Martin G. Berger: Das Publikum wachrütteln

[Drei Fragen an …] Martin G. Berger wagt sich mit seiner Produktionsfirma „hier:Leben“ an einen Sondheim-Klassiker heran, das Musical „Anyone Can Whistle“, das am 10. und 11. Februar in der ufaFabrik Berlin seine deutschsprachige Premiere erleben soll. Hier berichtet er, wie aus diesem einstigen Flop ein modernes Stück geworden ist, wieso es an der Zeit ist, dieses Sondheim-Werk in Deutschland zu präsentieren und was das Spezielle an einem Live-Hörspiel im Musicalbereich ist.

Herr Berger, „Anyone Can Whistle“ war bei seiner Erstaufführung im Jahre 1964 ein finanzieller Misserfolg und schloss nach nur neun Vorstellungen am Broadway. Mittlerweile hat sich jedoch ein regelrechter Kult um dieses relativ unbekannte Stück Stephen Sondheims entwickelt. Warum bringen Sie es nach so vielen Jahren in Deutschland auf die Bühne – was macht den Reiz des Stoffes aus und was versprechen Sie sich davon?
In der Tat war „Anyone Can Whistle“ damals ein Total-Flop – und das obwohl Angela Lansbury darin ihr Broadway-Debut gab! Die Gründe liegen auf der Hand: Inhaltlich, musikalisch und formal wurde so ziemlich alles angegriffen, was dem Publikum der 60er lieb und teuer war. Man muss sich vorstellen, dass im selben Jahr „Hello, Dolly!“, „Anatevka“ und „Funny Girl“ Premiere hatten – also drei ganz große familientaugliche Shows des Golden Age. Sondheim und Laurents sind da mit einem völlig anderen Anspruch rangegangen. Sie wollten das Publikum wachrütteln und ihnen ihr Konsumverhalten vorführen.
Sie parodieren in dem Stück ziemlich frech sämtliche Broadway-Mechanismen, wie zum Beispiel die Tradition des Showstoppers, greifen den musicaltypischen Perfektionismus an, indem sie Umbauten mittendrin abbrechen, lassen an einer Stelle die Darsteller das Publikum auslachen und vieles mehr. Inhaltlich stellen sie dann sogar implizit die Behauptung auf: Alles Normale, Genormte, sei das eigentlich Verrückte – dazu zählen Ehe, Familie, Militär, Fixierung auf Heterosexualität und geschlechtliche, religiöse und rassenbedingte Rollenbilder. Ihre These: Alle Menschen sind gleich und unabhängig von Äußerlichkeiten. 1964 – noch vor den Studentenbewegungen – ein Skandal.
Das Spannende ist heute, abzuklopfen, welche der Angriffe noch treffen und welche nicht. Ich denke, dass sich in der Gesellschaft seitdem viel getan hat, ohne dass die Themen an Aktualität verloren hätten. Ich lese aus dem Stück für unsere Zeit eine nicht direkt versöhnliche, aber doch sehr tolerante Haltung: Starre Normen und Regeln sind für viele Menschen wichtig, aber eben nicht für alle. Die Fülle der Möglichkeiten unserer Zeit ist für manche Menschen eine Chance, für manche eine Last. Im Stück scheitert die heraufbeschworene Freiheits-Utopie, ohne dass es zynisch wird, und das Genre wird parodiert, ohne dass die Liebe dafür verloren geht. Eine sehr realistische Herangehensweise, mit der man sich gut identifizieren kann.
Insofern verspreche ich mir von dem Stück viele spannende Debatten und Anstöße für unser Zusammenleben in einer Welt, „wo so wenig klar ist“, wie es in einem Song immer noch sehr aktuell heißt. Und natürlich, dass mehr Menschen Stephen Sondheim und sein großartiges Werk kennen lernen – denn kaum jemand kann gleichzeitig so unterhaltend und anregend sein.

