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NEUES FEATURE
Ingos Fernsehsessel - "Moulin Rouge!"

Einmal pro Monat werde ich mich in meinen Fernsehsessel setzen und mir für euch einen Musicalfilm ansehen. Da werden bekannte Streifen dabei sein, aber auch Unbekanntes oder Vergessenes.

„The greatest thing you’ll ever learn, is just to love and be loved in return.“ Diese für Satine und Christian so wichtige Zeile aus dem Song „Nature Boy“ kann man als esoterischen Kalenderspruch abtun oder es wird einem dabei melancholisch warm ums Herz. Wer zur ersten Gruppe gehört, wird wahrscheinlich mit diesem Film wenig anfangen können. Hoffnungslose Romantiker stürzen sich hingegen mit Wonne in dieses Bildergewitter und erfreuen sich an Musikzitaten, popkulturellen Querverweisen und dem dick aufgetragenen Melodram. Ich gehöre zu Gruppe Zwei und genieße diesen Musical-Pomp in vollen Zügen. Dabei mag ich eigentlich keine Jukebox-Musicals. Was macht „Moulin Rouge!“ da anders?

Ich finde, man merkt den meisten Jukebox-Musicals an, wie Dialoge und Szenen unbedingt bestimmte Songs integrieren wollen und das wichtiger ist als eine logische, stringente Handlung. Nüchtern betrachtet haben Regisseur und Drehbuchautor Baz Luhrmann und sein Co-Verfasser Craig Pearce in ihrem Skript auch nichts anderes gemacht – vielleicht mit weniger offensichtlichem Biegen und Brechen und mit einer Songauswahl, bei der es mehr um den Inhalt und Voranbringen der Handlung geht als um das Mitsingpotenzial. Die im Grunde triviale Geschichte wurde von ihnen in ein ziemlich komplexes Drehbuch verpackt, dessen erste Schichten sie direkt am Anfang freilegen.

Schon der Einstieg macht klar, dass wir jetzt keine realistische Handlung zu sehen bekommen, sondern Fiktion; eine Geschichte in der Geschichte:

Vor einem sich öffnenden Kinovorhang dirigiert ein Mann mit ausladenden Gesten ein unsichtbares Orchester. In der Ouvertüre zur Titelsequenz erklingt erst die Twentieth-Century-Fox-Fanfare, dann folgen „The Hills Are Alive With the Sound of Music“, ein Ausschnitt aus einer sehr dramatischen Version von „Roxanne“ und sie endet mit dem fröhlichen „Cancan“ aus „Orpheus in der Unterwelt“. Eine flimmernde Schrifttafel in leicht sepiafarbenem Schwarz-Weiß verortet uns: „Paris, 1900“. Dieser Stummfilm-Look wird erstmal beibehalten. Ein Mann in einem Pierrot-Kostüm sieht aus einer Dachluke heraus, hinter ihm drehen sich die Windmühlenflügel des Moulin Rouge, und singt über die Dächer von Paris hinweg das wehmütige „Nature Boy“. Daneben sehen wir ein Gebäude mit dem Schriftzug „L‘amour“, dann wird passend zu dem Jungen im Liedtext das Bild eines lächelnden Mannes eingeblendet. Anschließend fliegt die Kamera aus der Totalen durch die Straßen ins Viertel Montmartre, durch ein Fenster in ein chaotisches Zimmer, wo sich der eben noch lächelnde junge Mann befindet, nun ziemlich heruntergekommen und todtraurig. Auf einer Schreibmaschine tippt er parallel zum Gesang im Off die Zeile „The greatest thing you’ll ever learn, is just to love and be loved in return“. Es ist Christian (Ewan McGregor), ein angehender Schriftsteller, der seine gerade erlebte tragische Liebesgeschichte in einen Roman verarbeitet. Diese Geschichte sehen wir nun als Rückblende:

Christian schließt sich einer ziemlich verrückten Künstlertruppe, angeführt von Henri de Toulouse-Lautrec (John Leguizamo), an. Sie wollen ein Stück mit dem Titel „Spectacular Spectacular“ schreiben und am liebsten im Moulin Rouge auf die Bühne bringen. Christian soll deshalb mit Satine (Nicole Kidman), dem Star der dortigen Show, Kontakt aufnehmen, die wiederum den Chef des Nachtclubs Harold Zidler (Jim Broadbent) von dem Stück überzeugen soll. Zidler und Satine erwarten jedoch an diesem Abend den Herzog von Monroth (Richard Roxburgh), der den Umbau des Nachtclubs in ein Theater finanzieren soll. Dafür darf er mit Satine schlafen. Christian wird mit dem Herzog verwechselt und findet sich unverhofft in Satines Schlafzimmer wieder. Der Irrtum wird aufgeklärt, doch da hat es zwischen den beiden schon gewaltig gefunkt. Als plötzlich der Herzog vor der Tür steht, gaukeln ihm Christian und Satine sowie die Künstlertruppe und Zidler, die die Vorgänge in Satines Boudoir heimlich beobachtet haben, eine Probe von „Spectacular Spectacular“ vor. Sie improvisieren eine Geschichte um eine schöne indische Kurtisane, einen armen Sitarspieler und einen bösen Maharadscha. Der Herzog will investieren, verlangt aber, dass Satine und das Moulin Rouge dann ihm gehören.

