Andreas Gergen: Eigene Visionen entstehen lassen

[Drei Fragen an …] Am 4. Juli findet in München die Premiere von „Hairspray“ statt. Danach zieht die 60er-Jahre-Show ins saarländische Merzig, wo sie mit prominenter Besetzung fortgeführt wird. Außerdem startet am 27. Juli eine zweite Produktion bei den Freilichtspielen Tecklenburg. Regie führt bei beiden Inszenierungen Andreas Gergen. Hier berichtet er von der spannenden Erfahrung, gleich zweimal das gleiche Musical ins Rennen zu schicken und den ernsten Hintergründen einer sogenannten „Fun-Show“.

Mit „Hairspray“ schicken Sie eine Produktion in den Musical-Sommer 2012, die bereits in Köln in der Original US-Inszenierung lief und zu den erfolgreichsten Musicals überhaupt zählt. Worin unterscheidet sich Ihre Produktion von den bisherigen?
Die Frage müsste eigentlich lauten: Worin unterscheiden sich Ihre ProduktionEN von den bisherigen. Denn in diesem Sommer habe ich das große Glück, gleich ZWEI unterschiedliche und völlig eigenständige Produktionen von „Hairspray“ auf die Bühne zu bringen: Zum einen für den Zeltpalast Merzig (diese Version wird vom 3. bis 22. Juli auch im Deutschen Theater in München zu sehen sein) und zum anderen für die Freilichtspiele Tecklenburg. Die Anfragen der Produzenten ergaben sich zufällig und völlig unabhängig voneinander. Da es sich bei „Hairspray“ um ein wirklich tolles Musical handelt und sich beide Verträge terminlich vereinbaren ließen, nahm ich die Herausforderung an. Das hieß in Folge, mit zwei unterschiedlichen Teams von Kostüm- und Bühnenbildnern zwei völlig unterschiedliche Regie- und Bühnenkonzepte zu entwickeln und auf die Gegebenheiten und Anforderungen der Spielorte abzustimmen. Einzig der Choreograph Danny Costello wird mich bei beiden Produktionen begleiten. Auch beim Casting ergab sich die ungewöhnliche Aufgabenstellung, gleich zwei Besetzungen zusammenzustellen, und ich freue mich, dass uns dies bei beiden Produktionen so hochkarätig gelungen ist. Aber zurück zu Ihrer Frage: Ich gehe bei meinen Regiearbeiten immer vom Text aus und entwickle dazu eigene Phantasien und Ideen. Ich versuche Stücke ins hier und jetzt zu holen und ihnen eine Relevanz zu verleihen. So spielte zum Beispiel unsere „West Side Story“ in Magdeburg aus aktuellem Anlass brutaler Übergriffe von Jugendlichen auf Erwachsene in einer U-Bahn-Station. Bei der Alptraumsequenz im zweiten Akt zeigten wir authentisches Filmmaterial von Überwachungskameras. Diese Stelle ließ es mir wegen ihrer Aktualität und Brisanz immer eiskalt den Rücken hinunterlaufen. Auch bei klassischen Werken wie „Die Zauberflöte“ erlaube ich mir zuweilen lokale Anpassungen – immer im Sinne des Erfinders bzw. Komponisten: In Saarbrücken durften Papageno und Papagena saarländischen Dialekt sprechen, statt Wienerisch. Diese Idee führte ich auf den Grundgedanken der Wiener Volksposse zurück, derer Mozart und sein Librettist Schikaneder sich in Bezug auf die beiden Charaktere bedient hatten. Das verlieh der Inszenierung eine Direktheit und machte die Opernfiguren „zum Greifen nah“. Ich hinterfrage oft die ursprünglichen Intentionen der Autoren und Komponisten mit ihren Werken. Nicht ohne Grund waren die so genannten Klassiker bei ihrer Erstaufführung eine Sensation oder sogar ein Skandal. Ich versuche also mit einer Inszenierung den Spirit einzufangen, der ein Werk zu dem Erfolg werden ließ, der es heute ist.

