Eine intime Geschichte im Social Distancing inszenieren – kann das gelingen? Während Corona den Kulturbetrieb an den meisten Orten nahezu zum Erliegen gebracht hat, wagt sich das Musicalensemble um Musicaldirektor Craig Simmons auf die Straße oder genauer gesagt: direkt vor die Autos.
Auch Simmons Abschiedsinszenierung als Musicaldirektor des TfN „RENT“ hat es nicht mehr zur Premiere im April auf die große Bühne geschafft. Frei nach dem Musical-Motto „Leb‘ jetzt und hier!“ haben die Verantwortlichen des TfN die Chance in der Situation gesucht und gefunden: „RENT“ zieht als konzertante OpenAir-Version mit 10 Darstellern und 5 Musikern ins neugeschaffene Autokino Hildesheim. Gespielt wird an 5 Terminen ab dem 29.05.2020.
Ein Musical im Auto hat auf jeden Fall etwas Besonderes. Es gibt deutlich mehr Beinfreiheit als im Theater und die Sitze sind allgemein bequemer. Die Parkplatzsuche entfällt, denn das Auto schaut einfach mit. Die Musik kommt in beliebiger Lautstärke aus dem Autoradio, lauthals mitsingen ist kein Problem und auch ein Glas Sekt oder ein Saft während der Aufführung werden so möglich. Applaus wird mit der Lichthupe gespendet. In besonders traurigen Szenen darf der Scheibenwischer die (Wasser-)tränen auf der Windschutzscheibe trocknen. Zwei Autos weiter schweben bunte Heliumballons über dem Auto.
Dennoch stellt der Musicalbesuch mit dem Auto auch eine Umstellung dar. Die Distanz zur nur 2 Meter hohen Bühne wirkt riesig. Die erste Autoreihe steht ca. 30 Meter von der Bühne entfernt. Es gibt keine freie Platzwahl. Teilt der Platzanweiser in die zweite Autoreihe ein, bleibt zum Blick auf die Schauspieler nur der Spalt zwischen den beiden Autos in der Reihe davor – oder auf die höher hängende LED-Leinwand, die das Bild von zwei Live-Kameras gemischt wird. Der Ton aus dem Autoradio ist nur in rockigen Passagen super. In leisen Passagen oder Monologen mischt sich immer ein Rauschen in die Boxen.
Die Darsteller sind mit voller Energie dabei. Besonders Sandra Pangel (Mimi) und Nico Went (Angel) merkt man den Hunger nach der Bühne und Live-Publikum an. Pangels Solo „Raus heut Nacht“ wirkt wie ein Befreiungsschlag und wird mit viel Lichthupen-Applaus bedacht. Aus den Fensterschlitzen des Heliumballon-Autos schauen übergroße bunte Klatschehände aus Papier heraus.
Das Kostümbild ist stimmig, Angels rotes Glitzerkleid ein echter Hingucker. Und auch wenn sich Choreographien an den meisten Stellen nur erahnen lassen – auch hier herrscht ein Sicherheitsabstand zwischen allen Darstellern – lässt sich ein Eindruck verschaffen, was Craig Simmons und sein Team in Hildesheim auf die Theaterbühne zaubern wollten. Wenn neben Schauspiel, Musik und Kostüm auch ein Bühnenbild sowie die Haustechnik des Theaters genutzt und alle Szenen hätten ausgespielt werden können, wäre „RENT“ sicherlich ein neues Highlight in der Musicalgeschichte des TfN geworden.
Es braucht etwas Gewöhnungszeit, bis die Glasscheibe zwischen Darstellern und Publikum gedanklich verschwindet. Die Atmosphäre eines Theatersaals kann bei strahlendem Sonnenschein und der großen Entfernung zur Bühne nur schwer aufkommen. Es fehlt das Getuschel und Räuspern der Menschen, ein feiner Luftzug mit Duftnoten der Mitschauer und das direkte Spiel mit dem Publikum. Doch spätestens wenn Johannes Osenberg (in Vertretung für Alexander Prosek) die Einleitung zu „Mit Liebe bedeck ich Dich“ beginnt, braucht es mehr als Scheibenwischer. Dieser Moment geht unter die Haut.
„RENT“ unter freiem Himmel aber unter dem eigenen Autodach ist ein Experiment in wirren Zeiten. Es ist ein Experiment das gelingt. Bei aller Skepsis und Gewöhnungszeit zu Beginn der Aufführung stellt sich zum Ende hin ein wohliges Theatergefühl ein, gepaart mit Dankbarkeit für energiegeladene Live-Kultur in Corona-matten Kulturzeiten. Vielen Dank und bitte mehr davon.
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