Einmal pro Monat werde ich mich in meinen Fernsehsessel setzen und mir für euch einen Musicalfilm ansehen. Da werden bekannte Streifen dabei sein, aber auch Unbekanntes oder Vergessenes.
Nichts an dieser Szene wirkt irgendwie real: Ein Mann hat gerade das Mädchen, in das er sich verliebt hat, zum ersten Mal geküsst und geht debil lächelnd und singend durch einen Straßenzug, dessen Häuserzeile ihre Papp- und Holzkonstruktion nicht verleugnen kann. Hunderte Liter Wasser prasseln auf ihn herab, die die Abflüsse nicht fassen können. Der Mann spritzt beim Tanzen damit herum, springt durch die Gegend wie ein ausgelassenes Kind, tänzelt über Bordsteinkanten, schwingt sich um Straßenlaternen herum und strahlt dabei pures Glück aus.
An einer Stelle setzt die Musik aus. Der Mann verharrt in seiner Pose, scheint den Regen auf seinem nach oben gerichteten Gesicht zu genießen und die Textzeile „I‘m happy again“ scheint vor Lebensfreude fast zu platzen. Das unnatürlich warme Licht steht im krassen Kontrast zum Regen an sich und den grauen, unfreundlich wirkenden Gebäuden. Die roten Hydranten und grünen Pflanzen stechen geradezu knallig hervor.
Magie, wie sie nur das Kino erschaffen kann. Pure Leichtigkeit – von Gene Kellys Bewegungen (trotz 39 Grad Fieber beim Dreh) über die geschmeidige Kamera bis zur Orchestrierung des Songs – die durch die Regentropfen und das fließende Wasser auf Gehweg und Straße unterstrichen wird.
Dieser Klassiker des Filmmusicals feiert 2022 Geburtstag: „Singin‘ in the Rain“ wird 70! Ein guter Anlass, sich diesen Streifen einmal wieder anzusehen. Mal davon abgesehen, dass er eine der ikonischsten Szenen der Filmgeschichte enthält, ist er sehr lustig, bunt, atemberaubend choreografiert und genauso unterhaltsam wie er es vermutlich vor 70 Jahren war.
Der Inhalt der romantischen Musikkomödie ist eigentlich schnell erzählt.
Hollywood 1927: Lina Lamont (Jean Hagen) und Don Lockwood (Gene Kelly) sind DAS Film-Traumpaar. Ihre inhaltlich wenig abwechslungsreichen Kitsch-Filme füllen die Kinokassen. Doch dann krempelt der Film „The Jazz Singer“ von jetzt auf gleich die Filmbranche um und ihr neuestes Werk „König der Duelle“ muss ein Tonfilm-Musical mit neuem Titel „Der tanzende Kavalier“ werden. Problem: Linas Stimme hat den Charme eines Nagels auf einer Schiefertafel. Deshalb engagiert man die junge Schauspielerin Kathy Selden (Debbie Reynolds) als Linas Stimme.
Das Spiel mit den falschen Stimmen ging beim echten Dreh sogar weiter: Jean Hagen synchronisierte im englischen Original Linas Sprechtext bei „Der tanzende Kavalier“ selbst, nicht Debbie Reynolds. Und Reynolds Gesang wurde von der Sängerin Betty Noyes gedoubelt.
Also wenn Jean Hagen als Lina Lamont am Ende vorgibt, „Singin‘ in the Rain“ zu singen und Debbie Reynolds als Kathy Selden hinter dem Vorhang für sie ’singt‘, sehen wir gleich zwei markierende Schauspielerinnen, denn wir hören (im Original) die Stimme von Betty Noyes. Ein selbstironisches Spiel um Lug und Trug beim Film – bei dem Noyes natürlich gänzlich verschwiegen wurde, denn Selbstironie hat schließlich ihre Grenzen. Traumfabrik bleibt Traumfabrik.
Trotzdem macht dieser Film auch heute noch unglaublich viel Spaß. Die Schwerelosigkeit und Akrobatik der Tänze, die Chemie im Ensemble (auch wenn die Arbeit mit Kelly laut Reynolds mehr als schwierig gewesen sein soll), das hervorragende Drehbuch, die schreiend komische Ton-Gags bei der Testvorführung von „König der Duelle“ durch beim Dreh falsch aufgestellte Mikrofone, höllisch laut klappernde Perlenketten und eine Verschiebung von Bild- und Tonspur.
Bei „Singin‘ in the Rain“ löst sich das Filmmusical vom Theater als Herkunft seiner Stoffe oder als Schauplatz, denn viele Musicals der Zeit handelten von Broadway-Produktionen, und machte sich selbst zum Thema.
Dabei ist „Singin‘ in the Rain“, genau betrachtet, nichts weiter als ein Jukebox-Musical. Arthur Freed, Chef der Musical-Abteilung beim Filmstudio MGM, war als Textdichter an einigen Filmmusical-Songs beteiligt, um die herum er ein Drehbuch schreiben ließ. Zwei Songs („Moses Supposes“ und „Make ‘Em Laugh“) kamen als Neukompositionen dazu.
Obwohl er heute als Klassiker gilt, stand der Streifen damals im Schatten des sehr erfolgreichen und mit sechs Oscars ausgezeichneten Vorgängers „Ein Amerikaner in Paris“. Er war bei Kritik und Publikum ein ordentlicher, aber nicht übermäßiger Erfolg und konnte nur zwei Oscar-Nominierungen für sich verbuchen: für Jean Hagen als beste Nebendarstellerin und für die beste Musik in einem Musikfilm. Die kreative Ausstattung, die überbordenden Kostüme, das gewitzte Drehbuch, die hervorragende Regie, Ton und Kamera wurden übergangen.
In Deutschland hat sich mittlerweile der Originaltitel durchgesetzt. Bei seiner Erstaufführung hieß er noch „Du sollst mein Glücksstern sein“, wie der deutsche Text von „You Are My Lucky Star“, und alle Lieder waren auf Deutsch. Jetzt lässt sich „Singin‘ in the Rain“ nicht knackig auf die Melodie übersetzen und daraus wurde „Ich bin ja heut‘ verdreht“. Darüber möchte ich nicht die Nase rümpfen, auch wenn ich generell bei Liedern die Originalsprache bevorzuge, denn es war sicher eine Höllenarbeit, bei dem Sprechübungssong aus „Moses supposes, his toeses are roses (. . .)“, „Molly und Polly, die rollen mit dem Roller (…)“ zu machen.
So gelungen ich diesen Film auch finde, etwas stört mich: die 13-minütige Ballettsequenz „Broadway Melody“. Sie ist großartig choreografiert und toll getanzt (wie gern würde ich ein Making Of des Balletts sehen mit dem Einsatz der diversen Windmaschinen, die die Schleppe der Tänzerin Cyd Charisse so gezielt flattern lassen), aber für mich ein Fremdkörper. Und der Song „Make ‘Em Laugh“ ist eine dreiste Kopie von Cole Porters „Be a Clown“, was nur durch Donald O‘Connors Tanzakrobatik und fröhliche Grimassenschneiderei verziehen werden kann.
Nichtsdestotrotz ist „Singin‘ in the Rain“ für mich das beste Filmmusical, das nicht auf einer Bühnenvorlage basiert. Herzlichen Glückwunsch zum 70.!
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