Einmal pro Monat werde ich mich in meinen Fernsehsessel setzen und mir für euch einen Musicalfilm ansehen. Da werden bekannte Streifen dabei sein, aber auch Unbekanntes oder Vergessenes.
Meine Wahl ist diesmal auf einen Film gefallen, dem ein gewisser Ruf vorauseilt. Nicht nur wurde er bei seiner Uraufführung nach allen Regeln der Kunst von der Kritik verrissen und war in den USA einer der größten Flops des Jahres, er beschädigte auch die Karrieren einiger Beteiligter – u.a. die seines Komponisten Burt Bacharach. Ist „Lost Horizon“ wirklich eines der schlechtesten Filmmusicals der Geschichte?
Im (fiktiven) asiatischen Staat Baskula bricht eine Revolution aus. Der britische UN-Botschafter Richard Conway (Peter Finch), eigentlich auf Friedensmission vor Ort, versucht, die im Land befindlichen Ausländer nach Hongkong ausfliegen zu lassen. Ins letzte Flugzeug retten sich neben Conway sein Bruder George (Michael York), ein Journalist, der Ingenieur Sam Cornelius (George Kennedy), die Fotojournalistin Sally Hughes (Sally Kellerman) und der Komiker Harry Lovett (Bobby Van). Doch die Passagiere stellen fest, dass ein asiatischer Pilot im Cockpit sitzt und das Flugzeug in die entgegengesetzte Richtung fliegt. Sie wurden gekidnappt. In einem Schneesturm irgendwo im Himalaya stürzt das Flugzeug ab und der Pilot stirbt. Die Überlebenden werden von einer Gruppe Mönche und deren Anführer Chang (John Gielgud) in das verborgene Tal Shangri-La gebracht, ein Ort der Glückseligkeit und des Friedens, dessen Bewohner sehr langsam altern. Shangri-La wurde Anfang des 18. Jahrhunderts von einem belgischen Priester entdeckt, der dort immer noch als Hoher Llama (Charles Boyer) lebt. Doch seine Kräfte schwinden und deshalb hat er Richard Conways Entführung in Auftrag geben. Er soll sein Nachfolger werden. Richard verliebt sich in die Lehrerin Catherine (Liv Ullmann), Sally überwindet Drogensucht und Suizidgedanken, Sam baut für die Feldarbeiter ein Bewässerungssystem, Harry findet Gefallen am Unterrichten der Kinder – nur George plant mit der Tänzerin Maria (Olivia Hussey) die Flucht. Die Warnung, dass Maria, die vor über 80 Jahren hierherkam, an der Grenze von Shangri-La ihr wahres Alter einholt, ignorieren sie …
James Hiltons Roman „Lost Horizon“ war nach seinem Erscheinen 1933 ein Megaerfolg. Die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs und die unsichere Weltlage machten seine Leserschaft für die romantische Utopie empfänglich. Die Verfilmung 1937 war ebenfalls ein großer Erfolg, die Musicalversion „Shangri-La“ mit Musik von Harry Warren ging dagegen1956 als einer der größten Flops in die Broadway-Geschichte ein. Warren meinte später dazu, dass sich die Vorlage, die für die Bühne stark verändert wurde, nicht für ein Musical eignete.
Das hätte Columbia Pictures eine Warnung sein sollen. Filmmusicals liefen in den 1960ern und 70ern nicht besonders gut. Trotzdem hielten die Hollywood-Studios an teuren Großproduktionen fest, denn Flops wie „Sweet Charity“, „Camelot“ oder „Hello Dolly“ standen Erfolge wie „The Sound of Music“ oder „Oliver!“ gegenüber. Aber die Flops waren in der Überzahl.
Columbia engagierte den Produzenten Ross Hunter, der gerade mit „Airport“ einen Hit gelandet hatte und auf Erfolge wie „Pillow Talk“ („Bettgeflüster“) und „Imitation of Life“ („Solange es Menschen gibt“) zurückblicken konnte. Als Regisseur wurde der Brite Charles Jarrott verpflichtet, dessen vorherige Filme, die historischen Großproduktionen „Anne of the Thousand Days“ („Königin für tausend Tage“) und „Mary, Queen of Scots“ („Maria Stuart, Königin von Schottland“), es zusammen auf 15 Oscar-Nominierungen brachten – auch wenn dabei nur ein Sieg für die besten Kostüme für „Anne“ heraussprang. Eine renommierte Darstellerriege sollte schauspielerische Qualität garantieren und für Musik sorgte das erfolgreiche Komponisten-Texter-Team Burt Bacharach / Hal David. Die Werbemaschinerie lief schon vor Drehbeginn auf Hochtouren. „Lost Horizon“ war als sensationeller Erfolg geplant.
Was lief dann schief?
Eigentlich alles. Für mich passt in diesem Film nichts, aber auch gar nichts zusammen. Man sieht dem Film die Ambitionen des Studios an, aber keiner der Beteiligten scheint diese Ambitionen geteilt zu haben.
