Das Ende der Titanic kennt jeder – daher kann und muss sich die aus Großbritannien gastierende Inszenierung nicht auf den üblichen Spannungsbogen stützen. Auch Ohrwurm-trächtige Melodien fehlen. Vielmehr schwebt über dem gesamten Stück ein düsteres Unheil, das auch fröhliche Szenen nicht fröhlich erscheinen lassen kann. Die großen Emotionen fehlen trotzdem – oder gerade deshalb – nicht. Besonders ein Passagier-Paar des „unsinkbaren Schiffes“ lässt die Herzen des Publikums zer- und die Taschentuchpackungen aufreißen. 2923 geht die Produktion erneut auf Tour durch Großbritannien.
Wer lautes Geschrei und dramatischen Kitsch während des Untergangs erwartet (oder fürchtet) wird enttäuscht (oder erleichtert) sein. Die schmerzvollen Momente liegen bei dieser Inszenierung mehr in der Stille als in der Panik. Mit dem sich hebenden Schiffsbug wird dem Zuschauer immerhin ein ausgefallener Bühnentod geboten. Andere Charaktere sterben unscheinbarer (vor allem die Dritte Klasse) oder überleben das Unglück auf Rettungsbooten (vor allem die Erste Klasse). Vor dem Tod sind eben doch nicht alle gleich.
Weniger still sind die großen Ensemblemomente. „Titanic“ ist ein chorreiches Ensemblestück, das auf Hauptrollen verzichtet und mit einem 25 Personen starken Cast punktet. Auf die leisen Momente antwortet er mit kraftvollen Chornummern – manchmal technisch etwas zu laut.
Trotz fehlender Hauptrollen hält „Titanic“ Widersacher parat – und letztlich bleibt es der Interpretation des Zuschauers überlassen, wer die Verantwortung für den Untergang des „unsinkbaren Schiffes“ trägt. Neben einem bedrohlichen Mensch-Natur-Konflikt und der verhängnisvollen Technikeuphorie der damaligen Zeit, gibt es in „Titanic“ ausreichend leibhaftige Charaktere, die nicht unschuldig am Untergang des Schiffes sind. Da ist Mr. Ismay (Simon Green), der aus PR- Gründen zu einer schnelleren Überfahrt drängt oder der stoische Captain Smith (Philip Rham), der dies genehmigt und einen nördlicheren Kurs anordnet. Ebenso Frederick Fleet (Joel Parnis), der zum Zeitpunkt der Kollision im Dienst als Ausgucker ist. Oder Architekt Thomas Andrews (Greg Castiglioni), der vor der Abfahrt eine unsinkbare Konstruktion versprach. Auch Funker Bride (Oliver Marshall) wird beschuldigt, schließlich kann er ein nahendes Schiff, welches helfen soll, nicht erreichen. Diese Männer sind so vielschichtig menschlich gezeichnet und werden von ihren Darstellern so überzeugend gespielt, dass es nicht den Schuldigen gibt und die Schuldfrage dem Zuschauer überlassen wird.
Besonders Oliver Marshall als Funker Bride hinterlässt Eindruck mit seiner „Dit-dit-dah-dit-dah-dit“-Nummer („The Night Was Alive“), die sich von den anderen Songs absetzt und mit der er einen Heiratsantrag von Heizer Barrett (Niall Sheehy) nach Hause schickt. Die wahren Stars der Inszenierung sind jedoch Judith Street und Dudley Rogers, die auf der Bühne als Millionärspaar Straus perfekt harmonieren. Ehefrau Ida Straus weigert sich, ohne ihren Mann in die Sicherheit der Rettungsbote zu gehen und so tanzen sie Arm in Arm einen ergreifenden Walzer in ihr gemeinsames Lebensende. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird in den Taschen der Zuschauer nach Taschentüchern gesucht.
David Woodhead formt aus der Bühne der Staatsoper Hamburg das nebelgeschwängerte Innere der „schwimmenden Stadt“. Hereingeschobene Requisiten machen den Raum zu den drei Klassen, die an Bord gastieren: Die ärmliche Dritte Klasse, die von einem besseren Leben in Amerika träumt, die Zweite Klasse und die Erste Klasse, wo die Schönen und Reichen die Überfahrt genießen. Auch das Büro des Kapitäns oder der Raum der Funker lassen sich mittels hereingeschobener Schreibtische einrichten. Durch weißes Geländer auf einer höher liegenden Ebene und verschiebbare weiße Treppen entsteht die Reling am Bug des Schiffes. In der Inszenierung werden diese beweglichen Elemente gut eingebunden, doch entsteht durch das hinter dem nicht genutzten Orchestergraben recht weit entfernte Bühnenbild eine Lücke zwischen Bühnenrand und Bühnengeschehen. Überfahrt-Stimmung will dabei nicht so recht aufkommen. Klischeehaftere, weniger stilisierte Bühnenbilder aus Musicals wie „Ich war noch niemals in New York“ können bei der Darstellung des Schiffes eher überzeugen. Vielleicht hätte der Titanic zumindest einer von ihren vier Schornsteinen auf der Bühne gut getan.
Die Kostüme (ebenfalls von David Woodhead) überzeugen dagegen auf ganzer Linie. Sie teilen ihre Darsteller den unterschiedlichen Klassen und Positionen an Bord zu und geben in den Ensembleszenen ein schönes Gesamtbild ab. Im großen Finale stehen jene, denen es vergönnt ist, in unschuldsweißen Rettungswesten da.
Auf verstörende Weise überraschend kommt die Kollision mit dem Eisberg daher, die ständig in der Luft liegt – und dann doch unerwartet passiert. Direkt vor der Pause geht ein donnerndes Dröhnen durch den Zuschauerraum. Die Inszenierung muss ganz ohne Wind, Wasser und Wellen auskommen. Stattdessen verlässt das Publikum mit bebenden Theaterwänden und einem mulmigen Gefühl den Saal in die Pause.
Dieser von Bässen dröhnende Rumms beschwert nicht nur die Pause, sondern hinterlässt noch bis zum Schlussapplaus Eindruck und ein unbehagliches Gefühl, das die Dramatik des Stückes wunderbar unterstreicht. An Applaus und begeisterten Pfiffen wird deshalb nicht gespart und die Premiere wird mit Standing Ovations gefeiert. Die Titanic ist abermals gesunken und wird wegen ihrer geheimnisumwitterten Atmosphäre und emotionalen Momente gefeiert.
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