Steffen Neutze (Hakenfinger-Jakob), Sascha Littig (Münz-Mathias), Amani Robinson (Polly Peachum), Philip Richert (Macheath), Andrea Marchetti (Säge-Robert), Marcus Billen (Trauerweiden-Walter) © t&w / Andreas Tamme
Steffen Neutze (Hakenfinger-Jakob), Sascha Littig (Münz-Mathias), Amani Robinson (Polly Peachum), Philip Richert (Macheath), Andrea Marchetti (Säge-Robert), Marcus Billen (Trauerweiden-Walter) © t&w / Andreas Tamme

Die Dreigroschenoper (2023 - 2024)
Theater, Lüneburg

Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
 

In Lüneburg kommt Brechts und Weills beinahe 100 Jahre altes, gesellschaftskritisches Bühnenstück erfrischend modern, ausgesprochen unterhaltsam und kurzweilig daher und wirkt mit seiner Mischung aus musikalischen Stilen in dieser Inszenierung durchaus musical-esque – und das im besten Sinne!

Regisseur Olaf Strieb gelingt ein faszinierender Spagat zwischen hochunterhaltsamer Groteske und nuanciert ins Scheinwerferlicht gerückten, brandaktuellen und gesellschaftskritischen Fragen. Durch mutige und kluge Einfälle rückt er das mittlerweile doch merklich gealterte Werk ein ganzes Stück Richtung Hier und Jetzt, und das ohne sich in Vulgarität oder Klamauk zu verlieren. Die besonders plakativ geschriebenen Szenen Brechts intensiviert Strieb so, dass bei gutem Sinn für Humor kein Auge trocken bleibt. Eine in proletenhaftem Jugendmilieu sprechende, der “Fack Ju Göhte” – Chantal nicht unähnliche Version der Lucy trifft auf androgyne Marlene Dietrich-Sexbomben wie die Hure Jenny und die schnulzigsten scheinheiligen Liebesszenen zwischen Macheath und Polly verlaufen im bairischen Kitschdialekt der bekannten Sissi-Filmreihe. Polly wird als selbstbewusste, trotz Buchvorlage durchaus starke Frau gezeichnet, die selbst ihren vermeintlich so geliebten Mackie im Grunde selbst betrügt und nur benutzt. Dies sind nur einige der zahlreichen gelungenen Ideen Striebs, die das Stück sowohl der Neuzeit annähern als auch den Unterhaltungsfaktor steigern.

Das hochfunktionale Bühnenbild von Barbara Bloch besteht aus einem zentralen 360 Grad drehbaren Konstrukt in stählerner Gefängnisoptik, einer Treppe mit Empore und einem riesigen Banksafe-artigen Türelement, das den gesellschafts- und kapitalismuskritischen Hintergrund von Brechts Werk stets im Kontext der Handlung optisch hervorhebt und zugleich mehrere Spielebenen eröffnet. Die Kostüme folgen einem gewitzten Colour-Coding: Die Gangster tragen Violetttöne, die Diebe Rot und Bordeaux, die Polizisten Türkis und Blau, die Huren Pastelltöne und der als Moritatensänger auftretende Erzähler wechselt zwischen den einzelnen Ständen, indem er seinem schwarzweißen Kostüm farbliche Akzente hinzufügt. Polly, die von den Dieben, zu denen ihre Eltern zählen, durch die Heirat mit Mackie zu den Gangstern (‘der Platte’) übertritt und im weiteren Verlauf zu deren Chefin wird, wechselt ihre Kostümierung dann kongruent ebenfalls von rotem Gewand zu violettem Pimp-Anzug – als Anführerin standesgemäß funkelnd mit Edelsteinen versehen. Ein großes Kompliment an Frau Bloch für ihre ausgeklügelte Bühnen- und Kostümbilder!

Das Orchester unter Gaudens Bieri ist gut besetzt und spielt die von Foxtrott über Blues, Chanson und Jahrmarktmusik bis zu opernhaften Arien reichende Partitur von Kurt Weill bravourös und beschwingt. Die Soundgestaltung des gesamten Stücks ist an diesem Abend optimal und lässt keine Wünsche offen – Musik, Dialogpassagen, Sologesang, Duette und Ensemblenummern sind der Textverständlichkeit zu Gute kommend austariert, was bei einem solchen komplexen Stück unabdinglich ist.

Auch in den choreographischen Abläufen und dem gesetzten Bewegungstiming verstecken sich sowohl unterhaltsame als auch für die Figuren und die Handlung zuträgliche, sehr gelungene Bilder. Der Moritatensänger spiegelt mit seinen Bewegungen beinahe durchgängig die Hauptcharaktere oder mimt, was die Figuren wirklich denken und fühlen. Um die Huren wie eine eingeschworene Einheit wirken zu lassen, lässt Olaf Strieb sie leicht versetzt die Bewegungen der “Haupthure” Jenny nachahmen. Die Konfrontation der beiden Frauen Polly und Lucy ist beinahe wie ein modernes Rap-Battle choreographiert und trägt so dazu bei, dass diese Szene zur unterhaltsamsten des Stücks aufsteigt.

