Zwei neue Ensuite-Musicals, eine umstrittene TV-Gala, Rechtestreit um den Märchenkönig, Diskussionen um Robin Hood, Tops, Flops und ein Musical, das nach der zweiten Vorstellung abgesetzt wird: Das Musical-Nachrichten-Jahr 2005 im Schnelldurchlauf.
Januar: Während die Ausstrahlung von „Jerry Springer – The Opera“ in der britischen BBC für heftige Proteste sorgt, feiert das neue Musical der JS-Macher, Richard Thomas und Stewart Lee, im kleinen Haus des Staatstheaters Hannover unter dem Titel Stand up seine Uraufführung. Das Stück um kaputte Typen in einem englischen Comedy-Club ist aber um einiges weniger provokant und stößt nur auf mäßiges Medieninteresse. In Köln gibt es Streit, wie lange das blaue Zelt namens Musical Dome noch am Hauptbahnhof stehen darf. Die Lokalpolitik beschließt auf Drängen der CDU einen Abriss im Jahr 2008. „We will rock you“-Produzent Thomas Krauth kündigt an, um einen Erhalt bis 2010 kämpfen zu wollen.
Februar: Cornelia Drese und Ken Posey stellen im Düsseldorfer Capitol eine liebevolle Cy-Coleman-Gala namens „Witchcraft“ auf die Beine. Bei Musical on Ice in Dinslaken feiert Lyn Liechty, die nach ihrer Bremer Lucy-Interpretation für drei Jahre abgetaucht war, ihr Musical-Comeback – allerdings ohne, wie von vielen Fans erhofft, mit Ethan Freeman ein Duett zu singen. Wenige Wochen vor der „Elisabeth“-Premiere in Stuttgart wird bekannt, dass „Jekyll&Hyde“-Komponist Frank Wildhorn ein Musical über Kronprinz Rudolf plant (im Juni teilen die Vereinigten Bühnen Wien schließlich mit, dass sie das Stück 2006 in Budapest uraufführen wollen).
März: Sissi kehrt zurück: Elisabeth feiert seine Stuttgart-Premiere. Wie schon in der Schlussphase in Essen übernimmt die Niederländerin Maike Boerdam die Hauptrolle, als Tod steht ihr der Berliner Valjean Olegg Vynnyk zur Seite. Im Festspielhaus in Füssen kommt mit Ludwig² das neue „Kini“-Musical auf die Bühne, das mit Musik von Konstantin Wecker etwas weniger gewöhnungsbedürftig daherkommt als das gefloppte Vorgängerstück „Ludwig II“. Beifällige Aufnahme findet die NDW-Compilation-Show Fred vom Jupiter von Wolfgang Adenberg. Verwirrung gibt es um den Auftritt von Martin Semmelrogge („Das Boot“) im Ramones-Musical „Gabba Gabba Hey“, dem die Justizbehörden schließlich den Freigang aus dem Gefängnis auf die Bühne verweigern. Semmelrogges Rolle übernimmt schließlich Rolf Zacher.
April: Zieht die Degen: Im Berliner TdW steigt die Premiere der 3 Musketiere, vorher auf Plakaten bereits als „Musical des Jahres“ angekündigt. Die Meinungen des Publikums gehen stark auseinander (auch im Vergleich zur Rotterdamer Uraufführung), der Verkauf läuft bis heute sehr schleppend – in der Szene wird bereits über eine baldige Absetzung spekuliert. Die deutsche Erstaufführung von The Wild Party in Heilbronn bekommt überwiegend maue Kritiken, die Oper Chemnitz landet mit einer Neuinszenierung von FMA – Falco meets Amadeus dagegen einen Achtungserfolg. „Elisabeth“-Autor Michael Kunze erhält den Musikpreis „Echo“ für sein Lebenswerk. Udo Jürgens, für den Kunze etliche Songtexte geschrieben hat, singt als Laudatio ein Medley mit Kunze-Songs. In Trier spielt Dirk Bach in „Die Schöne und das klitzekleine Biest“. Die Stage Holding kündigt derweil an, in Madrid das größte Musical-Theater Spaniens zu bauen.
