Hazbin Hotel © Amazon Content Services LLC - Courtesy of Prime Videos
Hazbin Hotel © Amazon Content Services LLC - Courtesy of Prime Videos

NEUE REZENSION
Hazbin Hotel
Musical-TV-Serie / 2024-2025

Die virale Cartoonserie „Hazbin Hotel“, von der brandaktuell die zweite Staffel auf Amazon Prime Video erschienen ist, erweitert die Grenzen dessen, was wir als „Musical“ verstehen. Eine hochkarätige Broadway-Besetzung, originelles Storytelling, derber Humor, die solidarische Darstellung von Minderheiten und ein unverwechselbarer Animationsstil machen Vivienne Medranos Animationshit einen Blick wert.

Dass zum Genre „Musical“ nicht nur Bühnenshows, sondern auch Musicalfilme oder Konzeptstücke gehören, dürfte unbestritten sein. Während es in Serien immer wieder eingestreute Lieder und als Stilmittel konzipierte Musical-Episoden gibt, sind reine Musicalserien noch an einer Hand abzuzählen. Obwohl „Hazbin Hotel“ sich als animierte Musicalserie inhaltlich wie konzeptionell durch explizite Sprache und Gewaltdarstellungen sowie schwarzen Humor an ein erwachsenes Zielpublikum richtet, ist dieses Genre-Novum beim jüngeren Publikum so beliebt, dass es neben TikTok-Musicals wie „Ratatouille“, dem neunteiligen Album-Musical „Epic“ und dem Golden Globe-nominierten, modernen Musicalfilm „KPop Demon Hunters“ zu einem viralen Phänomen geworden ist. Das Interesse an innovativen Ansätzen und neuen Grenzen des Musical-Genres scheint sich weltweit zu verstärken.

Vaggie und Charlie © Amazon Content Services LLC – Courtesy of Prime Video

Zur Handlung: Prinzessin Charlie Morningstar, Tochter des gefallenen Engels Lucifer und der seit Jahren untergetauchten Lilith, der „echten ersten Frau der Schöpfung“, wohnt mit ihrer Lebensgefährtin Vaggie und zahllosen Dämonen in der Hölle. Überfüllt mit Sündern, die mal konventionell bösartig und mal tragisch missverstanden wirken, platzt „Pentagram City“ aus allen Nähten. Somit entscheiden sich die Seraphim des Himmelreichs zum eigenen Schutz, eine Einheit Engel – angeführt vom biblischen Adam – zu regelmäßigen „Säuberungen“ in die Unterwelt zu schicken, um die als böse empfundene Höllenbevölkerung brutal zu dezimieren. Charlie entschließt sich, dem Himmel zu beweisen, dass die zwielichtigen Seelen im Fegefeuer zu besserem Verhalten fähig sind. Kurzerhand gründet sie das „Hazbin Hotel“, das sie zu einer Institution ausbauen will, in der sie armen Sündern zur Erlösung und dem damit einhergehenden Aufstieg in den Himmel verhelfen will. Unter ihren ersten Gästen sind Pornostar Angel Dust, Trunkenbold Husk und die sadistische Cherri Bomb. Charlie und Vaggie tun ihr Bestes, um ihren Vater, den König der Hölle, von ihrem Vorhaben zu überzeugen und ihre Mutter stolz zu machen. Dabei hat sie aber die Rechnung ohne die höllen-internen Oligarchen gemacht: Diese „Höllenfürsten“ sind an ihrer Machterhaltung interessiert, allen voran der durchtriebene Radio-Dämon Alastor sowie Fernseh-Dämon Vox, Sex-Dämon Valentino und die übermächtige Mogulin Carmilla Carmine. Schrittweise zieht Charlie einige von ihnen auf ihre Seite, während andere zu erbitterten Feinden werden…

Die Höllenfürsten Velvette, Vox und Velentino, kurz „Die V’s“ © Amazon Content Services LLC – Courtesy of Prime Video