Jeder Schauspieler im Ensemble bringt so viel Charakter und Persönlichkeit in seine Figur mit ein, dass alle ein Lob verdient haben. Christoph Vetter in seinen zahlreichen Rollen fungiert als Pantomime, Erzähler, Showmaster und Comic Relief zugleich und geht in dieser Position sichtlich auf. Sein körperliches Spiel ist beeindruckend und ausdrucksstark. Das Ehepaar Peachum, das von Ulrich Kratz und Ulrike Knospe herrlich schrullig gegeben wird, verschmilzt zu einer obskuren Einheit – ihre gemeinsamen Auftritte versprechen stets die Anbahnung unterhaltsamer schauspielerisch überzeugend dargebrachter Szenen. Knospes Songs “Die Ballade der sexuellen Hörigkeit” begeistert lasziv im Stile einer Marlene Dietrich gesungen und vor allem ihr theatralisches und ausuferndes Zusammenspiel mit Amani Robinson als Tochter Polly ist großes Kino. Robinson legt die stärkste Performance des Abends hin – gesanglich wie schauspielerisch. Ihr exzentrisches Spiel, das zwischen Snob, Gossenbraut, Kaiserin Sissi, Mimose und Verführerin organisch wechselt, zeigt, dass Robinson Komik im Blut liegt. Auch stimmlich lässt sie staunen: Mühelos switcht Robinson zwischen modern interpretierten, röhrig gesungenen Blues-Passagen wie “Die Seeräuber-Jenny” und hohen klassischen Sopranteilen wie in “Pollys Lied”. Dazu gesellt sich vor allem im “Barbarasong” ihr differenziertes Schauspiel, das die buchbedingt eigentlich recht aus der Mode gekommene Frauenfigur für das heutige Publikum greifbar und nahbar macht. Paula Rohde als Lucy verkörpert die “bratzenhafte” Polizistentochter so ulkig, dass vor allem das jüngere Publikum dauerhaft schallend lachen muss. Ihre Fehde mit Amani Robinsons Polly ist urkomisch! Dazu steht im nahezu grotesken Kontrast ihr glockenklarer klassischer Sopran, den sie in der “Zuhälterballade” und im “Eifersuchtsduett” eindrücklich zeigt.

Rebekka Reister legt ihre Figur der Prostituierten Jenny mit viel Körperausdruck an und erinnert an Ikonen der goldenen Berliner 20er. Die Gangster (im Stück “die Platte” genannt), werden karikativ und mit individuellen, sehr belustigenden Sprechstilen von Sascha Littig, Steffen Neutze, Marcus Billen und Andrea Marchetti gespielt, sehr zum Amusement des Publikums. Karl Schneider als Tiger-Brown gibt einen fast schon wie einen Fanboy agierenden, sich hinter Fassade und Schein versteckenden Polizisten, der im “Kanonenlied” brilliert.

Last but not least: Philip Richert als “Mackie Messer” Macheath verkörpert die schrille Verbrechergestalt mit jeder Faser seines Körpers. Mimik und Gestik sind stellenweise so ausdrucksstark, dass man das Gefühl bekommt, der Performance eines Hollywoodstars beizuwohnen. Richert ist ein hervorragender und die Bühne dominierender Schauspieler, dessen Charme sich das Publikum trotz der zum Teil widerlichen Ausdrucksweise seiner Figur und der stark antagonistischen Züge nicht entziehen kann. Besonders in den jeweiligen Finalsongs der eigentlich drei Akte (hier sind Akt eins und zwei zusammengefasst und nach einer Pause kommt der dritte Akt) brilliert Richert auch stimmlich.

Trotz der Kurzweiligkeit und Komik des Stückes wird vor allem am Ende auch durch das gemeinschaftliche, intensive Spiel des Ensembles im dritten Finale die gesellschaftskritische Komponente überdeutlich und bedrückend ins Publikum transportiert, sodass sich am Ende des Abends deutlich zeigt, warum das Stück immer noch so eine große Relevanz besitzt.

 
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KREATIVTEAM
Musikalische LeitungGaudens Bieri
InszenierungOlaf Strieb
AusstattungBarbara Bloch
 
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CAST (AKTUELL)
MacheathPhilip Richert
Jonathan PeachumUlrich Kratz
Celia PeachumUlrike Knospe
Polly PeachumAmani Robinson
BrownKarl Schneider
LucyPaula Rohde
JennyRebekka Reister
Smith / Kimball / Filch / MoritatensängerChristoph Vetter
Münz-MathiasSascha Littig
Hakenfinger-JakobSteffen Neutze
Säge-RobertAndrea Marchetti
Trauerweiden-WalterMarcus Billen
KonstablerJuha-Pekka Mitjonen
Oliver Hennes
Bettler / HurenMitglieder des Hauschores
  
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TERMINE
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TERMINE (HISTORY)
Sa, 01.07.2023 20:00Theater, LüneburgPremiere
So, 02.07.2023 15:00Theater, Lüneburgzum letzten Mal 22/23
Do, 28.09.2023 20:00Theater, LüneburgWiederaufnahme
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