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 Kammerstück
Fast normal Halt mich, ich falle!
© Kerstin Schomburg
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Mit "Fast normal" hat das Theater Magdeburg einen ungewöhnlichen und schwer verdaulichen Musicalstoff von gesellschaftlicher Relevanz auf die Bühne gebracht. Es geht um Schmerz, Verlust, unverarbeitete Trauer, Depression, Verzweiflung, eine psychische Erkrankung und was all dies für eine Familie bedeutet. Zu Recht wurde das Musical bereits mit zahlreichen Preisen, darunter dem begehrten Pulitzer-Preis, prämiert. Auch in der Inszenierung von Tobias Ribitzki (Regie), Nathan Bas (musikalische Leitung) und Marie Julius (Dramaturgie) geht das Stück unter die Haut.
(Text: Katharina Klasen) Premiere: | | 01.10.2022 | Rezensierte Vorstellung: | | 01.10.2022 | Letzte bekannte Aufführung: | | 04.02.2023 | Showlänge: | | 150 Minuten (ggf. inkl. Pause) |
Das Bühnenbild von Stefan Rieckhoff stilisiert das Haus der Familie Goodman und gewährt dem Publikum gleich zu Beginn einen Einblick hinter die – bereits gefährlich bröckelnde – Fassade der vermeintlichen Vorstadtidylle. Wie an jedem Tag bereitet Mutter Diana das Frühstück für ihre "Bilderbuchfamilie" vor. Schnell ist ersichtlich, dass hier etwas nicht stimmt. Warum gibt es nur drei Stühle am Tisch, obwohl die Familie doch auf den ersten Blick aus vier Mitgliedern besteht? Weshalb räumt Vater Dan die vierte Tasse beinahe unauffällig wieder in den Küchenschrank zurück? Wieso nimmt Tochter Natalie von ihrem Bruder keine Notiz? Und warum beginnt Diana plötzlich unzählige Pausenbrote zu schmieren? Als sie kurz darauf in Behandlung bei Dr. Fine ist und mit ihm die Dosierung der Psychopharmaka bespricht, erfährt das Publikum von Dianas bipolarer Störung, an der sie seit 16 Jahren leidet.
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Carin Filipčić überzeugt als Diana gesanglich und schauspielerisch auf ganzer Linie. Sie liebt, sie leidet, sie streitet, sie schreit, sie tobt, sie lacht und weint. Mit einer Ausnahme ist Carin Filipčić fast den gesamten ersten Akt auf der Bühne, was gerade in einer solch anspruchsvollen Rolle einen wahren Kraftakt bedeutet. Einzig nach Dianas Selbstmordversuch ist sie für wenige Minuten physisch nicht mehr anwesend – wohingegen Dianas Allgegenwärtigkeit für ihre Familie bleibt: in Form ihres roten Mantels, an den sich Ehemann Dan klammert wie ein Ertrinkender. Dianas Omnipräsenz auf der Bühne spiegelt die Omnipräsenz ihrer bipolaren Störung wider – und was diese für jedes einzelne Familienmitglied bedeutet.
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Musikgenie Natalie (Karen Müller) fühlt sich von ihren Eltern, und insbesondere von ihrer Mutter, vernachlässigt und nicht gesehen. Sie versucht zu funktionieren und driftet zwischenzeitlich in einen Drogenrausch ab. Damit entflieht sie dem Familienleben, dessen Last für sie als Teenagerin kaum zu tragen und zu ertragen ist. Halt findet sie nur in ihrem Schulkameraden Henry.
Raphael Groß kommt als Henry eine bedeutsame Aufgabe zu: dem "Invisible Girl" Natalie Aufmerksamkeit zu schenken und sie als Persönlichkeit wahrzunehmen. Obwohl seine Rolle im Stück sehr eindimensional konstruiert ist und keine Charakterentwicklung zulässt, gelingt es Raphael Groß glaubhaft, Henrys wichtigste Botschaft zu vermitteln: den Wunsch, für Natalie da zu sein. Karen Müller und Raphael Groß harmonieren als junges Pärchen mit Höhen und Tiefen sehr gut miteinander.
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Mathias Edenborn bleibt als Familienvater Dan blass, was teilweise sicher auch auf die Rollenbeschreibung zurückzuführen ist. Dan ist schwach und hilflos und klammert sich verzweifelt an den Gedanken, dass alles wieder gut wird. Dabei wird er zum Schatten seiner selbst. Als Meister im Verdrängen ist er mürrisch und bisweilen ungerecht, was ihn nicht zum Sympathieträger macht. Im Lied "Kein Mensch" wird Mathias Edenborn von Lukas Witzel geradezu an die Wand gesungen.