Was gefällt Ihnen als Regisseur an „Haispray“? Was fordert Sie heraus?
Bei „Hairspray“ handelt es sich um eine so genannte „Fun-Show“. Allerdings wird auf unterhaltsame und ganz unaufdringliche Art und Weise eine wichtige Message der Toleranz vermittelt. Dies ist meiner Meinung nach der Grund des Sensationserfolges der Uraufführung 2002 am Broadway. Die Handlung spielt im Jahr 1962 kurz vor dem Höhepunkt der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, als es der „afro-amerikanischen“ Bevölkerung 1964 gelang, mit den „Weißen“ vor dem Gesetz gleichgestellt zu werden. Diese Gleichstellung war das Ergebnis harter politischer Kämpfe und Protestaktionen gegen die Diskriminierung der Afro-Amerikaner in den USA. Auf dem Weg dahin gab es allerdings viele Opfer. Ein nicht wirklich lustiger geschichtlicher Hintergrund für ein lustiges Musical. Meine Aufgabe als Regisseur ist es nun, die Bedeutung des politischen Hintergrundes zu vermitteln, ohne die didaktische Keule auszupacken oder die Komik zu vernachlässigen. Natürlich geht es in dem Musical um die kleine dicke Tracy mit ihrer noch dickeren Mama und ihren großen Träumen, aber uns begleiten in unserer Probenzeit auch Gespräche über Freiheitskämpfer wie Rosa Parks, die als Afro-Amerikanerin 1955 in einem öffentlichen Verkehrsmittel einem „Weißen“ auf dessen Befehl nicht den Platz räumen wollte und damit eine ganze Freiheitsbewegung anzettelte, oder Marthin Luther King, der 1963 in Washington seine berühmte Rede „I have a dream…“ hielt. Das ist auch für meine Darsteller spannend und lässt auf den Proben nicht nur gute Laune, sondern auch Nachdenklichkeit entstehen. Diese inhaltliche Basis finde ich für jedes gute Musical wichtig und notwendig.

„Hairspray“ gab es schon in unzähligen Inszenierungen und zwei Verfilmungen. Schaut man sich andere Produktionen an und überlegt sich dann: Was übernehme ich? Was muss ich besser machen?
Ich konzipiere meine Inszenierungen für ein bestimmtes Publikum an einem bestimmten Ort. Bei der Uraufführung von „Hairspray“ in Amerika fand der Regisseur andere Voraussetzungen vor als ich bei einem europäischen Publikum. Ich kann nicht davon ausgehen, dass die Zuschauer, für die ich inszeniere, dasselbe Background-Wissen haben wie das Publikum einer amerikanischen Kultur. Deshalb arbeite ich die geschichtlichen Fakten der Bürgerrechtsbewegung deutlicher heraus, als es bei der originalen Broadway-Inszenierung der Fall war. Das haben wir übrigens auch bei „The Sound of Music“ in Salzburg gemacht. Dort galt es, die politische Ebene hervorzuheben bzw. trotz der herzlichen Familiengeschichte nicht aus den Augen zu verlieren. Das hat der Produktion im Sinne der Authentizität sehr gut getan. So wird z.B. der Name „Hitler“, um den man in diesem geschichtlichen Kontext zwangsläufig nicht herumkommt, im gesamten Stück nicht genannt. Eine Textadaption von „Heil“ zu „Heil Hitler“ wurde trotz der historischen Korrektheit von den amerikanischen Lizenzgebern nicht gestattet. So mussten wir andere Lösungen finden und ließen in dem Song „Kein Mensch kann es ändern“ einen O-Ton der Rede Hitlers vom Heldenplatz in Wien einspielen und zeigten via Projektionen Bilder der Deutschen Wochenschau bezüglich des „Anschlusses“ Österreichs ans Deutsche Reich. Der Name „Hitler“ wurde – wie gewünscht – natürlich nicht genannt. Auch stellten wir dem Prolog im Kloster ein Kriegsszenario aus dem Zweiten Weltkrieg voran, um eine inhaltliche „Ansage“ zu machen: Wir verharmlosen oder verschweigen nicht die Ereignisse, sondern gehen offensiv mit dem Thema um. Das war für die Lizenzgeber aus den USA bei der ersten Preview zunächst mal ein Schock, aber sie ließen sich in den folgenden Gesprächen überzeugen, zumindest die Kritiken abzuwarten. Die Presse lobte gerade den Umgang mit der politischen Ebene und wir mussten keine Änderungen in der Regie vornehmen. Somit stellen sich für mich die Fragen „Was übernehme ich von anderen Produktionen?“ oder „Was muss ich besser machen?“ im Vergleich zu anderen Inszenierungen nicht. Jede Inszenierung ergibt sich aus der Vorlage des Textbuches und dem geschichtlichen Kontext der Handlung und Entstehung. Dies ist dann Material genug, um mich als Regisseur zu inspirieren und eigene Visionen und Ideen entstehen zu lassen.

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