Mit „Hazbin Hotel“ hat Illustratorin Medrano eine Welt erschaffen, an der sie schon seit ihrer Schulzeit arbeitet. Was mit einzelnen Charakterzeichnungen und der finanziellen Unterstützung durch Fans begann, hat sich 2019 zu einer ersten, ausgefleischten Pilotfolge gemausert. Es dauerte aber noch weitere fünf Jahre Entwicklungszeit, bis Medrano durch das Unternehmen A24 ihre Vision in einer Serie manifestieren konnte, die aktuell zwei Staffeln in 18 Folgen zählt. Das Interesse am Franchise und den bisher komponierten, in die Folgen eingestreuten Songs ist so groß, dass ein Teil der Cast am 20. Oktober 2025 vor ausverkauftem Haus ins Majestic Theatre am Broadway lud, um die Serie als Konzert zu zelebrieren. „Hazbin Hotel“ wurde inklusive Songtexte in alle Weltsprachen übersetzt und kann auch auf Deutsch gestreamt werden. Bemerkenswert ist allerdings die originale Sprachausgabe: Die hochkarätigen Stimmtalente zahlreicher Musical- und Broadwaystars tummeln sich in der Synchronisation der Serie, was ihr eine große performative Qualität verleiht. „Beetlejuice“-Darsteller Alex Brightman, Stephanie Beatriz aus „In The Heights“, Erika Henningsen aus der Uraufführung von „Mean Girls“ oder „Newsies“-Star Jeremy Jordan nehmen unter anderem Hauptrollen ein; die Ur-Mimi aus „Rent“ Daphne Rubin Vega, „Glee“-Darsteller Alex Newell und Darren Criss sowie die Broadway-Stars Patina Miller und Liz Callaway übernehmen Neben- und Gastrollen. Auch Tony-Award-Gewinner Christian Borle und James Monroe Iglehart sowie Emmy-Preisträger Keith David sind in der Allstar-Besetzung zu hören.

Die facettenreich komponierten Songs stammen von Sam Haft und Andrew Underberg. Die Komponisten orientieren sich an klassischen und modernen Melodien des Musical-Genres, sodass Elemente von Jazz („Don’t You Forget“), Swing („Loser Baby“) und Show Tunes der goldenen Hollywood-Ära („Hell’s Greatest Dad“) genauso zu hören sind wie Balladen à la Lloyd Webber („Sera’s Confession“), Menken („Happy Day in Hell“) und Disney („Hear My Hope“). Aber auch Rock („Poison“), Symphonic-Metal („Gravity“), Disco-Beats („Out for Love“) und HipHop („Respectless“) oder 90s-Pop-Anleihen („Like You“) sind zu vernehmen. Die Songs sind melodiös eingängig und bestechen gerade in der englischen Originalausgabe mit mehrschichtigen, mal derb-witzigen und mal überraschend melancholischen Songtexten. Die Illustratorin Medrano ist als kreative Chefin sowohl in das Storytelling und Casting der Synchrontalente, als auch in die Konzeption der Bildsprache und Musik der Serie maßgeblich beteiligt, sodass die Serie jederzeit aus einem Guss wirkt.

Das Ensemble von „Hazbin Hotel“ im New Yorker Majestic Theatre © Amazon Content Services LLC – Zach Dilgard

Trotz ironischen Gewaltverherrlichungen und teils grenzwertigem Humor werden auch gesellschaftliche Themen besprochen, wie das Leben von Randgruppen, jegliche Form von Missbrauch, psychische Erkrankungen oder die Frage nach moralischem Handeln. Zuweilen stehen die Songs musikalisch in krasser Diskrepanz zum Dargestellten, was eine gute Portion des oftmals grotesken Humors der Serie ausmacht. Zumeist transportieren die Lieder jedoch, ganz Musical-mäßig, Gefühle, Geschichten und Intentionen der Charaktere; sie potenzieren die emotionale Wirkung und kreieren ebenso Tragik und Dramatik. Die im Kern oftmals moralisch fragwürdigen bis abstoßenden, zum Teil sehr komplex geschriebenen Figuren gewinnt der Zuschauer durch Musik und Witz der Serie lieb und es kristallisieren sich zentrale Fragen heraus: „Was bedeutet eigentlich böse? Und was heißt es, gut zu sein?“

Wenn auch der krasse Humor und der durchaus groteske Animationsstil mit Ähnlichkeit zu Serien wie „Invader Zim“ nicht dem ästhetischen Empfinden aller Zuschauer entsprechen dürfte, sei Musicalfans schon allein wegen Musik und Storytelling angeraten, „Hazbin Hotel“ eine Chance zu geben – vielleicht beeinflusst es das Verständnis dessen, was „Musical“ ist und noch werden könnte.

 
Overlay