Máté Sólyom Nagy (Tevje) © Lutz Edelhoff
Máté Sólyom Nagy (Tevje) © Lutz Edelhoff

Anatevka (2024)
Theater Erfurt, Erfurt

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Im Vergleich zu anderen großen Open-Air-Musical-Veranstaltungen wie den Freilichtspielen Tecklenburg oder dem Domplatz-Openair in Magdeburg zeigt das Theater Erfurt bei den DomStufen-Festspielen nur alle paar Jahre ein Musical. Nach der Uraufführung der Musical-Version von „Der Name der Rose“ im Jahr 2019 haben sich die Verantwortlichen im Sommer 2024 für den Broadway-Klassiker „Anatevka“ entschieden. Obwohl Regisseur Ulrich Wiggers und sein Team bei der Inszenierung in Bezug auf Ensemblegröße, Bühnenbild und Ausstattung sowie Besetzung keine Kompromisse eingehen und aus dem Vollen schöpfen, gibt es einen kleinen Wermutstropfen: Die Intimität zwischen Publikum und den Bewohnern des kleinen jüdischen Schtetls sowie der Hauptfigur, dem Milchmann Tevje, die „Anatevka“ auszeichnet, kommt auf dem Domplatz in Erfurt nicht ganz zur Geltung.

Die Inszenierung beeindruckt durch ihre imposante Bildsprache: Über den obersten Stufen der Treppe, die vom Domplatz hinauf zur St. Marien-Kirche führen, hat Bühnenbildner Leif-Erich Heine eine gigantische, zerbeulte Milchkanne mit Einschussloch platziert. Die Milch fließt wie frisch verschüttet die Stufen hinunter – ein kraftvolles Symbol, das den gesamten Abend über präsent bleibt. Dieses Bild greift sowohl das tragische Ende der Geschichte von Anatevka als auch die bevorstehende Gewalt gegen die jüdische Gemeinschaft der Ukraine im frühen 20. Jahrhundert auf und verleiht der Inszenierung eine bedrückende Vorahnung.

Unterhalb der Kanne befinden sich weitere überdimensionale, holzsplitterartige Elemente, die in verschiedenen Formationen entweder die windschiefen Eingänge der einfachen Häuser Anatevkas oder – besonders eindrucksvoll in der großen „Gebetszene“ – einen zerbrochenen Davidstern darstellen. Dieses zerbrechliche Bild vermittelt eindrucksvoll die wachsende Bedrohung, die über den jüdischen Einwohnern schwebt.

Verstärkt wird die Symbolik durch das bemerkenswerte Video-Design von Bonko Karadjov, das winterliche Landschaften auf die Domstufen und umliegende Gebäude projiziert und so die Atmosphäre zusätzlich verdichtet. Auch bei den Kostümen wurde nicht gespart: Für die Albtraumszene, in der Tevje sowohl die Großmutter seiner Frau Golde als auch die furchteinflößende Fruma-Sara heraufbeschwört, hat Kostümbildnerin Jula Reindell riesige, fratzenhafte Puppen entworfen. Durch das düstere Lichtdesign von Florian Hahn wird diese sonst humorvolle Szene mit einem subtilen Gruselfaktor versehen, der die Stimmung perfekt unterstreicht. Die großzügige, vor allem in die Höhe ragende Spielfläche erlaubt es, dermaßen prächtige Kulissen und Bühnenbilder in voller Pracht auf die Bühne zu bringen, allerdings zwingt sie auch dazu, die ersten Reihen des Publikums relativ weit von der Bühne entfernt anzusiedeln um sicherzustellen, dass gerade auch von dort ein Blick über das gesamte Geschehen möglich wird. Bei einem Stück wie Anatevka, das so stark von Tevjes feinem Humor, seinen subtilen Gesten und den emotionalen Nuancen der Figuren lebt, entsteht durch die räumliche Trennung jedoch eine spürbare Distanz. Diese Entfernung lässt wichtige Details und emotionale Momente verpuffen, die für die intime Atmosphäre des Stücks unerlässlich sind.

Hinzu kommt, dass Eingriffe ins Buch des Musicals die Wirkung der Erzählung merklich schwächen. Autor Joseph Stein hat gezielt komödiantische Szenen vor dramatischen Momenten platziert, um die emotionale Wirkung noch zu verstärken. Die Streichung solcher Szenen, wie etwa des humorvollen „Das Gerücht“, bei dem die Bürger Anatevkas den Inhalt eines Briefes von Perchik immer mehr verzerren, schwächt die darauffolgende Dramatik. Der emotionale Abschied Tevjes von seiner Tochter, die nach Sibirien geht, um ihrem Perchik nahe zu sein, verliert dadurch erheblich an Intensität und berührt das Publikum nicht in der gleichen Tiefe, wie es das Original ermöglicht.

Besonders beeindruckend sind die Ensembleszenen dieser Inszenierung, die überzeugend das Gefühl vermitteln, als stünde tatsächlich ein ganzes Dorf auf der Bühne. Das Ensemble agiert sowohl stimmlich als auch tänzerisch mit großem Engagement, wodurch Momente wie das berührende „Schabbat Gebet“ oder das nachdenkliche „Jahre kommen, Jahre gehen“ in Erfurt besonders stimmungsvoll gelingen.