Die dritte Handlungsebene entwickelt sich dann im „Stück im Stück“, denn die Handlung von „Spectacular Spectacular“ entspricht der Dreiecksgeschichte zwischen Satine, Christian und dem Herzog. Was nur wenige Eingeweihte wissen: Satine ist todkrank und hat nicht mehr lange zu leben.

Luhrmann und Pearce haben also eine ziemlich verwickelte Geschichte zurechtgezimmert, bei der sie sich großzügig bei klassischen Vorlagen bedient haben. Das Künstler-Umfeld und das Motiv des jungen Schriftstellers, der sich in eine Todkranke verliebt, stammen aus der Oper „La Bohème“; die schwindsüchtige Kurtisane, die auf echte Liebe trifft, basiert auf „La Traviata“ und den literarischen Vorlagen der beiden Werke.

Nicht ganz so offensichtlich – aber für Regisseur Baz Luhrmann von großer Bedeutung – ist auch der Orpheus-Mythos eingeflossen. Christian entspricht Orpheus, allerdings bringt er – laut Luhrmann – die Steine nicht wie in der Sage durch seinen Gesang zum Weinen, sondern durch seine Dichtkunst. Das Moulin Rouge ist die Unterwelt, in die er hinabsteigt und versucht, seine große Liebe an die „Oberwelt“ zurückzubringen. Passenderweise stammt der berühmteste Cancan der Musikgeschichte aus Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“, der natürlich entsprechend als Tanz benutzt wird und auch die Melodie zum Song „Spectacular Spectacular“ beisteuert

Es ist eben dieser Hintersinn bei der Musikauswahl, die für mich „Moulin Rouge!“ über das Gros der Jukebox-Musicals hebt. Zum Beispiel „Nature Boy“, ein Song, der 1948 ein großer Hit für Nat King Cole war und danach von diversen Jazzgrößen gecovert wurde. Komponiert hat ihn eden ahbez. Er pflegte einen alternativen Lebensstil und war Wegbereiter der Hippie-Bewegung. Das passt zu der Künstlergruppe um Toulouse-Lautrec, während der Text inhaltlich auf den unschuldigen, naiven, „natürlichen“ Christian passt. Oder das doppeldeutige „The Show Must Go On“, das einerseits vom Moulin-Rouge-Chef Harold Zidler gesungen wird und sich auf die Show im Theater und Satines „Show“ für den Herzog bezieht, den sie als Finanzier bei der Stange halten muss. Andererseits stimmt auch die todgeweihte Satine mit ein, was an den Originalsänger und Autor des Songtextes Freddie Mercury denken lässt, der mit diesem Lied eine Art Abgesang auf sich selbst geschrieben hat.

Noch viel mehr bewundere ich aber die zusammengesetzten Songs. Verschiedene Lieder, manchmal auch nur Liedfetzen, werden zu einem sinnvollen, in sich geschlossenen Song verbunden. Da werden etwa bei „Zidler‘s Rap“ während Christians erstem Besuch im Nachtclub u.a. Textzeilen aus „Lady Marmalade“ mit dem Chor der Besucher gemixt, die „Here we are now, entertain us“ aus „Smells Like Teen Spirit“ schmettern. Aber die hohe Kunst des Songcocktails wird beim „Elephant Love Medley“ erreicht, bei dem zehn verschiedene Songs nicht nur einfach aneinandergereiht werden, sondern – ergänzt durch zusätzliche Textzeilen für Satine – ein Dialog entsponnen wird, bei dem sich Satine und Christian annähern, bis sie sich zu „We will be heroes for ever and ever“ gesanglich vereinen. Ganz nüchtern betrachtet war das eine Heidenarbeit, der ich höchsten Tribut zolle, denn seinerzeit konnte man bei der Suche nach passenden Songs ja noch nicht auf Streamingdienste zurückgreifen und sich durch womöglich infrage kommende Titel klicken.

Nur das Duett „Come What May“ ist ein neuer Song, der ursprünglich für Baz Luhrmanns Vorgängerfilm „William Shakespeare’s Romeo + Julia“ geschrieben und nicht verwendet wurde.

Es gibt noch so viel mehr in „Moulin Rouge!“ zu entdecken. Etwa die Verweise auf echte Persönlichkeiten, die mit dem Moulin Rouge verbunden waren – auch wenn sie im Drehbuch völlig andere Funktionen bekommen. Henri de Toulouse-Lautrec war kein Schauspieler, sondern ein Maler, der für das Etablissement Plakate entwarf, und Chocolat war kein hünenhafter Tänzer, sondern ein Clown und der erste erfolgreiche schwarze Entertainer Frankreichs.

Der Einstieg im Stummfilm-Look erinnert an die frühen Filme von Georges Méliès, die um die Jahrhundertwende entstanden. Eine weitere Méliès-Hommage ist der Vollmond mit dem menschlichen Gesicht – ein Zitat aus „La Voyage dans la Lune“ („Die Reise zum Mond“, 1902).

