© Design: Christian Heredia / Foto: Rolf Franke
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Barricade (2016 - 2017)
Kammeroper Köln, Köln

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Eine neue Musicalversion eines bekannten und weltweit erfolgreichen Werkes wie Victor Hugos „Die Elenden“ ist nicht verwerflich – gerade, wenn eine neue Perspektive erarbeitet werden soll, wie hier vorab angekündigt. Das vorliegende Resultat der Kammeroper Köln bleibt aber auf der ganzen Linie unbefriedigend.

Bereits im Vorfeld gab es in der Musicalszene umfangreiche Diskussionen, ob die Kammeroper Köln nicht als Trittbrettfahrer mit einer günstigen Produktion ein unwissendes Publikum in die Irre führen will. Bekannte Beispiele von unseriösen Tourneeveranstaltern, bei denen das Marketing mit cleveren, grenzwertigen Behauptungen vorgaukelt, dass es sich um die Original-Fassung eines bekannten Musicals handelt, gibt es genügend. Die Kammeroper Köln schickte ihre Neuproduktion eigentlich unter dem Namen „Barricade“ an den Start. Allerdings werden die Vorstellungen an den Tourneestandorten oft mit „Les Misérables“ beworben und das dafür genutzte Poster hat letztendlich doch frappierende Ähnlichkeit mit dem der Mackintosh-Großproduktion. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!

Da der Fokus des Stückes in der Neufassung nicht auf Jean Valjean liegt, beginnt die Geschichte mit dem Tod von Fantine, um sich nach einem Zeitsprung direkt mit der Einführung von Marius und Cosette und deren Liebesbeziehung zu beschäftigen. Der Zwist zwischen Javert und Valjean wird zum Nebenschauplatz. Dafür bekommen die Thénadiers mehr Raum, um scheinbar mehr Platz für Heiterkeit zu schaffen. Ein legitimer und interessanter Ansatz, der bei entsprechender Umsetzung neue Schwerpunkte setzen hätte können.

Doch dummerweise krankt das Buch von Holger Potocki und Bianca Hein an einer unstimmigen Dramaturgie, in der die einzelnen Figuren gar keine Gelegenheit bekommen, sich zu entwickeln. Szene folgt auf Szene, ohne dass es nachvollziehbare Entwicklungen oder tief emotional-berührende Momente gibt. Einige Szenen sind schlichtweg überflüssig, wie die zwischen Marius und seinem Onkel Gillenormand, da weder die Handlung fortgeführt wird, noch emotionale Momente dargestellt werden.

Dazu kommt die Regiearbeit von Christian Stadlhofer, die der schlechten Vorlage nicht entgegenwirken kann. Noch schlimmer: Zuschauer, die die Handlung von „Les Misérables“ oder „Die Elenden“ nicht kennen, können einige Situationen gar nicht verstehen, da die Motivationen der Figuren nicht klar sind und auch inszenatorisch nicht erklärt werden. Warum es einen Studentenaufstand gibt, bleibt ebenso unklar wie der Grund, warum Gavroche auf den Barrikaden rumklettert und schließlich erschossen wird. Zwar sammelt Wibke Wittig in der Hosenrolle irgendwas ein – dass es sich dabei allerdings um dringend benötigte Munition handelt, das werden wohl nur diejenigen verstehen, die sich mit dem Stoff auskennen.

Stadlhofer schafft es auch nicht, das motivierte Ensemble mit einer klaren Personenregie zu führen. Der Cast wirkt auf sich allein gestellt, sodass es qualitativ sehr unterschiedliche darstellerische Leistungen auf der Bühne zu erleben gibt, die manchmal unfreiwillig komisch wirken. Bestes Beispiel hierfür ist die Fantine von Isabelle Hutter: Ihr lieblicher Song in der dramatischen Auftaktszene wird so penetrant durch übertriebene Hustenanfälle unterbrochen, dass es einen Besucher in der Premierenvorstellung zu dem hörbaren Kommentar verleitet, Fantine solle sich doch das Rauchen abgewöhnen. Peter Tredoux‘ Javert besitzt scheinbar nur einen arroganten Gesichtsausdruck und Markus M. Düllmann als Valjean scheint sich auf überwiegend nobles, freundliches Verhalten zu beschränken. Skurril, wenn Düllmanns Valjean in seiner Sterbeszene relativ glücklich und fröhlich erscheint. Auch das restliche Ensemble neigt zu überspitztem Spiel, sodass man sich immer wieder an eine Musicalparodie erinnert fühlt. Dass mit einer ordentlichen Regie deutlich mehr möglich gewesen wäre, beweisen die Lebensläufe und vorangegangenen Leistungen einiger Darsteller.

