und emotional komplex anzulegen und sie von einer bloßen Nebenfigur, die einfach nur dabei ist, immer wieder zwischendurch gezielt in den Fokus zu bringen – wenn auch nur für kurze Momente. Stimmlich fällt sie in den Ensembleparts stets durch ihre starke Intonation und ihr virtuoses Vibrato auf.

Karolin Konert wirkt mit ihrer Figur Inge, die eine gänzlich andere Wertvorstellung repräsentiert als Traute, Sophie und Hans, immer etwas außen vor und über den Dingen stehend. Ihre völlige Erfüllung und Flucht in den Glauben wegen traumatischer Erlebnisse in ihrer Vergangenheit spielt sie geradezu perfekt authentisch – sie verschmilzt mit ihrer Rolle. Dass die kühle Inge auch eine warme, beschützende Hand über ihre Geschwister legt, weiß Konert überzeugend wie subtil durch ihr Auftreten auszudrücken.

Dem schwierigen Part von Alexander Schmorell, der im Stück Shurik genannt wird, begegnet Fin Holzwart virtuos. Als einzige Figur ist Shurik nicht physisch in der Berghütte anwesend und kann sich schauspielerisch nur innerhalb von Rückblenden an der Figur Hans Scholl abarbeiten, für die Shurik der wichtigste Vertraute und einen Seelenverwandten darstellt. Nicht zuletzt durch ihren fortwährenden Gedankenaustausch kommt Scholl auf die schicksalhafte Idee, sich gegen das Regime zur Wehr zu setzen. Den starken Hunger nach Gerechtigkeit und seinen ausgeprägten Freiheitsdrang kann Holzwart in dem stimmgewaltigen Opener für den zweiten Akt “Propaganda” imposant ausdrücken. Sein Duett mit Hans am Ende des ersten Aktes “Das Rad der Geschichte” bleibt genauso in Erinnerung und weiß zu berühren.

“SCHOLL – Die Knospe der weißen Rose” ist ein deutsches Musical-Kleinod für ein Musical-Publikum, das schwere Kost verdauen kann und Wertschätzung für poetische Inhalte mitbringt. Dem Musical ist zu wünschen, dass es demnächst weitere Bühnen im deutschsprachigen Raum erobern wird – hoffentlich mit ähnlich beeindruckenden Besetzungen wie bei dieser Uraufführung in Fürth!

 
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KREATIVTEAM
MusikThomas Borchert
Buch, LiedtexteTitus Hoffmann
Musikalische ArrangementsThomas Borchert
Robert Paul
Musikalische LeitungRobert Paul
InszenierungTitus Hoffmann
ChoreografieAndrea Danae Kingston
BühnenbildStephan Prattes
KostümbildConny Lüders
 
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CAST (AKTUELL)
TrauteJudith Caspari
HansAlexander Auler
SophieSandra Leitner
ShurikFin Holzwart
IngeKarolin Konert
FreddyDennis Hupka
UllaLina Gerlitz
  
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TERMINE
keine aktuellen Termine
 
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TERMINE (HISTORY)
Fr, 14.04.2023 19:30Stadttheater, FürthPremiere
Sa, 15.04.2023 19:30Stadttheater, Fürth
So, 16.04.2023 19:30Stadttheater, Fürth
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