Man kann die Verlage verstehen. Sie stecken viel Geld in die Entwicklung neuer Musicals. Wenn einzelne davon zu weltweiten Erfolgen werden, wollen sie nicht, dass andere Veranstalter, in diesem Fall Gerhartz, davon profitieren. Es gibt aber auch die andere Seite der Medaille. Tourveranstalter sind gerade in der Provinz auf bekannte Stoffe angewiesen. Wenn es diese auf dem Markt nicht gibt, heißt das im Zweifel: weniger Theater, weniger Publikum, weniger Jobs. Und: Vor lauter Angst, dass Andere etwas verdienen könnten, übertreiben es viele Verlage mit ihrer Wachsamkeit. Darunter leidet die Entwicklung der Kunstform Musical.
Beispiel eins: die Amateurszene. Ausschnitte aus bekannten Musicals nachzuspielen, ist für viele Amateurensembles sinnvoll. Schaden solche Aufführungen den Rechteinhabern? Bestimmt nicht. Niemand wird sich ein Musical nicht anschauen, bloß weil er möglicherweise eine schlechte Amateurinterpretation gesehen hat. Und meistens ist das Publikum bei Amateuraufführungen sowieso begeistert, weil viel Engagement über die Rampe kommt. Trotzdem gehen die Amateurgruppen, die üblicherweise nur Gema-Gebühren abführen, ein hohes Risiko ein. Denn solche Highlight-Aufführungen sind, das hat der BGH bestätigt, illegal.
Beispiel zwei: Übersetzungen. Das Urheberrecht verbietet die Veränderung geschützter Werke. Eine Folge: Kein Theater darf ein Musical neu übersetzen oder die Texte wesentlich verändern, ohne dass der Verlag zustimmt. Warum wird "Jesus Christ Superstar" in Deutschland wohl oft auf Englisch gesungen? Weil viele Theatermacher (und Zuschauer) die deutsche Übersetzung nicht mögen. Weder dem Publikum noch dem Musical ist damit geholfen. Dass Verlage tatsächlich wie bei
Rent auf Kritik reagieren und Neuübersetzungen anbieten, bleibt die Ausnahme.
Beispiel drei: Revuen. Landauf, landab werden Popsongs und Schlager zu neuen Stücken zusammengeführt. Man kann über den künstlerischen Wert solcher Revuen streiten. Fakt ist aber: Das Publikum liebt sie. Sobald aber Musical-Songs eingebunden werden sollen, schlagen die Verlage Alarm. So ließ der Verlag Bloch Erben das "Hartz IV"-Musical am Schauspiel Dresden
stoppen, weil darin auch Songs aus "Jesus Christ Superstar" und "Cabaret" verarbeitet wurden. Man muss die Art, in der das Theater das entsprechende Urteil für seine PR ausschlachtete, nicht gut finden. Aber: Hätte es den Musicals wirklich geschadet, wenn einzelne Songs in diesem Stück gespielt worden wären?
Beispiel vier: die Überwacher. Wer mit etwas Erfolg hat, der traut anderen nicht zu, sein "Baby" ebensogut behandeln zu können. Eleanor Bergstein weigerte sich, ihr "Dirty Dancing" von Musicalprofis bearbeiten zu lassen. Die Folge: Am Broadway wollte überhaupt niemand das Stück spielen, in Hamburg und London kam nur eine wenig befriedigende Version auf die Bühne. Auch anderswo regiert das Misstrauen. "Les Misérables"-Regisseure müssen im Vorfeld regelmäßig ihre Ideen von den Rechteinhabern genehmigen lassen. Das bremst die Kreativität und Spontanität. Wäre es denn wirklich so fürchterlich, wenn mal ein Regisseur eine überdreht moderne Version auf die Bühne bringen würde?
Beispiel fünf: gesperrte Rechte. Theater, die Rechte für bühnenmäßige Aufführungen erwerben wollen, laufen bei Musicals oft gegen eine Wand. So erzählt der Intendant einer großen deutschen Open-Air-Bühne von zwei schon etwas älteren, aber noch nie (beziehungsweise seit Jahren nicht) in Deutschland gespielten Werken, die er gern aufführen würde. Rechte sind trotz monatelanger Bemühungen nicht zu bekommen. Auch viele Broadway- und West-End-Erfolge schlummern in den Schubladen. Bevor jemand anders damit Geld verdienen könnte, blockieren die Inhaber der Deutschlandrechte lieber.