Einzig und allein Alexander Sasanowitsch als Marius und Lara Grünfeld als Eponine stechen positiv hervor. Sasanowitsch gibt einen jugendlichen, charmanten und natürlichen Marius mit solider Stimme. Grünfeld schafft es als einzige der Akteure, in ihrem Solo – im Original der „On My Own“-Moment – für einen kurzen Moment zu berühren, auch wenn sie gefühlte hundert Mal „Ich liebe dich“ singen muss.

Denn neben der zweckdienlichen Partitur von Esther Hilsberg, die immer wieder Ähnlichkeiten zu Schönbergs Kompositionen erkennen lässt, sind die Songtexte einfach unglaublich banal. Streckenweise passen die Texte außerdem gar nicht zur Melodie, wirken in das melodische Muster gepresst oder wiederholen sich immer wieder.

Zumindest spielen die Kölner Symphoniker die insgesamt recht Ohrwurm-arme Partitur druckvoll und mit Verve. Auch das schlichte, drehbare Bühnenbild von Jörg Brombacher aus Stahlgerüsten wird effektiv eingesetzt. Warum die Studenten zum historischen Stoff allerdings Jeans tragen, kann wohl nur Kostümbildner Thomas Kaiser beantworten.

Was bleibt, ist eine Show voller fragwürdiger Momente, die in Summe doch die Theorie von ‚Abzocke unwissender Besucher‘ unterstreichen. Wahre Kreativität lässt sich an diesem Abend nur vereinzelt ausmachen.

Die Änderung des Blickwinkels auf die Geschichte selbst ist ein spannender Ansatz und hätte Grundlage für eine Neuinterpretation des Beststellers von Victor Hugo geboten. Bei einem starken Bühnen-Erstwerk wie „Les Misérables“ wären dabei große Fußstapfen zu füllen oder gänzlich neue Wege zu gehen. „Barricade“ nutzt diese Chance nicht. Es erklingen keine neuen Ohrwürmer und es fehlen Gänsehautmomente. „Barricade“ wirkt so wie eine zweite (etwas ungünstige, zu weit entfernte und damit eher unnötige) Kameraperspektive auf eine eigentlich spannende Handlung. Da man die Handlung selbst kennen sollte, um dem neuen Stück folgen zu können, gilt es die gute Erinnerung an die „Originalproduktion“ aufzuwägen gegen eine neue Sichtweise auf die Barrikaden.

Die Erinnerung an „Les Misérables“ scheint hier deutlich wertvoller als die neue Perspektive.

 
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KREATIVTEAM
LibrettoHolger Potocki
Bianca Hein
MusikEsther Hilsberg
Inszenierung / ChoreographieChristian Stadlhofer
KostümeThomas Kaiser
BühneJörg Brombacher
Musikal. LeitungInga Hilsberg
 
Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
CAST (AKTUELL)
MariusAlexander Sasanowitsch
Marc Lamberty,
(Michael Thurner)
Jean ValjeanMarkus Maria Düllmann
Andrea Matthias Pagani
JavertPieter Tredoux,
(Dominic Kron)
CosetteMaryline Bäjen,
(Samantha Senn)
FantineIsabella Hutter
EponineLara Grünfeld,
(Kerstin Kaiser)
ThenadierMarkus Lürick,
(Dominic Kron)
Mme ThenardierUlrike Jöris,
(Ann-Christin Klinner)
GavrocheWibke Wittig,
(Jessica Dubois de Luchet)
GillenormandTobias Strohmaier,
(Markus Lürick)
EnjolrasN.N.,
(Patrick Pfingstl)
CombeferreDominic Kron,
(Patrick Pfingstl)
EnsembleJessica Dubois de Luchet
Kerstin Kaiser
Ann-Christin Klinner
Silvana Schollmeyer
Samantha Senn
Patrick Pfingstl
Niklas Schurz
Michael Thurner
Maximilian Wieler
James Turcotte
  
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TERMINE
keine aktuellen Termine
 
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TERMINE (HISTORY)
Fr, 04.11.2016 19:00Walzwerk, PulheimPreview
Sa, 05.11.2016 19:00Walzwerk, PulheimPremiere
So, 06.11.2016 15:00Walzwerk, Pulheim
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