Man muss wissen, wann man loslassen sollte

Colby Thomas, die einst die Christine Daaé im „Phantom der Oper“ in Hamburg verkörperte, über ihre Zeit in Deutschland und die Arbeit als Musikdozentin.

Die ursprünglich aus Huntington, New York stammende Colby Thomas wurde bekannt durch ihr neunjähriges Engagement in der Hamburger Produktion des Lloyd-Webber-Musicals „Das Phantom der Oper“. In den 1990er Jahren trat sie zudem im Rahmen der „Musical Night“-Gala in verschiedenen deutschen Städten auf. Tourneen führten sie in europäische Städte wie Paris, Nizza, Amsterdam und Göteborg. Sie spielte in Musicals wie „Oklahoma!“ und „West Side Story“ und sang die Titelrolle in der Uraufführung der Oper „Molly of the Mohawks“.

Nach dem Ende vom „Phantom der Oper“ in Hamburg sind Sie wieder in Ihr Heimatland zurückgekehrt. Was machen Sie aktuell in den USA?

Ich arbeite als Dozentin an der musikalischen Fakultät am SUNY College in Oneonta, einer reizenden Kleinstadt in einer Bergregion im Bundesstaat New York, etwa drei Stunden von Manhattan entfernt. Dort unterrichte ich Gesang, Geschichte des amerikanischen Musicals und gebe Gesangsworkshops. Was ich besonders toll daran finde, an einem College mit großem Bereich für Musik und Theater zu unterrichten, ist die Tatsache, dass ich künstlerisch tätig sein kann, wann immer ich will. Ich gebe viele Konzerte vor Ort, wo vom klassischen Repertoire über Jazz und Blues bis hin zum Musical alles dabei ist. Ich habe also verschiedene Möglichkeiten, Theater zu machen – nicht nur Musical.

In Hamburg haben Sie von 1992 bis 2001 die Christine Daaé im „Phantom der Oper“ gespielt. Was war das Besondere an der Rolle, dass Sie sie so lange gespielt haben?

Die Chance, die Rolle der Christine zu spielen, kam einfach zum richtigen Zeitpunkt. Das ist einer der vielen Gründe, warum es für mich so besonders war. Ich war zuvor schon mit einigen Shows in den Vereinigten Staaten auf Tour, hatte an kleineren Theatern gespielt und liebte das Reisen. Wenn die eigene Karriere gerade erst begonnen hat, macht es Spaß, immerzu unterwegs zu sein. Es hat mich stark und ausdauernd gemacht. Und so fühlte ich mich bereit, um die größere Herausforderung anzunehmen, jeden Abend die Christine zu singen.

Die anderen Gründe liegen auf der Hand – ich lernte es zu schätzen, jeden Abend die wunderschönen Kostüme zu tragen, zu wundervoller Musik zu singen und das Objekt der Begierde in einer romantischen Geschichte zu sein. Außerdem passierte all das in der zauberhaften Stadt Hamburg, wo ich die Gelegenheit hatte, mit Menschen aus der ganzen Welt zu leben und zu arbeiten. Das alles war etwas Besonderes. Und wie alle anderen Leute, die am Theater arbeiten, wusste auch ich, dass diese besondere Zeit nicht ewig andauern würde. Deshalb war es leicht für mich, die Show neun Jahre lang zu spielen. Ich wusste jede einzelne Vorstellung zu schätzen.

Wenn Sie die Show so schätzten, hatten Sie dann gar keine Ambitionen, anschließend auch in der „Phantom“-Produktion in Stuttgart zu spielen?

Ich bin der Meinung, dass man etwas Vergangenes oft gern noch einmal wiederholen möchte – zumindest für eine kurze Zeit. Aber ich finde, dass ich in all den Jahren alles aus der Rolle herausgeholt habe, was ich konnte. Man muss nur wissen, wann man loslassen sollte. Ich bedauere es nicht.

Haben Sie denn zufällig die „Phantom“-Fortsetzung „Love Never Dies“ in London gesehen? Was halten Sie generell von solch einem Sequel?

Ich las das Buch, auf dem die Fortsetzung des Musicals basiert, vor einigen Jahren, als es die ersten Gespräche bezüglich einer Fortsetzung gab. „Love Never Dies“ selbst habe ich noch nicht gesehen, aber die Fotos, die ich davon gesehen habe, sind atemberaubend.

Könnten Sie sich denn vorstellen, die Christine in „Love Never Dies“ zu spielen?