Mai: Den Flop des Jahres landet die Tournee-Produktion von Golf Golf Golf – The Swing & Hit Company – nach zwei Vorstellungen in München und verheerenden Zuschauerreaktionen wird die gesamte Tournee abgesagt. Ute Lemper sagt ebenfalls Konzerte ab – allerdings wegen Schwangerschaft. Die Stage Holding kauft das Theater im CentrO Oberhausen, Medienberichten zufolge für fünf Millionen Euro. Joop van den Ende verrät in einem Zeitungsinterview, dass der Konzern zudem in Deutschland ein Udo-Jürgens-Musical plant. Erst im Oktober bestätigt die deutsche Niederlassung diese Information: Unter der Ägide von Kreativdirektor Christian Struppek sollen Jürgens-Klassiker in eine neue Handlung von Hera Lind integriert werden. Arbeitstitel: Mit 66 Jahren. Beim Deutschen Turnfest in Berlin wird „Linie 1“ aufgeführt, gesungen von den Solisten der Grips-Produktion und geturnt von 240 Jugendlichen.
Juni: Bro’Sis-Sänger Ross Anthony übernimmt als Gast die Rolle des Rudolf in der Stuttgarter Elisabeth-Produktion. In Wuppertal findet die mit Spannung erwartete Deutschland-Premiere des Off-Broadway-Erfolges Die letzten fünf Jahre statt. „Camelot“-Doppelschlag auf den Freilichtbühnen in Bad Hersfeld und Tecklenburg. Trotz namhafter Besetzungen u.a. mit Yngve Gasoy-Romdal erweisen sich beide Versionen des Tafelrunden-Spektakels als eher flau. Die Neuauflage des Missionars-Musicals Bonifatius in Fulda mit Ethan Freeman in der Titelrolle erweist sich hingegen als grandioser Erfolg, der diverse CD-Editionen zum Ergebnis hat und für den für 2006 sowohl für Fulda als auch für das Bremer Musical-Theater weitere Spielserien angekündigt werden.
Juli: Im österreichischen Staatz läuft Jekyll&Hyde Open-Air mit Regisseur Werner Auer in der Hauptrolle, zur Produktion gibt es auch eine CD. Das Berliner Schlosspark-Theater bleibt der Musical-Operette treu und kündigt nach Wie einst im Mai mit Die 3 von der Tankstelle die nächste 30er-Jahre-Adaption an. Das Vorhaben der Stage Holding, die australische Bühnenversion des Tanzfilm-Klassikers Dirty Dancing nach Deutschland zu holen, sorgt für Aufregung, weil dadurch der vor allem in Fankreisen geschätze „Tanz der Vampire“ abgelöst werden soll. Mit dem Bau eines vierten Theaters in Hamburg will sich die Stage Holding ein Standbein im Varieté- und Kleinkunstbereich schaffen. Das ZDF zeigt Die besten 100 Musical-Songs. Zum Top-Hit wird „Totale Finsternis“ aus dem „Tanz der Vampire“ gewählt. Nebulöse Song-Auswahlkriterien und Moderationen sorgen für Diskussionsstoff.
August: Aus Stage Holding wird Stage Entertainment: Der Namenswechsel aller Unternehmungen des niederländischen Unterhaltungs-Multis wird am 1. August vollzogen. Gründungsgeschäftsführer Maik Klokow kündigt nach vier Jahren an der Spitze des deutschen Ablegers den Wechsel in die Amsterdamer Konzernzentrale an. Auf den Theatermann Klokow folgt mit Jan-Pelgrom de Haas ein gestandener Medienmanager, der sich seine Meriten vor allem als Produzent von TV-Serien und Telenovelas erwarb. Eine englischsprachige Europa-Tournee von Mamma Mia! kommt nach Deutschland, das ABBA-Stück ist nun an drei Standorten gleichzeitig zu sehen. Die deutschsprachigen Rechte von „Les Misérables“ sind wieder frei, für die Saison 05/06 werden Inszenierungen u.a. in Lüneburg, Regensburg und Tecklenburg angekündigt. Im Deutschen Theater München erlebt die Urversion des Ludwig II.-Musicals ihre Wiederauferstehung und einen juristischen Namensstreit mit dem Füssener Nachfolger „Ludwig²“. Pia Douwes verlässt die Berliner „3 Musketiere“. Die Open-Air-Produktion von „Miss Saigon“ im schweizerischen Thun wird zum Überschwemmungsopfer und muss Vorstellungen absagen.
