Einmal pro Monat werde ich mich in meinen Fernsehsessel setzen und mir für euch einen Musicalfilm ansehen. Da werden bekannte Streifen dabei sein, aber auch Unbekanntes oder Vergessenes.
Heute begebe ich mich weit zurück in der Filmgeschichte zu einem Film, der geschlagene 89 Jahre auf dem Buckel hat, dem man sein Alter aber nur selten anmerkt: „Die 42. Straße“ (vor allem unter Musicalfans besser bekannt unter dem Originaltitel „42nd Street“).
Mit dem Tonfilm schlug die Stunde des Filmmusicals, doch das Interesse ließ recht schnell nach. Die Kameraeinstellungen waren oft starr, der Ton alles andere als makellos. „42nd Street“ war die Reanimation dieses Genres – auch dank technischer Fortschritte – und rettete das finanziell angeschlagene Studio Warner Bros. Heute klingt die Handlung wie eine Anhäufung altbekannter Klischees. Womöglich haben diese aber auch ihre Wurzeln in diesem Film und wurden danach immer wieder recycelt. Der zugrunde liegende Roman von Bradford Ropes hat die Ausbeutung der Chorus Girls zum Thema. Das Grundmotiv bleibt im Film erhalten, bekommt aber einen dicken Traumfabrik-Anstrich.
New York, zur Zeit der Großen Depression: Zwei Broadway-Produzenten planen ein neues Musical, „Pretty Lady“. Auf Wunsch des Hauptgeldgebers Abner Dillon soll dessen Objekt der Begierde Dorothy Brock die Hauptrolle übernehmen. Regie soll Julian Marsh führen, der in finanziellen Schwierigkeiten steckt und auch gesundheitlich – psychisch wie physisch – angeschlagen ist. Beim Casting bewirbt sich u.a. die völlig unerfahrene Peggy Sawyer um eine Rolle. Sie wird auf Fürsprache der Sängerin und Tänzerin Lorraine besetzt, die wiederum nur besetzt wird, weil sie etwas mit dem Stage Manager hat. Dorothy Brocks Herz gehört allerdings nicht dem reichen, ungehobelten Abner, sondern dem arbeitslosen Pat Denning, mit dem sie früher im Varieté auftrat. In der Nacht vor der Vorpremiere bricht sich Dorothy den Knöchel. Ein Ersatz muss her! Und das wird nach den Regeln des Backstage-Musicals natürlich Peggy. „Pretty Lady“ wird ein rauschender Erfolg und es gibt Happy Ends für alle Beteiligten. Alle bis auf den Regisseur: Julian steht nach Ende der Vorstellung vor dem Theater und belauscht das herausströmende Publikum. Die sehen den Grund des Erfolgs einzig bei Peggy, auf keinen Fall bei der Regie.
Dieses leicht bittere Ende passt zum Tonfall dieses Films. Hier ist das Theater kein fröhlicher Ort, an dem sich alle gern haben. Schon beim Casting zählt nicht das Talent, sondern die (sexuelle) Vernetzung. Selbst die Hauptdarstellerin, obwohl ein Theaterstar, bekommt die Rolle nur durch einen Mann, der sich als Dankeschön gewisse Gefälligkeiten erhofft. Sie hält ihn zwar immer auf Abstand, aber schlussendlich benutzt sie ihn, um an die Rolle zu kommen. Die Theaterhierarchien sind deutlich spürbar. Weder Regisseur, noch Choreograf oder Inspizient gehen freundlich mit dem – überwiegend weiblichen – Ensemble um. Sie werden von diesen Männern angebrüllt und herumgescheucht wie Vieh. Die Proben sind fast dokumentarisch gefilmt. Bei anderen Backstage-Musicals finde ich es ziemlich daneben, wenn die Charaktere eine Szene proben und die Probe sieht aus wie eine ultraperfekte Aufführung. Hier ist das Ensemble weit entfernt von Synchronität, es geht sehr chaotisch zu.
„42nd Street“ entstand, bevor der Hays Code richtig durchgriff. Die Production Code Administration (PCA) prüfte ab 1934 alle Filme in punkto Gewalt, Sex und später auch auf politische Standards. Die spitzzüngigen Dialoge und Liedtexte in „42nd Street“ sind voller eindeutig-zweideutiger Anspielungen, die später vermutlich der Schere der Sittenwächtern zum Opfer gefallen wären.
