Mit der Premiere von „Cats“ am 18. April 1986 brach in Deutschland die Ära des kommerziellen Musicals an. Die muz blickt auf die vergangenen 20 Jahre zurück, in denen sich Deutschland (nach New York und London) zum drittgrößten Musicalmarkt der Welt entwickelt hat.
Es war neu. Es war ein Risiko. Und es begann mit einer Enttäuschung. In einer Turnhalle trafen sich im Frühjahr 1986 die künftigen Mitarbeiter des Hamburger Operettenhauses – Schauspieler, Techniker, Musiker, Servicekräfte, Verwaltungsleute – um zu sehen, für welches Stück sie da ihre zumeist festen vorherigen Jobs aufgegeben hatten. Produzent Friedrich Kurz wollte das amerikanische System in Deutschland ausprobieren: ein festes Stück, das über einen längeren Zeitraum ohne Unterbrechung („ensuite“) im selben Theater gespielt wird. Kostüme und Masken waren noch nicht fertig, gespielt wurde ohne Orchester. „Ehrlich gesagt: Wir waren ziemlich enttäuscht“, erinnert sich Darsteller Hardy Rudolz. Doch die Proben gingen weiter, nach und nach kamen Bühnenbild, Orchester, Kostüme und Perücken dazu. Am 18. April 1986 feierte „Cats“ seine Deutschlandpremiere, und der Erfolg übertraf alle Erwartungen.
Alleine in Hamburg schaffte die Produktion in fast 15 Jahren 6.100 Vorstellungen mit mehr als sechs Millionen Zuschauern. Nach längeren Gastspielen in Stuttgart (Premiere: 2001), Berlin (2002) und Düsseldorf (2004) ist seit April 2005 ein Tourneeversion im deutschsprachigen Raum unterwegs – übrigens inzwischen in der deutschen Fassung von Michael Kunze, der das Musical 1984 für das Theater an der Wien übersetzt hatte. In Hamburg war eine Fassung von John Baer, Sabine Grohmann und Marc Henning gespielt worden.
Der Erfolg war beachtlich, ist aber längst getoppt; „Das Phantom der Oper“ und der „Starlight Express“ haben in Deutschland höhere Zuschauerzahlen erreicht als Webbers Katzen-Show. Trotzdem ist der 20. Jahrestag der Hamburger „Cats“-Premiere ein besonderer Tag für Musical-Deutschland. Denn erst mit „Cats“ wurde in Deutschland etwas etabliert, das uns heute selbstverständlich erscheint: Das Nebeneinander vom „deutschen“ System des subventionierten Musiktheaters und dem britisch-amerikanischen System des kommerziellen Musiktheaters. Musicals gab es schon vorher, aber die großen Long-Run-Produktionen – inzwischen sind es ein rundes Dutzend gleichzeitig – hätte es in Deutschland wohl nie gegeben, wenn „Cats“ damals gefloppt wäre.
1988 folgte die zweite Produktion: „Starlight Express“ im extra für dieses Stück erbauten Theater in Bochum. Die Produktion hat einige Aufs und Abs hinter sich (mehr dazu), läuft dort aber noch heute. In Bochum hatte es Proteste gegen die staatliche Förderung eines kommerziellen Theaters gegeben, in Hamburg wurde das Thema Musical noch stärker zum Politikum. Die Stella, unter diesem Firmennamen liefen die Shows, wollte dort bereits 1987 mit einem zweiten Theater nachlegen und in der Roten Flora „Das Phantom der Oper“ produzieren. Während der Senat das Projekt unterstützte, ging die autonome Szene auf die Barrikaden – gegen einen privatwirtschaftlichen Kulturbetrieb im Schanzenviertel. Es kam zu Protesten und Blockaden, der heutige Betreiber Stage Entertainment spricht in der Rückschau von „militantem Widerstand“. Schließlich wurde ein Ausweichstandort an der Stresemannstraße gefunden, doch auch dort – das Theater wurde provokant „Neue Flora“ getauft – kam es bei der Premiere im Jahr 1990 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Gewonnen hat am Ende das Musical: Das „Phantom“ lief 11 Jahre lang in der Hansestadt, die Neue Flora ist im städtischen Kulturleben längst akzeptiert.
Erfolg zieht oft Selbstüberschätzung nach sich. Als Stella-Chef Rolf Deyhle beschloss, sein Erlebnis-Hotel „SI-Centrum“ in Stuttgart mit einem Musicaltheater und der Show „Miss Saigon“ aufzuwerten, war noch optimistisch von 20 Jahren erwarteter Laufzeit die Rede. Das Stück konnte die Erwartungen nicht erfüllen, fünf Jahre nach der Premiere 1994 war Schluss. Neben oft beklagten künstlerischen Mängeln dürfte auch die dezentrale Lage („Miss Saigon auf dem Maisfeld“) dazu beigetragen haben. Doch die Stella expandierte weiter. Das nächste Projekt: „Broadway an der Ruhr“. Zusätzlich zum „Starlight“ in Bochum sollten „Les Misérables“ (Duisburg) und „Joseph“ (Essen) Besucher anlocken. Auch diese Shows, beide im Jahr 1996 gestartet, schafften die erhofften wirtschaftlichen Erfolge nicht.
