Christian Fröhlich (Pierre), Ensemble © Reinhard Winkler
Christian Fröhlich (Pierre), Ensemble © Reinhard Winkler

Natascha, Pierre und der große Komet von 1812 (2023)
Landestheater, Linz

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Gleich im Prolog geben die Darsteller dem Publikum den Tipp, dass es wohl besser gewesen wäre, sich auf den Abend vorzubereiten. Schließlich sei ein russischer Roman wie „Krieg und Frieden“ nur schwer zu verstehen und alle Figuren auf der Bühne hätten neun unterschiedliche Namen. Vielleicht hätte das Landestheater Linz noch den Hinweis aufnehmen sollen, dass den Zuschauern in den nächsten zweieinhalb Stunden eine Show erwartet, die dermaßen ungewöhnlich und aufwendig inszeniert ist, das ihm der Mund offenstehen bleibt vor Staunen.

In Zeiten, in denen Theater auch im Bereich Musical oft auf die sichere Nummer setzen und die zigste Wiederholung von „Sister Act“ oder „La Cage Aux Folles‘ spielen, wagt sich das Landestheater Linz auf neues Terrain und sicherte sich die Rechte an der europäischen und deutschsprachigen Erstaufführung der hierzulande wohl eher nur bei ausgewiesenen Musical-Fans bekannten Elektropop-Oper „Natascha, Pierre und der große Komet von 1812“.
Bei ihrer Ur-Aufführung am Broadway im Jahr 2016 machte die Show einige Schlagzeilen. Für die immersive Inszenierung blieb im Imperial-Theatre beinahe kein Stein auf dem anderen und neben einer illustren Schar von Broadway-Schwergewichten konnte für die männliche Hauptrolle des Pierres Crossover-Star Josh Groban gewonnen werden. Bei den Tony-Awards wurde „The Great Comet“ mit 12 Nominierungen bedacht, von denen man sich letztendlich auch den Tony für das Beste Bühnenbild und das Beste Licht-Design sichern konnte. Trotzdem war nach nicht einmal einem Jahr und nur knapp 350 gespielten Vorstellungen der Komet auch bereits wieder verglüht und die Lichter im Imperial-Theatre gingen wieder aus.

Auch das Landestheater Linz setzt nun auf den immersiven Charakter der Show. Bereits beim Betreten des Theaters und dem Blick in die Richtung, in der sich ansonsten die klassische Guckkasten-Bühne befindet, wähnt sich der Zuschauer jetzt eher in einem typischen Berliner Tanz-Club. Aus einem Stahlkonstrukt entstehen mehrere Ebenen und ein Steg reicht weit ins Publikum hinein. Ob der Orchestergraben ins Bühnenbild, oder doch eher in den Publikumsraum integriert ist, liegt im Auge des Betrachters. Auf alle Fälle befindet sich auch hinter der Brüstung nun noch eine zusätzliche Sitzreihe. Wenn sich zu Beginn der Show der Vorhang hebt, der über der gesamten Bühne wie zufällig hängt, gibt er den Blick auf einen Teil des Orchesters frei, das auf der obersten Ebene über dem Geschehen thront. Der andere Teil des Orchesters gehört ebenfalls zum Ensemble und spielt seine Instrumente verteilt über die gesamte Bühne, während die betreffenden Ensemblemitglieder ihre jeweiligen Rollen spielen.

Erzählt wird ein kleiner Ausschnitt aus Leo Tolstois Romanepos „Krieg und Frieden“: Die junge Natascha reist mit ihrer Cousine Sonja nach Moskau, um den Winter bei ihrer Patentante Marja zu verbringen und auf ihren Verlobten Andrej zu warten, dessen Rückkehr aus dem Krieg gegen Frankreich sie erwartet. Bei einem Besuch in der Oper verliebt sie sich jedoch Hals über Kopf in den undurchsichtigen Frauenhelden Anatol. Andrejs bester Freund Pierre und Sonja versuchen, die Affäre zu unterbinden, doch das Liebesdrama nimmt unaufhaltsam seinen Lauf…

Linz liebt sein Musical-Ensemble. Das wird bereits im Prolog klar, wenn die Darsteller durch das Publikum auf die Bühne ziehen und dabei frenetisch mit Applaus begrüßt werden. Mit einer dermaßen positiven Energie ausgestattet, spielt sich der Cast enorm gut gelaunt und enthusiastisch durch den Abend. Hanna Kastner ist eine sehr sympathische Natascha, der die Gratwanderung von der eben noch auf ihren Verlobten Andrej wartenden, im nächsten Moment über beide Ohren in Anatol verliebten und dann schließlich von der Gesellschaft geschmähten jungen Frau gut gelingt. Die schwierige Partitur bewältigt sie scheinbar mühelos mit ihrem einschmeichelnden Sopran.

Christian Fröhlich stellt in der Rolle des stets den Sinn des Lebens suchenden Pierres nicht nur seine sängerischen und schauspielerischen Qualitäten unter Beweis, sondern übernimmt auch immer wieder Orchesterparts. Wenn er allein in seinem Zimmer über sein Leben sinniert, tauscht er mit dem musikalischen Leiter Tom Bitterlich schon einmal den Platz am Piano und begleitet sich selbst an der Tastatur oder spielt in den wilden Ensemblenummern Akkordeon. Optisch scheint Pierre in der Linzer Inszenierung eine Verneigung vor seinem wohl bekanntesten Darsteller Josh Groban zu sein.
Gernot Romic als Anatol ist ganz das Gegenteil: Immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer wirbelt er über die Bühne. Er beherrscht es, einerseits nachvollziehbar zu vermitteln, warum ihm Natascha verfällt – gleichzeitig aber auch das Gefühl zu geben, dass er die Art Mensch ist, von der sich Natascha besser fernhalten sollte.