Nein. Wie gesagt, ist diese Zeit für mich schon lange vorbei. Aber würde ich die Rolle ablehnen, wenn man sie mir anbieten würde? Natürlich nicht!

Haben Sie eigentlich noch Kontakt zu Ihren früheren „Phantom“-Kollegen aus Hamburg, wie beispielsweise zu Thomas Schulze?

Habe ich! Dank einer großartigen Erfindung namens Facebook ist es so herrlich einfach, mit seinen Freunden auf der ganzen Welt in Kontakt zu bleiben. Auch Thomas und ich hatten erst kürzlich wieder Kontakt, um über ein Treffen in Hamburg zu sprechen.

In Deutschland haben wir seit Jahren nichts mehr von Ihnen gehört oder gesehen, obwohl Sie hierzulande einst auch mit der Gala „Musical Night“ auf Tour waren. Gibt es Pläne, mal wieder in Deutschland zu arbeiten?

Ich habe gelernt, niemals nie zu sagen. Ich würde sehr gern mal wieder in Deutschland auftreten. Aber es gibt dafür keine unmittelbaren Pläne, außer als Besucher in mein geliebtes Hamburg zu kommen. Vielleicht wird es in der Zukunft eine Möglichkeit geben, mich mal wieder auf einer deutschen Bühne sehen zu lassen.

Sie arbeiten als Sängerin, Regisseurin und Lehrerin. Brauchen Sie diese Abwechslung?

Ich denke, ich brauche diese Abwechslung wirklich, auch wenn ich es damals noch nicht wusste, als meine Zeit beim „Phantom“ endete. Inzwischen denke ich, dass ich dort bin, wo ich hin wollte.

Im Herbst 2008 haben Sie die Titelrolle in der Uraufführung der Oper „Molly of the Mohawks“ gespielt. Können Sie uns etwas über dieses Engagement erzählen? Wer war Molly?

Molly Brant lebte im 18. Jahrhundert, gehörte zum Indianerstamm der Mohawks und war die Geliebte von William Johnson, dem britischen Gouverneur in New York. Sie war eine wichtige Person ihrer Zeit, da sie großen Einfluss auf den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hatte. Es war eine schöne Chance für mich, diese Rolle kreieren zu dürfen. Außerdem hat es mich sehr angenehm überrascht, dass ich für meine Darstellung der Molly für den Native American Music Award nominiert wurde.

Sind Sie eigentlich noch informiert über die deutschsprachige Musicalszene?

Hin und wieder bekomme ich noch etwas von der deutschsprachigen Musicalszene mit, aber ich bin sicher nicht auf aktuellem Stand.

Denken Sie, dass es für amerikanische Jugendliche leichter ist als für deutsche, den Beruf des Musicaldarstellers zu ergreifen? Wenn ja oder nein – warum?

Ich weiß nicht, ob es für Amerikaner oder Deutsche einfacher ist, einen Job im Musicalbereich zu bekommen. Ich kann nur sagen, dass sich das Musical momentan in einem Zustand der Veränderung befindet. Die alten Klassiker sind nach wie vor heiß begehrt, aber es gibt auch einige interessante Experimente, angefangen bei Shows wie „Spring Awakening“. Die Zeiten sind schwierig, denn ich finde, dass sich das Musical momentan in einer künstlerischen Flaute befindet. Die Produzenten sind vorsichtiger geworden, denn es bedarf einer Menge Geld, um ein Stück auf die Bühne zu bringen oder neue Werke zu fördern. Trotzdem frage ich mich, warum Alan Menkens „Der Glöckner von Notre Dame“ nicht endlich an den Broadway kommt.

Was ist der größte Unterschied zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Musical?

Im Grunde ist das Musical vor allem eine Reflektion der Kultur des jeweiligen Landes. Deshalb denke ich, dass sich die generellen Unterschiede zwischen zwei Ländern auch auf das Musical übertragen lassen. Eine sehr allgemeine Antwort, ich weiß, sorry! Aber Deutschland ist beispielsweise immer noch eher am Anfang der Musical-Evolution. Ich bin gespannt, wohin der Weg führen wird.

Welche Projekte stehen für Sie in nächster Zeit an?

Das Frühjahrssemester am College hat gerade begonnen und so arbeite ich momentan nach meinem normalen Lehrplan. Aber im April werde ich in einem Theaterstück namens „Big Love“ mitspielen, während ich im Sommer ein Programm mit Songs von Gershwin, Arlen, Porter und Weill für zwei Solokonzerte zusammenstellen werde, die ich im Februar und März 2012 gebe.

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