Inzwischen drängten neben der Stella noch weitere Produzenten auf den Markt. Mit ernüchternden Ergebnissen: Die deutschsprachige Erstaufführung von Andrew Lloyd Webbers „Sunset Boulevard“ in Niedernhausen konnte sich trotz imposanten Bühnenbilds und prominenter Besetzung nur 20 Monate halten. Ähnlich erging es der Rockoper „Tommy“, die 1996 in Offenbach nach nicht einmal 14 Monaten schließen musste. Eric Woolfsons „Gaudí“ feierte 1993 als Stadttheater-Produktion in Aachen große Erfolge, konnte sich jedoch zwei Jahre später als Ensuite-Großproduktion in Alsdorf ebensowenig halten wie nach einem Standortwechsel in den Kölner Musical Dome, wo 1998 der letzte Vorhang fiel. Woolfsons zweites Werk „Gambler“ brachte es 1996 in Mönchengladbach gerade einmal auf 500 Vorstellungen. Einzig die „Buddy-Holly-Story“ im Hamburger Hafen schaffte, trotz zwischenzeitlicher Durststrecke, mit einer Laufzeit von sechseinhalb Jahren einen respektablen Erfolg.
Die Stella setzte inzwischen bei Neuproduktionen auf eine Kooperation mit dem US-Konzern Disney – ebenfalls mit mäßigem Erfolg. Im neu gebauten zweiten Saal des Stuttgarter SI-Centrums lief „Die Schöne und das Biest“. Die Uraufführung „Der Glöckner von Notre-Dame“ im Berliner Theater am Potsdamer Platz blieb künstlerisch wie wirtschaftlich weit hinter den gesteckten Erwartungen zurück. Es folgte der nächste (und letzte) Strategiewechsel des Konzerns: eine Kooperation mit den Vereinigten Bühnen Wien, die seit 1984 – auch hier stand „Cats“ am Anfang – höchst erfolgreich eine Melange aus subventioniertem Theater mit kommerziellen Longruns betrieben. Die Stella kaufte die Wiener Eigenproduktion „Mozart!“ als Nachfolger für das Hamburger „Phantom“. Als auch diese Show floppte, war der auch durch Immobilienspekulationen in die Krise geratene Konzern nicht mehr zu halten. Kurze Zeit nachdem man noch intensiv für einen bevorstehenden Börsengang geworben hatte, ging dem Musicalmarktführer die Luft aus. Die Theater, mit Ausnahme des Starlight-Theaters, landeten über den Umweg Deutsche Entertainment bei der Stage Holding.
Der deutsche Ableger des holländischen Entertainmentmultis Joop van den Ende räumte die Spielpläne auf und kalkulierte die Shows so, dass sie bei geringerem Erfolg nicht jahrelang an einem Standort laufen müssen. Und ihm gelang etwas, was die Stella jahrelang nicht geschafft hatte: wieder Erfolge zu produzieren, wie etwa den „König der Löwen“ in Hamburg und „Mamma Mia!“, das zunächst im – zwischenzeitlich von Tourneen bespielten – „Cats“-Theater in Hamburg und später auch parallel in Stuttgart die Kassen klingeln ließ. Gleichzeitig produzierte der Konzern, der inzwischen Stage Entertainment heißt, auch Flops: etwa „Titanic“ in Hamburg, „42nd Street“ in Stuttgart sowie in Berlin „Les Misérables“ und die „3 Musketiere“ (mehr dazu).
20 Jahre nach „Cats“ steht das Ensuite-Musical in Deutschland, mal wieder, vor einer Weichenstellung. Typische Theaterstoffe hatten es in jüngster Vergangenheit schwer, Event-Shows wie „We Will Rock You“, „Mamma Mia!“ und „Dirty Dancing“ ließen die Kassen klingeln. Damit wird, so hat es zumindest den Anschein, insgesamt wieder mehr junges Publikum erreicht. Gleichzeitig kehren aber immer mehr Stammzuschauer den großen Musicaltheatern den Rücken, weil diese immer weniger Theater und immer mehr Show machen. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob sich das Ensuite-Musical endgültig zum Event-Entertainment wandelt. Oder ob es gelingt, das Broadway-Prinzip (mehr dazu) wirklich konsequent nach Deutschland zu holen: mit einem breiten Mix aus sehr unterschiedlichen Shows eine breite Zielgruppe ansprechen, und damit sowohl typische Theatergänger als auch Theaterfremde zu gewinnen. Es ist mit Sicherheit ein Risiko. Aber es ist auch eine Chance.
(Mitarbeit: Andreas Haider, Christian Heyden)