Die Rollen des Tevje und seiner Frau Golde sind doppelt besetzt. In der besuchten Vorstellung standen Máté Sólyom-Nagy als Tevje und Katja Bildt als Golde auf der Bühne. Beide überzeugen sowohl stimmlich als auch darstellerisch. Sólyom-Nagy verkörpert Tevje als einen schicksalsergebenen Mann, der das Leben mit Humor nimmt – bis die Liebe seiner Tochter Chava zum Russen Fedja seine Welt erschüttert. Sein „Kleiner Spatz, kleine Chavaleh“ ist der Höhepunkt des Abends: Mehr schluchzend als singend trauert er um seine Tochter. Im Zusammenspiel mit der Solo-Violine aus dem Orchester, die immer wieder die Melodie übernimmt, wenn Tevjes Stimme durch überbordende Emotionen versagt, entsteht ein ganz wunderbarer musikalischer Moment.

Auch die Darstellerinnen von Tevjes Töchtern überzeugen: Melanie Böhm (Zeitel), Hannah Miele (Hodel) und Gioia Heid (Chava) singen mit klaren, schönen Musical-Stimmen. Gudrun Schade sorgt in ihren Rollen als geschwätzige Heiratsvermittlerin Jente, als Großmutter und als Fruma-Sara für humorvolle Akzente und hat die Lacher stets auf ihrer Seite. Bosse Vogt als sympathischer, wenn auch etwas unbeholfener Mottel liefert mit seinem „Wunder, ein Wunder“ einen weiteren musikalischen Höhepunkt. Denis Riffel überzeugt als visionärer Student Perchik, der seine revolutionären Ideen mit Überzeugungskraft vorträgt. Durch sein gestenreiches Spiel verleiht er dieser kleineren Rolle eine besondere Note.

Eine Besonderheit dieser Inszenierung ist, dass das Philharmonische Orchester Erfurt zwar live spielt – allerdings nicht vor Ort, sondern übertragen aus dem Theater Erfurt. Unter der Leitung von Clemens Fieguth erklingen die Melodien von Jerry Bock schwungvoll und kraftvoll in den Ensemblenummern, während die stillen Momente fein und präzise akzentuiert sind. Die Tontechnik arbeitet dabei auf höchstem Niveau: Trotz der riesigen Open-Air-Fläche sind die Texte klar verständlich, und auch die Instrumentalbegleitung fügt sich sauber in das Gesamtbild ein.

Mit der Wahl von „Anatevka“ setzt das Theater Erfurt ein klares Zeichen: Die Geschichte von Tevje und den Bewohnern Anatevkas endet mit der Vertreibung der jüdischen Gemeinschaft aus ihrem Dorf – ein tragisches Schicksal, das auf die historischen Pogrome verweist und sich gleichzeitig wie eine Mahnung an unsere heutige Zeit lesen lässt. Im Hinblick auf die in den nächsten Wochen anstehenden Landtagswahlen in Thüringen erhält diese Inszenierung eine zusätzliche politische Dimension. Vertreibung und Ausgrenzung von Minderheiten sind keine Geschichten aus einer fernen Vergangenheit, sondern eine reale Bedrohung. In Zeiten, in denen gesellschaftliche Spaltungen tiefer werden und extremistische Strömungen wieder an Einfluss gewinnen, mahnt das Theater der Landeshauptstadt dazu, wachsam zu bleiben und für ein friedliches und tolerantes Miteinander einzustehen.

 
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KREATIVTEAM
Musikalische LeitungClemens Fieguth
Stefano Cascioli
InszenierungUlrich Wiggers
BühneLeif Erik Heine
KostümeJulia Reindell
ChoreografieKati Heidebrecht
 
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CAST (AKTUELL)
TevjeMáté Sólyom-Nagy
Rainer Zaun
GoldeKatja Bildt
Brigitte Oelke
ZeitelDaniela Gerstenmeyer
Melanie Böhm
HodelHannah Miele
ChavaGioia Heid
SprintzeLiselotte Besel
Mirjam Bezzel
Mia Julie Maraz
BielkeFrida Balthage
Anna Maria Richter
Mariella Lotta Sauter
Mottel KamzoilBosse Vogt
Jente / Oma Zeitel / Fruma-SaraGudrun Schade
PerchikDenis Riffel
Lazar WolfJörg Rathmann
MotschachDirk Bieritzky
RabbiChristoph Dyck
MendelJustus Schmeck
AwramThomas Keiner
WachtmeisterDmitry Ryabchikov
FedjaHector Mitchell-Turner
SaschaSandro Wenzing
SchandelAstrid Thelemann
Katharina Walz
Erster Russe / NachumFlorian Wugk
Dritter SusseYevhenii Dunduk
JusselDavie Venier
EnsembleSevak Avagyan
Melanie Böhm
Clara Hendel
Hector Mitchell-Turner
Justus Schmeck
Davide Venier
Sandro Wenzing
Florian Wugk
OrchesterPhilharmonisches Orchester Erfurt
ChorOpernchor des Theater Erfurt
Mitglieder des Philharmonischen Chores Erfurt
KomparserieKinderstatisterie des Theaters Erfurt
  
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TERMINE
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TERMINE (HISTORY)
Fr, 02.08.2024 20:00Domstufen, ErfurtPremiere
Sa, 03.08.2024 20:00Domstufen, Erfurt
So, 04.08.2024 20:00Domstufen, Erfurt
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