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„Tradition!“ hallt es gleich zu Beginn durch die Theaterfabrik Blaue Halle in Würzburg. Doch schon in den ersten Minuten dieser Inszenierung wird dem Zuschauer klar, dass er hier wohl kaum Zeuge einer traditionellen Vorstellung von „Anatevka“ werden wird. Tomo Sugao holt in seiner Regie die über 100 Jahre alte Geschichte des Milchmanns Tevje in die Gegenwart und stellt damit erschreckende Zeitbezüge her. Angefangen beim perfekt ausgesteuerten Klang des großen Orchesters und Ensembles, dem stimmungsvollen Bühnenbild und nicht zuletzt einem Hauptdarsteller, der völlig mit seiner Rolle eins wird, bietet das Mainfrankentheater Würzburg eine Neuinterpretation des Broadway-Klassikers, die wohl weit und breit ihresgleichen suchen dürfte.
Gleich in der ersten Szene wird man Zeuge von dem, was Operndirektor Berthold Warnecke im Vorgespräch zur Premiere angekündigt hat. Nämlich „eine Inszenierung, die riesig sein wird“. So riesig, dass er schon besorgt war, dass nicht alles in die – im Gegensatz zum Mainfrankentheater – kleine Theaterfabrik Blaue Halle passen würde. Das Ensemble in der Eröffnungsnummer „Tradition!“ ist tatsächlich riesig. Bemerkenswert ist, dass trotz der gewaltigen Anzahl an Stimmen jedes Wort klar und verständlich zu hören ist. Dies setzt sich die gesamte Vorstellung über durch. Die Tontechnik hat hier saubere Arbeit geleistet, was in einer zu einem Theatersaal umgebauten Fabrikhalle nicht unbedingt zu erwarten ist.
Der Ort der Handlung ist ein kleines jüdisches Schtetl namens Anatevka in der heutigen Ukraine zur Zeit des Russischen Zarenreichs. Dort wird die Geschichte des arme Milchmann Tevjes, seiner Frau Golde und seinen Töchtern erzählt, die sich bei der Wahl ihres jeweiligen Ehemanns nicht an die alte jüdische Tradition halten, dass der Vater den Bräutigam aussucht, sondern durchaus ihre eigenen Vorstellungen durchsetzen. Bei der Hochzeit seiner ersten Tochter kommt es dann aber zu einem ersten Pogrom durch Soldaten des russischen Kaisers. Die Würzburger Inszenierung versetzt durch Bühnenbild und Kostüme die Geschichte in die Gegenwart und stellt damit einen deutlichen Zusammenhang zur aktuellen Situation in der Ukraine her. Milchmann Tevje hat – nicht wie im Originalbuch – ein Pferd und eine Kutsche, um seine Lieferungen auszufahren, sondern ein altes knatterndes Motorrad, dass er über die Bühne schiebt. Die Bevölkerung Anatevkas trägt – mit wenigen Ausnahmen, wie zum Beispiel des Rabbis – typische Alltagskleidung, jedoch nicht ohne den jüdischen Hintergrund der Show zu vergessen.
Das Bühnenbild ist ein Dorfplatz, der durch eine gemalte Projektion einer Häuserfront an der Bühnenrückseite angedeutet ist. An der rechten Ecke befindet sich ein Gebäude, durch dessen große Schaufenster das Publikum einen Blick aufs Innere werfen kann. Wenn die Szene nach innen wechselt, kann die Fensterfront wie ein Pop-Up-Bilderbuch aufgeklappt werden und führt das Publikum so in den Raum, der mal Wohnung von Tevje und seiner Familie und mal Kneipe ist. Ein besonders schöner Effekt gelingt hierbei auch gleich zu Beginn der Show: Wenn Tevje aus der Szene heraustritt und wie ein Erzähler in die Handlung einführt und sich danach das Bühnenbild vom Dorfplatz ins Innere des Hauses aufklappt, wird das Publikum quasi in die Handlung hineingezogen. Im Verlauf der Show wird die komplette Konstruktion auch noch gedreht und dient so als Kulisse verschiedener kleinerer Handlungsorte wie dem Bahnhof von Anatevka oder dem Schlafzimmer Tevjes und seiner Frau Golde. Die benötigen Requisiten werden vom Ensemble auf die Bühne mitgebracht. Zusammen mit den Projektionen und einer sehr stimmungsvollen Lichtregie entsteht durch das Auf- und Zuklappen sowie das Drehen der gesamten Konstruktion eine sehr dynamische und sehr flüssige Produktion, die auch mit einer Spielzeit von über drei Stunden an keiner Stelle langatmig wird. Lediglich die sehr lauten Zu- und Abgänge auf die Bühne wirken manchmal etwas störend. Diese sind allerdings vermutlich der Bühnenbodenkonstruktion der Interims-Spielstätte geschuldet und lassen sich nur schwer vermeiden.
