Carl Herten (Tambourmajor) und Lion-Russell Baumann (Woyzeck) © Jochen Klenk
Carl Herten (Tambourmajor) und Lion-Russell Baumann (Woyzeck) © Jochen Klenk

Woyzeck (2023 - 2024)
Theater, Baden-Baden

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“Der Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinunterschaut.” – Eindrücklich zeigt das Theater Baden-Baden die mit Tom Waits‘ bleiernen Songs gespickte Version von “Woyzeck”, das auf dem bekannten Dramenfragment von Georg Büchner über einen tragischen, dem Wahnsinn verfallenen Antihelden beruht. Erschütternd und schonungslos geht dabei das Schauspiel des Hauptdarstellers tief unter die Haut.

Sandra Leupolds Inszenierung setzt auf eindringliche Momente und geisterhaft wirkende Entschleunigung. Jochen Hochfelds Bühnenbild und Kostümwahl sind bewusst als Understatement angelegt und können so Leopolds klar inszenierte Bilder subtil unterstützen. Ein roter Hintergrund mit einer großen, ebenfalls in blutrot ausgekleideten Säule, hinter der und um die sich die Charaktere bewegen, bilden nahezu das gesamte Bühnenbild und unterstreichen die herausragende Bedeutung dieser Farbe im Subtext von Büchners Drama. Im Hintergrund kommt und geht die sechsköpfige Band, die schützend hinter Plexiglasscheiben sitzt und wie Beobachter des sich entfaltenden Wahnsinns wirken, nahezu wie Besucher eines Zoos. Die Hauptfiguren werden stetig von in Zeitlupe von einer Bühnenseite zur nächsten schreitenden Charakteren umschritten – wie Hirngespinste wabern die Menschen, die in Woyzecks und Maries Leben von Bedeutung sind, immerwährend um sie herum. In Szenen äußerster psychischer Bedrängnis werden Woyzeck und Marie durch das Senken des eisernen Vorhangs an den Bühnenrand gezwungen und jeder Fluchtweg verwehrt. Zudem wird durch diesen mächtigen Einschnitt der Blick der anderen von den häuslichen Problemen Woyzecks und dem Elend seines Lebens abgeschnitten. Durch Holzabfälle, Desinfektionspulver, grünen Erbsenbrei und Körperflüssigkeiten, die allesamt auf dem Boden verbleiben, wird die Bühne immer beschmutzter und unansehnlicher, was das zunehmende Elend, in dem sich die Hauptfigur befindet, zusätzlich illustriert. Die einzelnen Etappen von Woyzecks Weg in die Abgründe des menschlichen Geists werden mit roten Alarmlichtern dezent und doch eindrucksvoll dramatisch untermalt.

Dieser Weg beginnt am Anfang des Stückes mit dem Lied Misery Is The River Of The World – diesen sinnbildlichen Fluss rudert der Protagonist mit immer verzweifelter werdenden, mühsamen und immer manischeren Bewegungen entlang. Als Woyzecks Sohn nach dem Tod der Eltern mutterseelenallein das als Allegorie zu Woyzecks tragischem Leben fungierende Märchen der Großmutter vorliest und ebenfalls zu rudern beginnt, wiederholt sich das Schicksal. Arm und mittellos steht der Junge dort – so wird das Trauma zur nächsten Generation weiter gegeben, ohne die Aussicht auf Hoffnung. Ein Geniestreich von Regisseurin Leupold und Dramaturgin Kekke Schmidt, die so Büchners Dramenfragment zu einem erschütternden, doch erzählerisch runden Ende bringen.

