Fast ist es ja schon eine Mode, historische Musicals am Originalort entstehen zu lassen. Und so kam 2012 in Wetzlar die Idee auf, Goethes Werk „Die Leiden des jungen Werther“, das als Folge von Ereignissen entstand, die der Schriftsteller 1772 in Wetzlar erlebte, zu einem Musical zu verarbeiten.
Doch es ist keine 1:1-Adaption des berühmten Briefromans geworden. Wie der Titel schon andeutet, steht im Musical nicht Werther selbst, sondern Lotte im Mittelpunkt. Die Geschichte wird aus ihrem Blickwinkel erzählt: Verlobt mit dem bodenständigen, besonnenen Albert, lernt sie auf einem Ball den Juristen Werther kennen, der das genaue Gegenteil ihres Verlobten darstellt. Voller ungewöhnlicher Gedankenspiele sucht er seinen Weg im Leben, ohne sich zu sehr um Konventionen zu kümmern. Sein Gebaren, mit dem er sich auch gerne mal zum Trottel macht, stößt sie zwar vor den Kopf, doch genauso fasziniert es sie auch und so lässt sie sich auf eine nähere Bekanntschaft mit ihm ein. Auch Albert und Werther freunden sich an, und so entsteht für eine gewisse Zeit eine Ménage-à-trois, die auf Dauer nicht gutgehen kann.
Bemerkenswert ist der Schluss, den sich das Kreativteam zurecht gelegt hat. Hier erschießt Lotte Werther, woraufhin Albert alle Anzeichen für diese Tat vertuscht. Eine eigenartige Wendung – kennt doch jeder Werther als einen der berühmtesten Selbstmörder der Literaturgeschichte… Doch innerhalb des Musicals macht es durchaus Sinn; Lotte wird ausgesprochen emanzipiert gezeigt und mit dieser Tat nimmt sie ihr Schicksal selbst in die Hand statt Werther die Entscheidung zu überlassen, was aus dieser Dreiecksbeziehung wird. Ein modernes provokantes Ende, das zum Nachdenken anregt!
Ein ganz großer Pluspunkt dieses Musicals ist die spannende, abwechslungsreiche und gehaltvolle Musik: Werthers Lied „Mehr zu sein“ beispielsweise ist eine überschwänglich verspielte Arie, die für Werthers überschäumende Gedanken angesichts all der Wunder der Natur genau den richtigen Ton findet. Im krassen Gegensatz dazu steht Alberts ruhiges, klar aufgebautes Lied „Morgen“. Beide Songs entwickeln sich zum Ende zu Duetten mit Lotte: Wenn sie dazu stößt, verändert sich in beiden Fällen auch die Melodie: Werthers Lied wird ein wenig ruhiger; auch musikalisch holt sie ihn also aus seinem Gedankengespinst. Alberts Lied dagegen erhält erst mit ihrem Einsatz eine leicht verspielte Note; seine Welt wird durch sie also bunter und leichtfüßiger. Und so kreiert Komponist Marian Lux über den Abend immer wieder farbenreiche Stimmungen, in denen die Zuhörer schwelgen können.
Kein Wunder angesichts der vielfältigen Partitur, dass auch die vorzügliche Band mit sichtlichem Spaß bei der Sache ist – ganz besonders, wenn die Musiker bei dem swingenden „Willkommen in Wetzlar“, das vom Conférencier-Trio immer mal wieder angestimmt wird, richtig losgrooven können.
Dazu hat Kevin Schröder Texte geschrieben, bei denen es sich lohnt genau zuzuhören, um in Lottes und ganz besonders Werthers Welt richtig eintauchen zu können.
Die beeindruckende und höchst unterhaltsame Inszenierung von Christoph Drewitz bespielt den gesamten Lottehof. Dabei handelt es sich um den Hof vor dem Geburtshaus der Charlotte Buff – dem realen Vorbild der Lotte in Goethes Roman. Gerade diese Authentizität macht diese Aufführung zu etwas ganz Besonderem. Zentraler Spielort ist eine von drei großen Kastanien beherrschte Terrasse. Ein künstlich aufgebautes Bühnenbild braucht es hier nicht. Rechts von den Zuschauern steht das Lottehaus, dessen Eingangstür der meist genutzte Auf- bzw. Abgangsort ist. Gespielt wird aber nicht nur auf der Terrasse: Die Darsteller stehen mal kurzzeitig hinter den Zuschauern, laufen die Auffahrt hinauf, bewegen sich immer wieder durch das Publikum und auch die Sitzecke vor dem Lottehaus wird gerne mitgenutzt.
Gerade einmal sechs Darsteller sind es, die diesen Abend mit kaum einer Verschnaufpause bestreiten. Allesamt Musical-Profis – dass ihre Stimmen sitzen, muss eigentlich kaum erwähnt werden. Doch sie alle investieren Leidenschaft und man merkt ihnen, genau wie den Musikern, die Freude und das Feuer für diese besondere Produktion deutlich an.
Im Zentrum dabei stehen natürlich Lotte und Werther: Anne Hoth zeigt ein vielschichtiges Porträt der Titelheldin. Zuerst einmal emanzipiert, manchmal fast schon burschikos, auf der anderen Seite – wie sollte es anders sein – auch eine ganz verletzbare und verletzte Seele. Die Überforderung mit der Entscheidung für einen der beiden Männer, also im Endeffekt die klassische Wahl `Kopf oder Herz` spielt Hoth hervorragend heraus. Auch Werther wird durch Oliver Arno zu einem faszinierenden Charakter. Wenn er über seine (im positiven Sinne) eigenartigen Gedankenwelten philosophiert, ist es eine Freude, Arnos intensive Mimik und Gestik zu beobachten. Und immer wieder lässt der Darsteller subtil mitschwingen, wie dicht der labile Werther sich bei allem Enthusiasmus an der Grenze zur Schwermut oder gar zum Irrsinn befindet. Bei beiden Hauptdarstellern möchte man fast von der „Rolle ihres/seines Lebens“ sprechen.
Dagegen hat es David Wehle schwer: Albert ist in diesem Dreieck einfach der vernünftige Langweiler. Auch Wehle investiert an diesem Abend so viel Gefühl wie möglich, die Rolle gibt schlicht nicht so viel her. Karen Helbing, Ekaterini Tsapanidou und Tobias Weis sind viel mehr als Nebendarsteller. Auch sie stehen fast ständig im Rampenlicht, mal als Lottes Geschwister, dann als Cousinen, Weis als Lottes Vater oder alle drei als Nachbarn und als Conférencier-Trio. Dabei zeigen sie sich unglaublich flexibel, oft reicht beim Sprung von einer Figur in eine andere die Zeit nicht einmal für einen Kostümwechsel, so dass viele Veränderungen nur durch Mimik, Gestik und Stimme hervorgebracht werden.
So perfekt das Musical eigentlich auf den Lottehof angepasst ist, bleibt trotzdem zu hoffen, dass sich weitere Theater des Stückes annehmen. Das Material ist einfach zu gut, als dass es nach dieser Spielzeit in der Schublade liegen bleiben dürfte.
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