Lukas Witzel als (lange Zeit namenloser) Sohn ist eine Offenbarung! Seine Bühnenpräsenz ist einnehmend und fesselnd, seine Stimme kraftvoll und eindringlich. Schon als er zu Stückbeginn mit der Zeile "So wie an jedem Tag" in den ersten Song einsteigt, ist Gänsehaut garantiert. Dieses Gänsehaut-Feeling setzt sich im Stückverlauf fort, wann immer der ganz in Weiß gekleidete Sohn erscheint und die Aufmerksamkeit seiner Mutter einfordert, mal leise und verführerisch flüsternd, mal expressiv und laut.
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Für die musikalische Begleitung aus dem Orchestergraben zeichnet die Magdeburgische Philharmonie verantwortlich, die grandiose Arbeit leistet und eine Atmosphäre erzeugt, die der Thematik des durchkomponierten Stücks angemessen ist.
"Fast normal" berührt, ohne dabei ins übertrieben Dramatische oder Unglaubwürdige abzugleiten. Die auf der Bühne dargestellten Emotionen sind intensiv, haben Tiefe und wirken authentisch dank eines fabelhaften und wunderbar aufeinander abgestimmten Casts. Musikalisch ist es ein Genuß, wenn die Stimmen der Darstellerinnen und Darsteller bei vielen Songs ineinandergreifen und -fließen. Die Gesangsstimmen harmonieren ebenso miteinander wie die Kostüme von Stefan Rieckhoff. Er hat jeder Figur eine spezifische Farbe verliehen – Rot (Diana), Lila (Dan), Blau (Natalie), Weiß (Sohn Gabe), Grün (Henry). Das bietet jede Menge Projektionsflächen hinsichtlich der Farbsymbolik. Dr. Maddens Erscheinung lässt Assoziationen zu Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, zu. Kann er Diana helfen, ihre Wahnvorstellungen in den Griff zu bekommen? Ob und für wen es ein Happy End gibt, ist letztlich der Fantasie des Publikums überlassen.
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Wer "Fast normal" besucht, sollte zumindest in Ansätzen wissen, worauf er oder sie sich einlässt. Die Thematik ist ernst, beklemmend, bewegend und nachdenklich stimmend – aber unbedingt wert, auf der Bühne erzählt zu werden!
(Text: Katharina Klasen)

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Die Kriterien für unsere Kurzbewertungen (Stand: Dezember 2014)
Buch*: Ist die Handlung in sich schlüssig? Kann die Story begeistern? Bleibt der Spannungsbogen erhalten oder kommt Langeweile auf?
NICHT: Besonderheiten der konkreten Inszenierung des Theaters.
Kompositionen*: Fügen die Kompositionen sich gut in das Stück ein? Haben die Songs Ohrwurmcharakter? Passen die gewählten Texte auf die Musik? Transportieren Text und Musik die selbe Botschaft?
NICHT: Orchestrierung, Verständlichkeit des Gesangs der Darsteller in der aktuellen Inszenierung.
* werden nur bei neuartigen Produktionen (z.B. Premiere, deutsche Erstaufführung usw.) vergeben
Inszenierung: Wie gut wurde das Stück auf die Bühne gebracht? Stimmen die Bilder und Charaktere? Bringt der Regisseur originelle neue Ansätze ein?
NICHT: Wie gut ist die Handlung des Stücks an sich oder die mögliche Übersetzung?
Musik: Kann die musikalische Umsetzung überzeugen? Gibt es interessante Arrangements? Ist die Orchesterbegleitung rundum stimmig? Muss man bei Akustik oder Tontechnik Abstriche machen?
NICHT: Sind die Kompositionen eingängig und abwechslungsreich? Gibt es Ohrwürmer? Gefällt der Musikstil?
Besetzung: Bringen die Darsteller die Figuren glaubwürdig auf die Bühne? Stimmen Handwerk (Gesang, Tanz, Schauspiel) und Engagement? Macht es Spaß, den Akteuren zuzuschauen und zuzuhören?
NICHT: Sind bekannte Namen in der Cast zu finden?
Ausstattung: Setzt die Ausstattung (Kostüme, Bühnenbild, Lichtdesign etc.) die Handlung ansprechend in Szene? Wurden die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten optimal genutzt? Bieten Bühne und Kostüme etwas fürs Auge und passen sie zur Inszenierung?
NICHT: Je bunter und opulenter ausgestattet, desto mehr Sterne.
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