Unter Hans-Georg Wilhelm spielt die Band Tom Waits’ abwechselnd spelunkenhafte wie bluesige Melodien mit Einfühlungsvermögen und Virtuosität. Bleiern schwer wirken die Lieder im Kontext des Stücks und kommen im kleinen Theatersaal ohne größere tontechnische Kniffe zur Geltung. Auch die Darsteller und Darstellerinnen nehmen lediglich ganz unprätentiös und beiläufig Handmikrofone zur Hilfe, wenn sie Solostellen der Lieder interpretieren. Zugegeben ist das Ensemble mit Ausnahme von Oliver Jacobs nicht mit den größten Sängern gesegnet, doch würden diese wahrscheinlich in einer so intimen Geschichte von Wahnsinn und Elend auch eher unauthentisch wirken. Alle Solisten machen ihre Sache gesanglich trotzdem gut, doch vor allem hauchen sie den Liedern die nötige interpretatorische Auslegung ein, um ihre Bedeutung innerhalb der Handlung als weitere Erzählebene einer inneren Gedankenwelt greifbar zu machen. Trotzdem wirken die Lieder inszenatorisch zum Großteil nicht harmonisch in die Handlung eingebunden. Ob dies beabsichtigt ist, um einen krassen Gegensatz zu erzeugen, oder es einfach nicht smooth inszeniert werden konnte, bleibt dabei offen.

Berth Wesselmann interpretiert die Randfigur des Karl als einzigen Sympathie ausstrahlenden Charakter innerhalb der Riege von gebrochenen Persönlichkeiten. Nadine Kettler als Maries Nachbarin Margret strahlt durch ihre jazzige Liedinterpretation. Mattes Herre als Hauptmann und Carl Herten als Tambourmajor machen eine gute Figur als antagonistische Figuren, die in Woyzecks Demütigung Befriedigung finden. Max Ruhbaum als hysterisch-akribisch-sadistischer Doctor spielt sich an die Spitze derer, die Franz Woyzeck in den Abgrund treiben. Lisa Schwarzer spielt ihre Figur Marie facettenreich: Kalte Gleichgültigkeit in Bezug auf ihren Sohn mischt sich mit selbsterhaltender Leidenschaft in Bezug auf sich selbst und nackter Angst im Zusammentreffen mit einem immer mehr entgleitenden Woyzeck. Dabei wirkt ihre Figur trotzdem menschlicher und sympathischer als in Büchners originalem Dramenfragment angedeutet wird.

Lion-Russell Baumanns Woyzeck steigt direkt zu Beginn des Stücks in den Wahnsinn hinab, sodass sich die kundigen Zuschauer vielleicht fragen, wie da noch eine Entwicklung stattfinden kann, wenn bereits auf hoher Intensität begonnen wird. Jegliche Skepsis fegt Baumann hinweg, indem er im Verlauf des Stücks eindrücklich zeigt, dass Schauspiel nur wenige Grenzen kennt. Er verschmilzt auf erschreckende Weise mit seiner Figur und zeigt mit bis zum Äußersten seiner stimmlichen, körperlichen und darstellerischen Kapazitäten die Abgründe des Lebens. Sein Woyzeck wird mit Erbsen vollgestopft bis er würgt und erbricht, wirft sich zitternd vor den Autoritäten buchstäblich in den Staub, isst vom dreckigen Boden und benässt sich vor Angst. Als er am Ende auf Marie stürzt und mit blutbeschmierten Händen sein Machwerk nur schemenhaft realisiert, ist Baumanns Darstellung von Woyzecks Wahn so erschütternd, dass dem Publikum bis zum erlösenden Schlussapplaus der Atem stockt.

Was pures, mutiges Schauspiel bewirken kann, zeigt Baumann in dieser sehenswerten Inszenierung von Woyzeck allemal.

 
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KREATIVTEAM
InszenierungSandra Leupold
Musikalische LeitungHans-Georg Wilhelm
AusstattungJochen Hochfeld
 
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CAST (AKTUELL)
FranzLion-Russell Baumann
MarieLisa Schwarzer
HauptmannMattes Herre
DoctorMax Ruhbaum
TambourmajorCarl Herten
AndresOliver Jacobs
MargretNadine Kettler
KarlBerth Wesselmann
Maries KindMete Çakırgöz
Constantin Engel
Matvei Hoharau
  
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TERMINE
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TERMINE (HISTORY)
Sa, 23.09.2023 19:00Theater, Baden-BadenPremiere
So, 24.09.2023 19:00Theater, Baden-Baden
Mi, 27.09.2023 19:00Theater, Baden-Baden
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