Die Fortsetzung vom „Phantom der Oper“ besticht durch tolle Melodien von Altmeister Lloyd Webber, eine opulente Ausstattung und eine richtig gute Besetzung, der Schwachpunkt ist aber das dramaturgisch unausgereifte Buch.
Zehn Jahre nach den Geschehnissen von „Phantom der Oper“ treffen das Phantom und Christine erneut aufeinander. Er betreibt jetzt unter dem Namen Mr. Y einen Vergnügungspark auf Coney Island; sie ist in Europa eine gefeierte Opernsängerin und reist mit Ehemann Raoul und Sohn Gustave nach Manhattan. Und so kommt es zu dem schicksalhaften, vom Phantom eingefädelten Zusammentreffen…
Andrew Lloyd Webber hat für diese Fortsetzung brillante Musik geschrieben: große, leidenschaftliche Balladen für die beiden Hauptfiguren, beschwingte Vaudeville-Nummern, mit denen er genau den richtigen Ton für die schlüpfrigen Vergnügungspark-Revuen trifft, aber auch einige eingängige rockig-poppige Songs. Der Sound aus dem Graben ist gut, wenn auch nicht überragend. Wie inzwischen bei den Großproduktionen leider üblich, gibt es keinen wirklich üppigen Klang, wie man ihn in vielen Staatstheatern doch glücklicherweise immer noch zu hören bekommt, aber das Orchester wird der Partitur gerecht und lässt nicht wirklich etwas vermissen.
Phantom-Darsteller Gardar Thór Cortes, der in vorab veröffentlichten Videos eher einen steifen Eindruck machte, entpuppt sich als wahrer Glücksfall für die Produktion. Seine klassisch geschulte Tenorstimme sitzt ohne Wenn und Aber und passt sich jeder emotionalen Wendung nahezu perfekt an. Es ist deutlich zu merken, dass er sehr an seiner Aussprache gearbeitet hat – doch gerade wenn er schnelle Passagen zu singen hat, ist die Textverständlichkeit oft noch nicht gegeben. Dennoch überzeugt er mit facettenreichem Schauspiel, selbst mit zur Hälfte von der Maske verdecktem Gesicht. In der Szene des ersten Zusammentreffens mit Christine drückt er die unterschiedlichsten Emotionen absolut glaubhaft aus – vom selbstbewusst-besorgten Eintritt über Unsicherheit und bald darauf Begierde, sobald er merkt, wie auch sie sich immer noch von ihm angezogen fühlt, bis zur furchteinflößenden Wut, nachdem sie sein Angebot für ihn zu singen vorerst ablehnt, und schließlich wieder einer gewissen Abgeklärtheit. Besonders bewegend gelingen ihm immer wieder die kleinen Momente der Unsicherheit und Selbstzweifel, z.B. in der wunderschönen Eröffnungsnummer „So sehr fehlt mir dein Gesang“ oder im kurzen Selbstgespräch ohne Maske vorm Spiegel.
Ganz so viele emotionale Möglichkeiten bietet die Rolle der Christine nicht. Doch auch Rachel Anne Moore überzeugt vollkommen, im Schauspiel wie auch im Gesang. Ihr klarer, voller Sopran ist ein Genuss. Nachdem sie das gesamte Stück über bereits begeistern konnte, gelingt es ihr, bei ihrer großen Arie im letzten Viertel des Musicals noch mehr Kraft als zuvor in ihre Stimme zu legen – ein toller Moment, der zu recht einen großen Applaus nach sich zieht.
Raoul, ihr Ehemann, erlebt im Vergleich zum ersten Teil eine deutliche Charakterveränderung. Er wird als frustrierter, dem Alkohol zugeneigter Spieler gezeigt. Yngve Gasoy-Romdal bringt das tadellos auf die Bühne, kann in seinem Duett mit dem Phantom auch zeigen, was in ihm steckt, ist ansonsten aber doch eher zu einem unterforderten Stichwortgeber degradiert. Meg Giry hingegen, die in „Phantom der Oper“ als kleine Nebenrolle vorkam, wird hier zur dritten Hauptrolle. Ina Trabesinger gelingt es vorzüglich, Megs Gier nach Anerkennung vom Phantom und die damit einhergehende Eifersucht auf Christine darzustellen. Masha Karell spielt ihre Mutter und schafft es, gerade im zweiten Akt, mit konstantem Overacting die sowieso schon unterkühlte Mme Giry absolut unsympathisch erscheinen zu lassen. Mit Gustave, Christines Sohn, gibt es in diesem Stück eine große tragende Kinderrolle. In der Medien-Premiere stand Kim Benedikt aus der Chorakademie Dortmund auf der Bühne, der mit schönem Gesang, natürlichem Schauspiel und sympathischer, ja fast schon aristokratischer Ausstrahlung für sich einnehmen kann.
Als eine Art Erzählertrio und Verbindungsglied zwischen dem Vergnügungspark und der realen Welt fungieren Mr. Ys Angestellte, die Freaks Fleck, Squelch und Gangle, über deren Charaktere man leider so gar nichts erfährt. Paul Tabone und Jak Allen-Anderson schwingen und schaukeln ihre kleinwüchsige Kollegin Lauren Barrand immer mal wieder durch das Bühnenbild. Aus heutiger Sicht wirkt das zwar absolut politisch inkorrekt, aber in dem Stück, das am Anfang des 20. Jahrhunderts spielt, kommt es sehr authentisch daher.