Besetzt ist „Anatevka“ in Würzburg überwiegend mit dem dort festen Ensemble. Das funktioniert in den allermeisten Fällen wunderbar. Besonders hervorzuheben sind hier Barbara Schöller, die eine herrlich schrullige – und beinahe schon aus der Fernsehserie „The Nanny“ entliehen wirkende – Heiratsvermittlerin Jente gibt. Immer auf ihr Geschäft bedacht, lässt sie ihre Kundin Golde, für deren älteste Tochter sie auf der Suche nach einem Ehemann ist, beinahe nicht zu Wort kommen und gibt sich ihre Antworten auch mal rasend schnell selbst. Bei der Hochzeit jener Tochter mit einem Mann, der nicht von Jente ausgesucht wurde, sitzt sie schon beinahe angewidert am Rande der Hochzeitsgesellschaft. Erst als es zum Streit zwischen Tevje und dem von Jente vorgesehenen, aber von der Tochter verschmähten Heiratskandidaten kommt, beobachtet sie die Szene mit diebischer Freude. Das auch die kleineren Rollen des Stücks eine dreidimensionale Charakterisierung erhalten haben, ist einer der Punkte, die die gesamte Inszenierung so besonders macht und die Regie Tomo Sugaos auszeichnet.
Der Schneider Mottel Kamzoil, den sich die älteste Tochter Zeitel als Ehemann wählt, ist quasi das komplette Gegenbild zum stattlichen und vor allem wohlhabenden Metzger Lazar Wolf, den Tevje – oder vielmehr die Heiratsvermittlerin – eigentlich als Ehemann für seine Tochter ausgewählt hat. Mathew Habib ist ein herrlich trotteliger Mottel. Nicht nur mit seinem einschmeichelnden Bariton, sondern auch mit seinem komödiantischen und beinahe schon akrobatischen Schauspieltalent lässt er mühelos nachvollziehen, warum sich Zeitel ausgerechnet für ihn entscheidet.
Silke Evers als Tevjes resolute Ehefrau Golde singt ihren Part mit glockenhellem Sopran. In ihrem Duett mit Tevje „Ist es Liebe?“ wandelt sie sich von der stets funktionierenden, nicht über Gefühle nachdenkenden Ehefrau hin zur liebevollen Partnerin, die ihrem Tevje nach anfänglicher Weigerung ebenfalls ihre Liebe gesteht, obwohl sie vor vielen Jahren den alten Traditionen folgend füreinander ausgesucht wurden.
Jörg Sabrowski, der erst im Verlauf der Probenzeit für den erkrankten Kosma Ranuer zur Produktion dazugekommen ist, ist Tevje in Perfektion. Er beherrscht sowohl die dramatischen als auch die witzigen Momente der Show. Wenn die Szene auf der Bühne plötzlich einfriert und er seine Monologe mit Gott hält oder darüber nachdenkt, was wohl die richtige Entscheidung in Bezug auf die Wahl der künftigen Schwiegersöhne sei, vermag er es, den 60 Jahre alten und manchmal nicht mehr ganz überzeugenden Wortwitz der Show dennoch über die Bühne zu bringen. Anfänglich noch in den alten Traditionen verhaftet, gibt er diese nach und nach auf und kommt zu dem Schluss, dass es wichtiger für seine Töchter sei, eine glückliche Ehe zu führen als eine, die auf Sicherheit und Traditionen aufgebaut ist. Erst als seine dritte Tochter Chava einen russischen Soldaten als Ehemann auswählt, kann er dies nicht akzeptieren und wendet sich von ihr ab. Jörg Sabrowskis Zerrissenheit ist bis in den Publikumsraum hinein spürbar und lässt sich kaum aushalten. Nach seinem „Kleiner Spatz, kleine Chavaleh“ in dem er seinen Schmerz verarbeitet, bleibt kaum ein Auge trocken.
Zum Ensemble auf der Bühne gehört auch die Tanzkompanie des Mainfrankentheaters Würzburg. Yo Nakamuro hat für sie in den Tanzszenen sehr fantasievolle Choreographien entwickelt, die jüdische Rituale mit modernen Tänzen verbinden. Diese sind geschickt in die Inszenierung eingebunden, was auch daran liegt, dass das Gesangs- und Komparsenensemble überraschend tanztalentiert daherkommt.
Nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Orchestergraben wartet „Anatevka“ in Würzburg mit Quantität und Qualität auf. In einem Moment spielt das Orchester wuchtig aufbrausend und im nächsten schwebt nur die Geige, die dem Stück den Untertitel „Fiedler auf dem Dach“ verleiht, leise über der Szene. Das über dreißig Köpfe zählende Philharmonische Orchester Würzburg unter der Leitung von Carlo Benedetto Cimento lässt die Musik von Jerry Bock erstrahlen, die den Broadway-Sound der Sechziger Jahre mit jüdischer Klezmer-Musik verbindet. Die Abmischung zwischen Gesang und Orchester und auch der einzelnen Orchesterstimmen ist sehr ausgewogen und gut gelungen.
Die Handlung „Anatevkas“ erlebt einen dramatischen Bruch, wenn sich der Fokus vom ruhigen Leben im Schtetl hin zu den immer häufiger werdenden, vom russischen Kaiser befohlenen Pogromen hin verschiebt. Zum Ende des Stückes müssen alle Einwohner ihr Schtetl verlassen und werden in alle Himmelsrichtungen verstreut. Während sich die Menschen voneinander verabschieden und ihrer neuen, ungewissen Zukunft entgegengehen, werden auf dem Bühnenhintergrund Filmaufnahmen der Juden-Pogrome Anfang des 19. Jahrhunderts gezeigt, die in aktuelle Farbfilm-Aufnahmen der letzten Monate übergehen und Ukrainer zeigen, die heute wieder ihre Heimat verlieren und vor einer russischen Übermacht fliehen müssen. Tomo Sugao sagt in einem Interview dazu, dass es genau diese Bilder sind, die der Geschichte „Anatevkas“ Aktualität und tieferen Sinn geben und das Stück deswegen gespielt werden müsse: „Jetzt! Unbedingt!“
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KREATIVTEAM |
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Musikalische Leitung | Carlo Benedetto Cimento |
Inszenierung | Tomo Sugao |
Bühnenbild | Momme Hinrichs |
Kostümbild | Gisa Kuhn |
Choreografie | Yo Nakamura |
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CAST (AKTUELL) |
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Tevje, der Milchmann | Jörg Sabrowski Wilfried Staber | |||
Golde, seine Frau | Silke Evers | |||
Zeitel, seine Tochter | Marzia Marzoitel Vero Miller | |||
Hodel, seine Tochter | Akiho Tsujii | |||
Chava, seine Tochter | Martina Dähne | |||
Jente, Heiratsvermittlerin | Barbara Schöller | |||
Mottel, der Schneider | Mathew Habib | |||
Schandel, seine Mutter | Natalia Boldyrieva | |||
Perchik, ein Student | Hinrich Horn | |||
Lazar Wolf, der Fleischer | Herbert Brand | |||
Motschach, der Gastwirt | Kenneth Beal | |||
Der Rabbi | Chul Hwan Yun | |||
Mendel, sein Sohn | Taiyu Uchiyama | |||
Awram, der Buchhändler | Jakob Mack | |||
Nachum, der Bettler | Paul Henrik Schulte | |||
Oma Zeitel, Goldes Großmutter | Monika Eckhoff | |||
Fruma-Sarah, Lazar Wolfs erste Frau | Hiroe Ito | |||
Jussel, der Hutmacher | David Hieronimi | |||
Der Wachtmeister | Daniel Fiolka | |||
Ein Russe | Yong Bae Shin | |||
Fedja, ein junger Russe | Florian Innerebner | |||
Sascha, Fedjas Freund | Gustavo Müller | |||
Philharmonisches Orchester Würzburg | ||||
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Opernchor des Mainfranken Theaters Würzburg | ||||
Tanzcompagnie des Mainfranken Theaters Würzburg |
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GALERIE |
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TERMINE |
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keine aktuellen Termine |
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TERMINE (HISTORY) |
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Sa, 26.11.2022 19:30 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | Premiere | |||||||
Mi, 30.11.2022 19:30 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
Di, 06.12.2022 19:30 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
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Fr, 23.12.2022 19:30 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
So, 25.12.2022 18:00 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
Sa, 31.12.2022 19:00 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
So, 15.01.2023 18:00 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
Do, 02.02.2023 19:30 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
So, 12.02.2023 18:00 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
Fr, 17.02.2023 19:30 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
So, 19.02.2023 18:00 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
Fr, 03.03.2023 19:30 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
So, 12.03.2023 18:00 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
Sa, 08.04.2023 19:30 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
Di, 25.04.2023 19:30 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
Mi, 31.05.2023 19:30 | Theaterfabrik Blaue Halle, Würzburg | ||||||||
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