Die Goodmans wirken nur auf den ersten Blick wie eine ganz normale Familie. Sehr schnell wird klar, dass die psychische Erkrankung der Mutter das Familienleben bestimmt und die Beziehungen der Personen beeinflusst. Das Musical von Tom Kitt und Brian Yorkey lief 2009-11 in über 750 Vostellungen am Broadway, wurde mit drei Tony Awards und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und erobert seitdem die Regionaltheater.
Die New York Times schrieb einst, „Next to Normal“ ist kein „Feel-Good-Musical“, viel mehr sei es ein „Feel-Everything-Musical“. Und besser kann man „Fast normal (Next to Normal)“ auch in Hildesheim nicht beschreiben. Eine Gefühlsachterbahn mit rührenden, abstoßenden, mitleiderweckenden und zum Mitfiebern anregenden Momenten steht am TfN bereit. Die Hildesheimer Produktion zielt tief in die Seele der Zuschauer und vermag einige Zeit dort zu verweilen. Sie lässt nicht los. Und genau darum geht es: um das Loslassen und Seelenheil einer ganzen Familie.
Regisseur Craig Simmons inszeniert die Geschichte rund um die bipolare Störung der Diana Goodmann. Mit klarem Fokus auf Gefühle, Ängste und Sehnsüchte der Figuren schafft er ein intensives Musicalerlebnis, das zum Nachdenken anregt und mit Klischees aufzuräumen versucht. Es ist damit viel mehr als reine Unterhaltung. Simmons bietet Gelegenheit zur Identifikation mit den Protagonisten um Sekunden später deren Unzulänglichkeiten in den Blick zu rücken. Dazu verzichtet er überwiegend auf ausladende Gesten, seine Arbeit besticht durch eine ausgezeichnete Detailarbeit in Mimik und Körpersprache.
Das durchdachte Bühnenbild von Steffen Lebjedzinski bildet die Grundlage für spannende Szenencollagen und -wechsel. Verschiedene geometrische Formen und Treppen auf einer Drehbühne lassen im Handumdrehen immer wieder neue Spielorte entstehen. Die Ausstattung bleibt schlicht und lässt viel Platz für eigene Interpretationen und Projektion. Das Lichtdesign greift diesen Trend auf. Mit wenigen klaren Farben und gezielten Spots nimmt es die Zuschauer an die Hand, lenkt seinen Fokus gezielt durch sich abwechselnde Szenenfragmente. Außen- und Innensicht wechseln in Sekundenschnelle. Eine variable Lichtfläche im Hintergrund der Bühne verdeutlicht den Wechsel der Gefühlswelten von Diana Goodmann auf weiterer Ebene.
„Next to Normal“ arbeitet mit wenigen Darstellern, es spielen gerade einmal sechs Personen auf der Bühne. So haben die Zuschauer Zeit und Gelegenheit, jeden einzelnen Charakter genauer zu betrachten und das lohnt sich. Caroline Kiesewetter bereichert als Gastverpflichtung die hiesige Musical-Company und beeindruckt mit ihrem klaren und sehr differenzierten Spiel zwischen Manie und Depression. Ihre Interpretation der Diana ist kraftvoll und verletzlich zugleich. Sie zeigt eine starke Frau, die nur „fast normal“ ist und sich dessen mehr und mehr bewusst wird. Dabei lädt sie auch zum Schmunzeln ein, gibt Anlass zum Träumen und Trauern. Man möchte sie zeitweise in den Arm nehmen und trösten; Sekunden später stellt sich die Frage, weshalb ihre Familie es überhaupt so lange mit ihr aushalten konnte. Scheinbar unzertrennlich mit ihr verbunden brilliert Jonas Hein als Gabe. Zunächst zurückhaltend freundlich lebt er im Laufe der Handlung die Zwanghaftigkeit seiner Figur hochkonzentriert bis hin zur Diabolie aus. Dabei setzt er seine starke Bühnenpräsenz zielgerichtet ein. Mit bemerkenswerter Sportlichkeit und dennoch stabiler Stimme haucht er Gabe zunehmend mehr Wahnsinn ein. Dennoch lässt er in seiner Interpretation auch die Angst seiner Figur vor dem Vergessen werden nicht zu kurz kommen.
Auch die übrigen Darsteller in Hildesheim überzeugen in zum Teil ungeahnter Besetzung. Caroline Zins überrascht als hochbegabte und dennoch von der Mutter vernachlässigte Tochter Natalie mit ihrer Rebellion gegen das Elternhaus, immer an Ihrer Seite steht optimistisch und kindlich zugleich Tim Müller als ihr Freund Henry. Jens Plewinksi glänzt als reifer, unnahbarer und doch sorgender Arzt (Dr.Fine/Dr.Madden). Und auch Alexander Prosek als hoffenden, kämpfenden und sich aufopfernder Vater Dan ist hervorragend besetzt, spielt stark und zerbrechlich zugleich. Wer Prosek aus früheren Produktionen kennt, in denen er eher komödiantische und stark überspitzte Figuren bediente, muss sich an die neue Charakterrolle allerdings vielleicht erst gewöhnen.
Die sechsköpfige Liveband rund um Andreas Unsicker spielt wie erwartet und gewohnt klar und präzise. Die Arrangements sind üppig, rockig und gut eingezählt. Lediglich die Tonmischung ist auch an diesem Abend am TfN nicht optimal. Mehrmals sind Stimmen zu basslastig oder zu leise und (wichtige) Textpassagen damit schwer zu verstehen. Da „Next to normal“ zu 90% durchkomponiert und an vielen Stellen im Satzgesang aufgebaut ist, entwickelt sich dieses Manko zu einem Ärgernis. Zum Glück bleibt es das einzige an diesem Abend und steht klar hinter der hervorragenden Leistung aller übrigen Mitwirkenden und Gewerke zurück.
„Fast normal“ ist und bleibt ein „Feel-Everything-Musical“, es spielt bewusst mit melancholischen und auch ironischen Elementen. Die deutschen Textübersetzungen von Titus Hoffmann regen trotz ernsten Hintergrunds immer wieder zum Schmunzeln an. Das TfN unterstützt den vergleichsweise schwer zugänglichen Stoff mit einer 20-minütigen Einführung vor den Aufführungen. Dramaturg Christof Wahlefeld erklärt hier die ersten Szenen des Stücks und beschreibt Hintergründe bipolarer Störungen. Mit dieser Vorbereitung ist „Fast normal“ deutlich mehr als ein „fast normales“ Stück am TfN. Es ist eine intensive Reise mit Erkenntnisgewinn, die ohne großes Ensemble und Orchester, ohne gepinseltes Bühnenbild, große Tanznummern oder unnötige Überdramatisierung auskommt. Sie verurteilt keine Rolle und wertet nicht, sondern gibt dem Zuschauer die Möglichkeit, den Lebens- und Leidensweg einer „fast normalen“ Familie mitzuerleben: mit ihnen zu lachen, zu weinen und dabei nicht nur von außen zu blicken, sondern auch in sie hinein.
Standing Ovations mit langanhaltender Applaus auch weit über das Einschalten des Saallichts hinaus runden den Abend mehr als verdient ab und zeigen, dass dem Hildesheimer Publikum und auch der Musical-Company mehr zugetraut werden darf als nur „Feel-Good-Musicals“.
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