Die Songs von Harry Warren sind typisch für diese Zeit. Sie swingen und haben den perfekten Stepptanz-Rhythmus. Ein Evergreen ist keiner der Songs aus diesem Film geworden. Vielleicht auch, weil der Schwerpunkt des Films mehr auf Drama als auf Musical liegt. Ich war etwas verwundert, dass der erste Song erst nach 24 Minuten kommt. Überhaupt wird in diesem Film für ein Musical ziemlich wenig gesungen. Das Finale, die Premiere von „Pretty Lady“, bringt dann aber 15 Minuten Filmmusical vom Feinsten. Und weil ich beim Kolumne-Schreiben ja auch immer was lerne: Drei bis fünf Songs waren damals Standard. Dafür sind die Nummern in der Regel üppig ausgestattet und aufwändig choreografiert – in diesem Fall nur das Finale, die Songs vorher sind in Probensituationen. In Szene gesetzt wurden sie von Busby Berkeley, dem stilprägenden Choreografen des Hollywood-Musicals. Auch hier, noch einigermaßen am Anfang seiner Filmkarriere, sieht man seine Vorliebe für aufwändige Dekorationen und innovative Kamera-Blickwinkel. Der Blick von oben auf die Tänzerinnen, die sich bewegende Ornamente bilden, darf natürlich auch nicht fehlen.
Inszeniert hat Lloyd Bacon, einer der damals üblichen Vertragsregisseure, die drehen mussten, was das Studio ihnen in die Hand drückte. Deswegen ist in seiner Filmografie von Komödien bis Krimis und Kriegsfilmen alles vertreten. Er drehte mehrere Backstage-Musicals. Dabei war ihm sicherlich seine Herkunft von der Schauspielerei ziemlich nützlich. Aber ganz ehrlich: Ich hatte seinen Namen vorher noch nie gehört.
Die Namen auf der Besetzungsliste haben mich auch etwas ratlos zurückgelassen. Der einzige mir so richtig bekannte Name war Ginger Rogers. Sie spielt „Die immer bereite Annie“ (im Original: „Anytime Annie“), deren Name schon alles verrät, aufgetakelt und mit schnoddrigem Witz. Zusammen mit Una Merkel als ihr ebenbürtiger Lorraine gibt sie ein tolles Paar ab, das sich gegenseitig die Dialogbälle zuspielt. Warner Baxter (immerhin Oscar-Gewinner 1928) und Bebe Daniels, seinerzeit zugkräftige Stars, spielen Julian Marsh und Dorothy Brock. Warren Baxter gibt dem Regisseur etwas Manisches und sprüht nahezu vor Energie. Bebe Daniels hat eine mondäne Star-Ausstrahlung, aber dass Dorothy aus einfachen Verhältnissen kommt und bis über beide Ohren in einen Habenichts verliebt ist, habe ich ihr trotzdem abgenommen. Die beiden haben mich darstellerisch schon beeindruckt. Ich war auch von Dick Powell sehr angetan, der mit der Rolle des Sängers Billy Lawler seinen Durchbruch schaffte; ein heller Tenor mit spitzbübischem Augenzwinkern. Er wurde danach noch oft gemeinsam mit Ruby Keeler besetzt, die mit ihrer Darstellung der Peggy Sawyer Starruhm erreichte. Als etwas verhuschte, sympathische und natürliche Theater-Anfängerin hat sie mir gut gefallen. Ihre Gesang- und Steptanz-Nummer „Come and Meet Those Dancing Feet“ hat mich dagegen beim Zuschauen echt leiden lassen. Sie tanzt furchtbar verkrampft. Man sieht, wie sie im Kopf mitzählt und jede Bewegung gezielt setzt.
Summa summarum hat mir die Reise in die Broadway-Geschichte ausgesprochen gut gefallen. Ein gutes Ensemble, knackige Dialoge und ein toll choreografiertes Finale. Es lohnt sich, mal ein bisschen in der Filmgeschichte zu wühlen.
Bericht | Galerie | ||||||||
GALERIE |
---|