Eine große Qualität des Linzer Musical-Ensembles ist, dass sich auch für eine Show mit so vielen Haupt- und Nebenrollen immer die passende Besetzungen finden: Judith Jandl als Nataschas Cousine Sonja kann in ihren wenigen Auftritten ebenso überzeugen wie Daniela Dett als Hélène, die durchtriebene Ehefrau Pierres und Anatols Schwester. Einen kleinen Showstopper landet Karsten Kenzel als wilder Kutscher Balaga mit irrem Blick. Die gesamte Show kommt dermaßen energetisch und als geschlossenes Ganzes über die Bühne, dass es schon beinahe unfair wirkt, einzelne Leistungen besonders zu würdigen.

Eine besondere Erwähnung verdienen definitiv die Kostüme von Andrew D. Edwards, die in einem deutlichem Gegensatz zum ebenso von Edwards entworfenen Bühnenbild stehen. Während die Bühne aus einer schmucklosen Stahlkonstruktion besteht und beinahe ohne alle Requisiten auskommt, sind die Kostüme aufwendig, opulent und verschwenderisch gestaltet. Sie zitieren die zeitgenössische Mode und sprechen mit ihren verspielten Zusätzen, wie den hohen Schlitzen an den Vorderseiten der Kleider der Frauen, doch ihre ganz eigene Sprache.

In einem Kommentar, den Komponist und Autor David Malloy anlässlich der Broadway-Premiere verfasst hat, beschreibt er seine Musik und seine Texte als eine Würdigung und Verneigung vor dem Schreibstil Tolstois. Er greift die ausführlichen Beschreibungen Tolstois von Situation, Gedanken und Handlungen seiner Figuren auf und bindet diese zum Teil sehr ausführlich in die Texte des Musicals ein. So zum Beispiel, wenn Pierre in „Pierre und Natascha“ seine Liebe gesteht und dabei jede Geste Nataschas beschreibt, die das Publikum allerdings auch zeitgleich sehen kann. Dabei wirkt es, als würde die Musik vollkommen den Texten folgen, ohne Rücksicht auf die Melodik der Musik zu nehmen. Zu Beginn wirkt das in einem Musical natürlich eher befremdlich. Nach und nach ziehen die Geschichte, ihre ungewöhnliche Erzählweise und die Inszenierung allerdings komplett in ihren Bann.

Obwohl sich Orchester und Darsteller immer wieder mischen, ist die Aussteuerung des Tons über den gesamten Abend auf gleichbleibend hohem Niveau. Auch in den musikalisch aufbrausenden Momenten sind die einzelnen Instrumente und vor allem auch die Stimmen gut herauszuhören – was für ein komplett durchkomponiertes Stück, das ohne gesprochene Dialoge auskommen muss, enorm wichtig ist, um der Handlung folgen zu können. Roman Hinze, der für die Übersetzung verantwortlich zeichnet, gelingt die schwierige Aufgabe, die Texte ins Deutsche zu übertragen, ohne dabei ihre ursprüngliche Intention zu verlieren.

Das Stück endet mit einem leisen und dennoch eindrucksvollen Moment: Pierre läuft durch das nächtliche Moskau und entdeckt über sich den großen Kometen von 1812, mit dem die Menschen damals den angeblich nahenden Untergang der Welt in Verbindung brachten. Während die Bühne in Dunkelheit liegt, geht im Theatersaal langsam das Licht an und beleuchtet Pierre, der im vorbeifliegenden Kometen einen Neuanfang sieht.
Sicherlich hat „Natascha, Pierre und der große Komet von 1812“ nicht das Potenzial für eine große Long-Run-Show. Dem Musical-Ensemble des Landestheaters Linz gelingt in seinem 10-jährigem Jubiliäumsjahr allerdings eine seiner wohl außergewöhnlichsten und interessantesten Inszenierungen. Ein großartiges Geburtstagsgeschenk an Ensemble und Publikum!

 
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KREATIVTEAM
Musikalische LeitungTom Bitterlich
InszenierungMatthias Davids
ChoreografieKim Duddy
AusstattungAndrew D. Edwards
 
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CAST (AKTUELL)
NataschaHanna Kastner
PierreChristian Fröhlich
AnatolGernot Romic
SonjaJudith Jandl
Marja D.Sanne Mieloo
HélèneDaniela Dett
DolochowLukas Sandmann
Mascha / Magd / OpernsängerinCelina dos Santos
Andrej / Bolkonski / OpernsängerJoel Parnis
BalagaKarsten Kenzel
DienerBettina Schurek
Roving ViolinsAlexandra Frenkel
Verena Nothegger
Roving ViolaLuciana Zadak
Roving ClarinetDavid Decker
Roving GuitarsMaurice-Daniel Ernst
Alexander Bambach
Roving AccordionsAtanas Dinovski
Manuela Kloibmüller
Yevgenij Kobyakov
Tanz LinzElena Sofia Bisci
Katharina Illnar
Angelica Mattiazzi
Lorenzo Ruta
Arthur Samuel Sicilia
Nicole Stroh
Pedro Tayette
  
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TERMINE (HISTORY)
Fr, 10.02.2023 19:30Großer Saal Musiktheater, LinzPreview
Sa, 11.02.2023 19:30Großer Saal Musiktheater, LinzPremiere
Di, 21.02.2023 19:30Großer Saal Musiktheater, Linz
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