September: Die von „3 Musketiere“-Dirigent Bernd Steixner geplante konzertante „Chess“-Aufführung zerschlägt sich aufgrund von Rechteproblemen. „Bagdad Café“ übersteht aufgrund katastrophaler Ticketverkaufszahlen nicht einmal die erste Tourneestation Hamburg. Branchenbeobachter machen dafür den Titel verantwortlich: Statt des in Deutschland bekannten „Out of Rosenheim“ wurde der internationale Originaltitel des Percy-Adlon-Films verwendet. „We Will Rock You“ entpuppt sich dagegen als Erfolg und wird in Köln bis ins Jahr 2007 verlängert. Die Intendantin der Freilichtspiele in Bad Hersfeld gibt bekannt, 2006 kein Musical spielen zu wollen. Eine Wiederaufnahme des Phantom der Oper hat im Essener Collosseum Premiere. Erster Maskenträger ist Thomas Borchert. Mit Anne Goerner (Christine) und Nicolaj Brucker (Raoul) steht ihm eine recht junge Cast zur Seite. Erstmals setzt die Stage Entertainment auf Rotation in der Hauptrolle: Ian Jon Bourg, Ethan Freeman und Uwe Kröger sollen in 2006 nacheinander die Erstbesetzung übernehmen.
Oktober: Im Berliner GRIPS-Theater gastiert die südkoreanische Weiterentwicklung des U-Bahn-Klassikers „Linie 1“. Für die 2006 geplante Best of Musical-Tournee der Stage Entertainment wird die Teilnahme u.a. von Caroline Fortenbacher, Jessica Kessler und Uwe Kröger angekündigt. Für das seit Jahren angekündigte Wind of Change mit Musik der Scorpions teilt die Stage Entertainment mit, nun einen „renommierter Autor“ für das Libretto verpflichtet zu haben. Das Bremer Stadttheater schrammt nur knapp an der Insolvenz vorbei, obwohl vorher schon „aus Kostengründen“ die erfolgreiche Musicalsparte um Altmeister Helmut Baumann abgeschafft worden war.
November: Die Stage Entertainment eröffnet ihre Aida-Tournee im Deutschen Theater München. Die Produktion war bis Juli fest im Colosseum Essen beheimatet und geht nun als erste SE-Show anschließend auf Tour. Weitere Spielorte sind Bremen, Basel und Niedernhausen, wo das ehemalige „Sunset Boulevard“-Theater erstmals wieder mit einer Großproduktion bespielt werden soll. Das Musiktheater im Revier bringt The Life, das letzte Stück des im vergangenen Jahr verstorbenen Cy Coleman auf die Bühne. Produziert von einem Team um den Hauptdarsteller John Cashmore erlebt Gaudi in Alsdorf in einer überarbeiteten Fassung seine Rückkehr auf deutsche Bühnen. Das English Theatre in Frankfurt am Main realisiert Rent in englischsprachiger Originalfassung. In namhafter Besetzung (u.a. mit der Berliner Cosette Valerie Link) kommt „Les Misérables“ in Lüneburg auf die Bühne und eröffnet den Reigen der Neuinszenierungen des Boublil-Schoenberg-Klassikers. Das kleine Pforzheimer BRETThupferl-Theater zeigt die deutschsprachige Erstaufführung des Sondheim-Musicals Night in Brooklyn.
Dezember: In Bremen geht die mit Spannung erwartete Premiere des von Andrea Friederichs produzierten Martin-Doepke-Musicals Robin Hood über die Bühne, dessen Qualität trotz namhafter Darstellerriege (Ethan Freeman, Jesper Tydén, Daniela Ziegler) für Diskussionen sorgt. In Bremen läuft die Show äußerst erfolgreich und verlängert, die Vorstellungen an der zweiten Station, dem Düsseldorfer Capitol, werden komplett abgesagt. Als Grund nennt das Theater technische Probleme. In Oberhausen zeigt die Stage Entertainment eine solide Wiederaufnahme von Disneys Die Schöne und das Biest, in der neben den Hauptdarstellern Yngve Gasoy-Romdal und Leah Delos Santos TV-Kömodiant Ingolf Lück seine erste Musicalrolle spielt. Ankündigungs-Doppelschlag von Kunze/Levay: Rebecca (nach einem Roman von Daphne du Maurier) soll im September 2006 in Wien Premiere haben. Einen Monat später ist die Erstaufführung von Marie Antoinette in Tokio geplant. Das Musical um die geköpfte französische Königin wird zunächst in japanischer Sprache auf den Markt kommen, eine deutschsprachige Version wird für einen späteren Zeitpunkt nicht ausgeschlossen. In Berlin tagt der Circle 2005: Initiiert von Cornelia Drese und Kenneth Posey diskutieren Darsteller, Kreative und Fachleute über eine Interessenvertretung für Musicaldarsteller und die Zukunft des Genres.
Und so war das Musical-Jahr 2005 für unsere Leser.