„Das Phantom der Oper“ ist neben „Cats“ und „Les Misérables“ eines der Musicals, die in den späten 1980er Jahren den Musical-Boom in Wien auslösten. Über 30 Jahre nach seiner Premiere kehrt das Phantom jetzt erstmals – mit Ausnahme einer konzertanten Spielserie – in einer Neuinszenierung zurück nach Wien. Viel Kritik musste sich diese Version bereits vor der ersten Preview gefallen lassen, war die Sorge doch groß, dass die Vereinigten Bühnen Wien ihrem Publikum eine Sparversion auftischen wollen. Nichts davon hat sich allerdings bewahrheitet: Sobald es gelingt, die ikonische, aber mittlerweile doch arg angestaubte Original-Inszenierung im Kopf beiseite zu packen, lässt sich eine Show voll kluger Ideen, die sogar eines der größten Probleme von „Phantom“ in der heutigen Zeit angeht, in einer umwerfend guten Besetzung erleben.
Als „The Phantom of the Opera“ 1986 seine Uraufführung im Londoner West End feierte, war es sehr opernhaft inszeniert. Seither hat sich an der Lesart der Show in den meisten Inszenierungen nur wenig geändert. Mit einem heutigen Blick wirkt die Originalinszenierung in all ihrer zweifellos großartigen Ausstattung in der Figurenführung mittlerweile relativ steif und statisch. Schlimmer noch, die Rolle der Christine Daaé erfährt im Original relativ wenig Entwicklung: Sie ist das „Objekt“, um das die beiden Männer streiten und durchläuft die Geschichte mit einer Passivität, die heute kaum mehr glaubwürdig scheint. Dieses Problem scheinen auch Laurence Connor, der die neue Fassung entwickelte, und Seth Sklar-Heyn, der sie für Wien nochmals überarbeitete, erkannt zu haben. Bei ihnen nimmt Christine spätestens dann, wenn ihr Geliebter Raoul im unterirdischen Versteck des Phantoms am indischen Lasso hängt, ihr und Raouls Schicksal in die Hand und kämpft um ihr Leben! Voll Wut nimmt sie die Notenblätter des Phantoms von der Orgel, zerknüllt diese und wirft sie beinahe angewidert auf den Boden. Wenn sie – nachdem das Phantom beide freigelassen hat – nochmals zurückkommt, legt sie den Ring des Phantoms auf einen Tisch – der Blick der beiden trifft sich jetzt überhaupt nicht mehr.
Nicht nur der Charakter der Christine hat eine Wandlung erfahren. Der Regie ist es gelungen, allen Figuren mehr Dreidimensionalität zu geben und damit die bisher sehr opernhafte Inszenierung in ein modernes Musical zu übertragen. Einen entscheidenden Beitrag dazu liefert natürlich die Cast. Bis in die kleinsten Rollen wirkt diese handverlesen. Angefangen von den kleinen Rollen wie die des Monsieur Reyer, des Maestros der Pariser Oper, dem Timo Verse mit seiner herrlich schrägen Art einen eigen Stempel aufdrückt bis hin zu den beiden Direktoren Andrè (Rob Pelzer) und Firmin (Thomas Sigwald), die jetzt noch menschlicher wirken. Während der dauerhaft schlecht gelaunte Firmin jeder Kunst so gar nichts abgewinnen kann, hat Andrè im Zusammenspiel mit Carlotta enorm komische Momente, wenn er beispielsweise ihren Schal nicht mehr loslassen möchte, Carlotta aber heftig daran zieht und ihn damit beinahe über die Bühne schleift. Als Carlotta darf Milica Jovanovic die Diva raushängen lassen. Dies tut sie mit erkennbarer Leidenschaft und gewohnt klarem und beeindruckenden Sopran. Greg Castiglioni ist Ubaldo Piangi, der mit seiner unbeholfenen Art die Texte der Opern zu singen Monsieur Reyer in den Wahnsinn treibt und dabei viele Lacher absahnt.
Roy Goldman in der Rolle des Raoul entwickelt seine Rolle vom anfänglich etwas überheblich wirkenden Aristokraten zum bis über beide Ohren verliebten und besorgten Beschützer Christines überzeugend. Mit seiner einschmeichelnd warmen Stimme harmoniert er perfekt mit Lisanne Clémence Veeneman, die als Christine Daaé ihr Debüt in Wien gibt. Schauspielerisch vermag sie ihren Charakter komplett glaubhaft auf die Bühne zu bringen. Stimmlich reiht sie sich völlig mühelos in die großen Christine-Darstellerinnen wie Sarah Brightman oder Sierra Boggess ein.
Die Titelrolle der Wiener Inszenierung ging – auf den ersten Blick überraschend – an Anton Zetterholm, der sich als größte positive Überraschung des Abends herausstellt. Sein Phantom ist völlig unberechenbar und schwankt permanent zwischen Wahnsinn und Größenwahn. Wie ein Besessener zuckt ständig ein Mundwinkel oder er zieht eine Schulter nach oben. Besonders in der Schlussszene, in der das Phantom in tiefes Selbstmitleid versinkt, hat Zetterholm schauspielerisch große Momente, wenn er Christines Namen immer und immer wieder vor sich hin schluchzt und seine Stimme sich dabei geradezu überschlägt. Seine „Musik der Dunkelheit“ erhält am Premierenabend lang anhaltenden Szenenapplaus.