Unter anderem zeichnen Sie für die Übersetzung dieses Klassikers verantwortlich. Wie schwierig ist es, ein solch klassisches Werk zu übersetzen? Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Einfach formuliert: Sehr schwierig. Es ist eine enorme Puzzlearbeit, denn man befindet sich, wenn man die Sache seriös betreiben möchte, in einem ziemlich engen Korsett. Neben der Silbenanzahl, den Betonungen, komplexen Reimschemata, Wortspielen etc. muss das Ganze ja hinterher auch noch nach Deutsch klingen. Ich bin da äußerst strikt mit mir selber – was dazu führt, dass ich über einige Songs monatelang in Abständen nachdenke.
Grundsätzlich gilt es, bei der Übersetzung eines ganzen zusammenhängenden Bühnenwerks, sich zunächst möglichst schnell einen Gesamtüberblick zu verschaffen, um stückinterne Verweise zu verstehen und sich auch mit der Entstehungszeit und Muttersprachlern auseinanderzusetzen, um alle Nuancen zu erfassen. Der zweite Schritt ist die genaue Arbeit am Libretto, dann folgen die viel zeitaufwändigeren Liedtexte. In einem dritten Schritt erlaube ich mir erstmals Freiheiten – hier muss man mit sich selber ausmachen, wo dem Stück ein eingefügter Auftakt (grundsätzlich möglichst nur Auftakte wenn überhaupt!) oder ähnliches mehr hilft, als dass es ihm schadet. Schließlich gilt es die Verständlichkeit, Singbarkeit und alle pragmatischen Aspekte erneut zu überprüfen und eine im positiven Sinne freie Version zu erstellen.
Obwohl Sondheim hier eine besondere Herausforderung ist, gelten diese Maßstäbe bei einem „Klassiker“ genau so wie bei einem Stück, das von geringerer Qualität ist. Man muss immer wieder feststellen: Der Schwierigkeitsgrad lässt sich nie genau vorhersagen – den Duktus naiver Lyrics nachzuahmen ist mitunter sehr schwer, weil z. B. der nächstliegende Reim auf Englisch ein ganz anderer ist als auf Deutsch. Am Ende braucht man immer sehr gute Darsteller, die eine Übersetzung natürlich klingen lassen. Hier habe ich bei „Anyone can whistle“ mit Frederike Haas, Katja Brauneis, Oliver Andre Timpe und Gerald Michel vier exquisite Sänger, die diese Aufgabe spielerisch meistern.

Das Musical wird als eine Mischung aus Live-Hörspiel und Musical-Reading angekündigt. Was muss man sich darunter vorstellen? Warum wurde diese Form der Präsentation gewählt? Gibt es Pläne für eine „durchinszenierte“ Fassung?
Ich war vor Jahren einmal in einem Dunkel-Restaurant und wurde dort von einer Kellnerin mit einer sehr warmen, erotischen Stimme bedient. Den ganzen Abend verdichtete sich vor mir das Bild einer kurvigen, rothaarigen Frau Anfang 30. Als ich am Ende des Abends im Übergangsbereich zum Hellen stand und durch einen Zufall das Licht anging, sah ich die Frau: Sie war eine sehr sympathische kleine Mutti, Mitte 40, mit einer völlig durchschnittlichen Figur. Und plötzlich klang auch ihre Stimme gar nicht mehr nach Vamp. Aber: Der Vamp und die Stimme gehörten auch zu ihr, solange es dunkel war. Vielleicht war sie es ja sogar in den Momenten der Dunkelheit? Oder vielleicht steckt es in ihr? In jedem Fall wurde ich dazu gezwungen, meine Klischees zu überdenken.
Und genau darum ist für dieses Stück, das mit Rollen und Klischees spielt, ein Live-Hörspiel die perfekte Form. Man kann die Augen zumachen und hört eine ganze Geschichte, eine ganze Welt – man kann sie aber auch aufmachen und erfährt, wie diese Welt entsteht. Damit hat der Zuschauer die Kontrolle darüber, wie viel Illusion er zulassen möchte. Eine zentrale Theaterfrage, die im Stück thematisiert wird und die ich hier auf die auditive Ebene übertrage.
Ganz praktisch bedeutet das, dass uns im Gegensatz zu einem normalen Reading ein Geräuschemacher und ein Atmosphären-Gestalter unterstützen. Dass zum Beispiel der im Stück vorkommende Wunder-Fels, aus dem Wasser sprudelt, ein Fake ist, sieht derjenige, der die Augen offen lässt sehr deutlich, wenn der Geräuschemacher eine Mineralwasserflasche zischen lässt. Wer die Augen zu hat, wird es erst im Verlauf des Stücks mitbekommen…
Eine vollszenische Interpretation ist für mich als Theatermann natürlich auch ein Wunsch. Dabei müsste man andere Zeichen und Ansätze finden als in unserer Version, aber es wäre mindestens genau so spannend. Hierfür bedürfte es aber eines mutigen Intendanten oder Produzenten, dem Sondheim genau so am Herzen liegt wie mir, meinen Darstellern und meinem gesamten Team.

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