Atemberaubend auch die verschwenderische Ausstattung zwischen Art déco und Bollywoodkino und die vielen aufwendigen Kostüme.

John O‘Connell hat breitwandfüllende Massenchoreografien erarbeitet, aber sein Meisterstück ist für mich der fieberhafte, intime „Tango de Roxanne“, der durch mitreißende Parallelmontagen, in denen zwischen dem Song über eine Prostituierte und Satine mit dem Herzog hin und her geschnitten wird, einen wahren Sog entwickelt.

Christian ist die Identifikationsfigur für uns Zuschauer. Mit ihm tauchen wir in diese fremde, wilde Welt des ungezügelten Vergnügens im Hexenkessel Moulin Rouge. Wie auf ihn prasseln die Eindrücke bei seinem ersten Besuch dort auf uns ein und man weiß im Schnittgewitter aus tanzenden Beinen und verzerrten Gesichtern nicht, wo vorne und hinten ist. Ewan McGregor verkörpert den angehenden Dichter, der sich unschuldig mit großen Augen im „Mekka der Sünde“ fasziniert umsieht. McGregor platzt fast vor Emotion und bleibt dabei seltsamerweise glaubhaft. Sein Gesang scheint fast übertrieben, so sehr schmettert er seine Begeisterung oder Verzweiflung heraus.

Nicole Kidman kann ihre Rolle etwas subtiler anlegen. Sie wird oft in kaltes blaues Licht getaucht und wirkt zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe. Für mich war Kidman damals eine Frau, die in Filmen mitspielen durfte, weil sie von 1990 bis 2001 mit Tom Cruise verheiratet war, und ihre Filme haben mich nicht die Bohne interessiert. Nach „Moulin Rouge!“ musste ich meine Meinung ändern. Sie liefert eine ebenso tragische wie überdreht lustige Darstellung ab, für die sie ihre erste Oscar-Nominierung erhielt (mittlerweile sind es fünf, darunter ein Gewinn für „The Hours“) und in Hollywoods A-Liga aufstieg. Ihre Singstimme ist hell und leicht, würde wahrscheinlich unter Livebedingungen im Theater nicht bestehen, aber hier in den Studioaufnahmen bin ich sehr von ihr angetan. Kidman und McGregor haben eine gute Chemie und sind so überzeugend, dass man ihnen die melodramatische Handlung gern abkauft. Man geht ja schließlich auch ins Kino, um große Gefühle zu erleben.

Jim Broadbent als Harold Zidler ist mal durchtrieben, mal väterlich, mal fordernd, aber auch das ist eine starke darstellerische Leistung, ebenso wie Richard Roxburgh als gleichermaßen lüstern-verklemmter wie kalt-bösartiger Herzog. John Leguizamo liefert als kleinwüchsiger Toulouse-Lautrec eine gute Leistung ab. Um ihn so erscheinen zu lassen, musste beim Dreh ziemlicher Aufwand betrieben werden. Da frage ich mich, warum man nicht gleich einen entsprechenden Darsteller besetzt hat. Toulouse-Lautrecs Künstlerkumpels sind ausgesprochen gut gecastete kantige Typen, denen das Drehbuch leider nicht mehr als pure Anwesenheit zugesteht.

Ein Charakter aus der Truppe ist dann auch eine typische Jukebox-Musical-Figur: der Argentinier. Er ist eigentlich nur dabei, damit aus „Roxanne“ von Police ein heißblütiger Tango werden kann. Aber sein Darsteller Jacek Koman singt das mit einer einmaligen Reibeisenstimme und tanzt das mit einer solchen Präsenz – also, was soll’s.

Puccinis Oper „La Bohème“ stand nicht nur inhaltlich Pate. Regisseur Baz Luhrmann hatte damit 1990 am Sydney Opera House seinen ersten großen Regie-Erfolg. Es gibt davon auch einen Mitschnitt und ich war sehr überrascht, wie sehr diese Produktion „Moulin Rouge!“ schon vorwegnimmt. Im Bühnenbild gibt es sogar ein Haus mit dem „L‘amour“-Schriftzug – der auch in Luhrmanns „Romeo und Julia“-Verfilmung auftaucht. Luhrmann ist kein Regisseur für intime Kammerspiele. Er beherrscht zwar auch ruhige und berührende Momente und hat Sinn für kleine Details, aber eigentlich setzt er mehr auf Pomp und Überwältigung. Seine folgenden Filme „Australia“ (2008) und „The Great Gatsby“ (2013) sind aufwendige Hochglanz-Produktionen mit jeder Menge Schauwerten, aber die Seele, die „Moulin Rouge!“ so großartig macht, fehlt diesen Filmen.

Baz Luhrmanns pompöses Spektakel spielt mit schamlosem Spaß mit seiner Künstlichkeit und den dick aufgetragenen Emotionen. Und es reduziert sich letztlich doch alles auf den Satz: „The greatest thing you’ll ever learn, is just to love and be loved in return.“

 
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