Patricia Nessy ist eine gewohnt strenge Madame Giry, darf jetzt aber vor allem in der Szene in der sie Raoul erzählt, wie sie das Phantom einst auf einem Jahrmarkt kennengelernt hat, auch mehr Emotionen zeigen. Unterstützt wird dies durch den simplen, aber schönen Regie-Einfall, dass ihre Geschichte in einem Schattenspiel auf die Bühnenwand projiziert wird. Laura May Croucher gibt eine sympathische Meg, deren Stimme ebenfalls sehr gut mit Lisanne Clémence Veeneman harmoniert.
Eine behutsame Überarbeitung erfuhren auch die deutschen Texte, die in der Neufassung an vielen Stellen bedeutend flüssiger und moderner klingen, ohne dass sie nicht mehr zur Handlungszeit passen. Statt „Kreuze, Moos und Friedhofsengel, steinern, stumm und schmerzlich, wie bist du hier hergeraten? Du warst weich und herzlich“ singt Christine jetzt „Tausend Tage stummer Klage, Echo ferner Lieder. Tausend Tage mit der Frage: Seh’n wir uns je wieder?“
Die schwierige Aufgabe eines neuen Bühnenbilds übernahm für die der Wiener Fassung zugrundeliegende Inszenierung Paul Brown, dem es gelang eine Bühne zu erschaffen, die das Originalbühnenbild von Maria Björnson zitiert und weiterdenkt. Die Arbeit Browns, der 2017 verstarb, führt jetzt für die Wiener Version David Harris fort. Viele der in der Urfassung nur durch wenige Requisiten angedeutete Spielorte – beispielsweise das Büro der beiden Operndirektoren – sind jetzt realistische Orte.
Zentrales Bühnenelement ist eine sich in die Bühnenmitte hineinwölbende, halbrunde Wand, die sich in einige Szenen wie aufgebrochen öffnet oder aufgeklappt wird und so den Blick auf neue Spielorte freigibt. Mit diesem Element wird auch der Abstieg des Phantoms und Christine in die Katakomben gelöst, indem nach und nach Stufen aus der Wand ausgefahren werden, auf denen die beiden dann nach unten steigen. Ein besonders schöner – und schreckhafter – Moment ergibt sich dann, wenn Raoul ebenfalls in das unterirdische Labyrinth hinuntersteigen will und beinahe übersieht, dass die Stufen auf halber Höhe enden. Ist er dann unten angelangt, verschwinden die Stufen wie durch Zauberhand wieder und Raoul erkennt, dass es keinen Weg mehr zurück gibt und er ebenso wie Christine ein Gefangener des Phantoms ist. Zwar kann die Neuinszenierung nicht mehr mit denen aus dem Boden auffahrenden Kerzen während der Bootsfahrt über den See aufwarten, dennoch fehlen sie in der neuen Optik des „Phantoms“ nicht.
Die meisten der Kostümentwürfe Maria Björnsons wurden für die Wiener Neuinszenierung übernommen. Deutliche Änderungen gibt es nur beim Maskenball, auf dem die Gäste jetzt deutlich dezentere Kostüme tragen und auch das Phantom nicht mehr als „Der Rote Tod“ aus der Erzählung Edgar Allen Poes erscheint, sondern in einem schlichteren roten Kostüm und einer goldenen Maske. Der Maskenball selbst findet jetzt auch nicht mehr auf der Treppe des Foyers der Pariser Oper statt, sondern in einem Säulen-Saal, der sich – nachdem das Phantom den Entwurf seiner Oper an die Direktoren überreicht hat und mit viel Feuer verschwindet – in ein schauriges, eiskaltes Spiegelkabinett verwandelt.
Ein Pfund, mit dem die Vereinigten Bühnen Wien in jeder ihrer Produktionen wuchern können, ist natürlich das enorm große und immer auf den Punkt aufspielende Orchester. Die großen, romantischen Melodien Lloyd Webbers sind bei den knapp dreißig Musikern unter der Leitung von Carsten Paap bestens aufgehoben. Auch der Sound ist in der richtigen Balance, so dass alle Texte gut verständlich über die Rampe kommen.
Mit dieser Inszenierung machen die Vereinigten Bühnen alles richtig. Der Star dieses Phantoms ist nicht mehr ein herabstürzender Kronleuchter, sondern eine Cast und eine Orchesterbesetzung, die sich sehen und hören lassen können. Der Sturm auf die Tickets verspricht jedenfalls eine erfolgreiche Spielzeit, denn bereits vor der Premiere wurde der Vorverkauf für die zweite Saison eröffnet und sogar die für die Wiener Musicals übliche Sommerpause bis Mitte Juli verschoben.
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