Simon Phillips, der eine nahezu identische Inszenierung bereits in Australien auf die Bühne gebracht hat, sorgt auch in Hamburg für eine flüssigen Handlungsablauf. Das Staging passt und die unterschiedlichen, opulenten Bühnenbilder gehen makellos ineinander über, wie man es von einer teuren Großproduktion erwarten darf. In manchen Szenen wirkt das Bühnenbild fast schon ein wenig überladen, so viel wird teilweise aufgefahren. Im Hintergrund sind während des gesamten Stückes Achterbahngerüste und -schienen zu sehen, als eine Art Rahmen für die ständig wechselnden Hauptschauplätze, sei es Megs Revuebühne, Christines und Raouls Hotelsuite oder das Kuriositätenkabinett des Phantoms. Vorne führen noch mehrere Gänge über die Bühne, von denen aus des öfteren die Handlung am Hauptschauplatz kommentiert oder auch nur beobachtet wird. Auch die Kostüme sind reichhaltig und aufwändig gearbeitet. Insbesondere in den Szenen der Freaks, die in Mr. Ys Park präsentiert werden, weiß der Zuschauer kaum, wo er zuerst hinschauen soll.
Die deutsche Übersetzung kann als gelungen bezeichnet werden. Textzeilen wie „Wer verliert, geht unter“ für „Devil Take the Hindmost“ halten sich nicht sklavisch an das Original, lassen sich aber gut singen und transportieren im Zusammenhang den emotionalen Gehalt vollständig weiter. Wer danach sucht, findet aber selbstverständlich auch hier Negativbeispiele: „Beneath A Moonless Sky“, das erste große Duett von Christine und dem Phantom, wird zu „In rabenschwarzer Nacht“. Die durchweg negative Konnotation des Adjektivs „rabenschwarz“ ist dabei nicht wirklich passend für die im Lied beschriebene, leidenschaftliche Liebesnacht.
So mitreißend die Emotionen zwischen den Hauptfiguren auch dargestellt sind, in dramaturgischer Hinsicht wirft die Handlung aber doch einige Fragezeichen auf. Das sind manchmal Nebensächlichkeiten – wie die Tatsache, dass Christine vor ihrem großen Auftritt in der Garderobe die Ansage „Noch fünf Minuten“ bekommt, aber in aller Seelenruhe keinerlei Anstalten macht, sich bühnenfertig zu machen. Vor allem aber muss die Frage nach der ursprünglichen Beziehung zwischen dem Phantom und Christine gestellt werden. Dass in „Phantom der Oper“ eine gewisse Anziehung zwischen beiden bestand, steht außer Frage. Aber war es tatsächlich so eine große Leidenschaft, die in einer gemeinsamen Nacht voller Liebe und tiefer Gefühle endete? Es entsteht fast der Eindruck, als hätte Lloyd Webber in seinem ersten Teil den Zuschauern den eigentlichen Höhepunkt der Geschichte unterschlagen – oder vertraut er einfach zu sehr darauf, dass die Zuschauer nicht hinterfragen, ob die Fortsetzung wirklich logisch an „Phantom der Oper“ anschließt?
Und dann das Finale: Meg wird so sehr in ihren Eifersuchtswahn hineingezogen, dass sie Gustave entführt, ihn scheinbar sogar umbringen will, um dann, aus einem Handgemenge mit dem Phantom heraus, (zufällig oder doch mit Absicht?) Christine zu erschießen. Arg konstruiert, dieses Ende! Weniger Wendungen wären hier eindeutig mehr gewesen. Bei manchen lauen Shows rettet ein tolles Finale die Stimmung. Hier ist es genau umgekehrt: Der konstruiert wirkende Schluss will längst nicht so gefangen nehmen wie die großen Gefühle, die zuvor auf der Bühne zu erleben waren.
Abgesehen von diesen Unstimmigkeiten ist der Stage Entertainment aber ein wirklich sehenswertes Musical-Drama gelungen. Stücke dieser Kategorie hatten es in der jüngsten Vergangenheit nicht leicht im Kampf um die Publikumsgunst. Man darf gespannt sein, ob die Neugier auf die Fortsetzung vom „Phantom der Oper“ ausreicht, um das Theater auf Dauer zu füllen. Verdient hätte es die qualitativ hochwertige Produktion allemal.
Zur Zeit steht die Funktion 'Leserbewertung' noch nicht (wieder) zur Verfügung. Wir arbeiten daran, dass das bald wieder möglich wird.
Mehrere Begriffe ohne Anführungszeichen = Alle Begriffe müssen in beliebiger Reihenfolge vorkommen (Mark Seibert Hamburg findet z.B. auch eine Produktion, in der Mark Müller und Christian Seibert in Hamburg gespielt haben). "Mark Seibert" Wien hingegen findet genau den Namen "Mark Seibert" und Wien. Die Suche ist möglich nach Stücktiteln, Theaternamen, Mitwirkenden, Städten, Bundesländern (DE), Ländern, Aufführungsjahren...