Ich kenne die Romanvorlage nicht, habe mir aber die frühere Verfilmung von 1937 angesehen, die bei uns unpassend reißerisch „In den Fesseln von Shangri-La“ heißt. Dieser Streifen ist ein Klassiker des alten Hollywoods, ein naives Abenteuermärchen mit zugegeben sehr kolonialem Blick auf einen Ort der Glückseligen (die Einheimischen sind nur gutgelaunte Bauern und Dienstboten) – aber immerhin gut gespielt, verschwenderisch ausgestattet und atemberaubend in Schwarz-Weiß bebildert. Schon die Flucht zu Beginn – hier vor dem Aufstand in China – hat so viel mehr Energie und Dramatik als die Neuverfilmung. Auch die Flucht am Ende ist ein Meisterstück an Spannungsdramaturgie. Und vor allem hatte ich den Eindruck, dass Regisseur Frank Capra wirklich an die Philosophie der Geschichte glaubt.
In der Version von 1973 scheint sich keiner um die flachen Kalenderspruch-Weisheiten des Dialogs Gedanken gemacht zu haben. Weder der Drehbuchautor Larry Kramer, noch irgendeiner der durchweg hölzern agierenden Darstellerinnen und Darsteller. Auch optisch ist das gerade mal als „brav“ zu bezeichnen. Keins der Bilder entwickelt die Wucht seines Schwarz-Weiß-Vorgängers. Das Gelände um das Hauptgebäude von Shangri-La hat den Charme einer halbwegs gepflegten Ferienanlage. Hier wurde die Burg der „Camelot“-Verfilmung von 1967, die sich noch auf dem Studiogelände befand, recycelt und „mittelalterlich“ durch „buddhistisch“ ersetzt. Regisseur Jarrott findet keinen neuen Zugang zur Geschichte und dreht unmotiviert 1:1 Capra nach. Nur versetzte man die Handlung in die 1970er Jahre und einige Namen und kleine Details in Motiven der handelnden Personen wurden verändert.
Es gibt auch keinen Grund, aus „Lost Horizon“ ein Musical zu machen – zumindest nicht so, wie man es hier gemacht hat. Die Songs sind nicht in die Dramaturgie integriert, ploppen urpötzlich auf, bringen die Handlung nicht voran und verschleppen das Tempo. Ich weiß auch nicht, welche musikalische Vision Burt Bacharach hatte. „The King and I“ in der Easy-Listening-Version? Er ist ein Meister des leicht swingenden Pops, des jazzigen Ohrwurms – aber hier swingt und jazzt nichts, von Ohrwürmern ganz zu schweigen. Bacharach komponiert mit angezogener Handbremse. Weil es sich hier um ein „großes Musical“ handeln sollte, wollte er anscheinend Richard Rodgers nacheifern, zumindest imitiert „The World Is a Circle“ die entsprechenden Kinder-Interaktions-Songs in „The King and I“ und „The Sound of Music“.
Wirklich sprachlos hat mich aber „Living Together, Growing Togehter“ mit seinem unfreiwillig komischen Lendenschurzballett zurückgelassen. Da textet Hal David, der auch in anderen Songs die „Reim dich oder ich fress‘ dich“-Schiene bedient:
„Start with a man and you have one.
Add on a woman and then you have two.
Add on a child and what have you got?
You’ve got more than three.
You’ve got what they call a family.“
Bacharach und David zerstritten sich während der Arbeit an „Lost Horizon“ und beendeten ihre Kooperation, die Klassiker wie „Raindrops Keep Fallin‘ On My Head“, „I Say a Little Prayer“ oder das Musical „Promises, Promises“ mit dem Hit „I‘ll Never Fall In Love Again“ hervorgebracht hatte.
Immerhin wird passabel gesungen, wenn auch nicht von allen Darstellerinnen und Darstellern selbst. Nur bei Bobby Van und Sally Kellerman hört man deren Stimmen, alle anderen werden von professionellen Sängerinnen und Sängern gedoubelt. Das macht die Songs aber nicht besser.
Bobby Van war mehr auf der Bühne als im Film zuhause. Er ist ein Fremdkörper im Ensemble. Sein Stand-Up-Komiker Harry Lovett reißt gequälte Scherze und sein übertrieben gutgelaunter und lockerer Tanzstil wirkt wie der Musik übergestülpt – aber immerhin kann er tanzen und er scheint zu wissen, was er da tut. Peter Finch und Liv Ullmann machen beim Gesang nur mit großen Augen und klischeehaften Gesten den Mund auf und zu – so sie denn überhaupt den Mund bewegen, denn ihr Duett „I Might Frighten Her Away“ spielt sich während eines gemeinsamen Picknicks nur in ihren Gedanken ab. Sie vermeiden Blicke, drehen sich verschüchtert weg – eine verklemmte Liebesanbahnung, bei der man nicht Zeuge sein möchte.
Wie eingangs schon erwähnt, brachte der Misserfolg dieses Films die Karrieren einiger Beteiligter schwer ins Schleudern. Produzent Ross Hunter zog sich zurück und arbeitete nur noch wenige Male fürs Fernsehen; Drehbuchautor Larry Kramer schrieb nie mehr fürs Kino, engagierte sich als AIDS-Aktivist und schrieb Theaterstücke; Regisseur Charles Jarrott fand nach einer Durststrecke mit weiteren Flops Arbeit beim Fernsehen. Dem Ende der Zusammenarbeit von Bacharach und David folgten juristische Streitigkeiten. Beide fassten auf ihren Gebieten aber wieder Fuß.
Obwohl „Lost Horizon“ trotz allgemein negativer Kritiken kein weltweiter Flop war – in Großbritannien lief er beispielsweise ausgesprochen gut – spielte er die Produktionskosten nicht ein und hatte seinen Anteil daran, dass Columbia Pictures vor dem Konkurs stand und 1982 verkauft wurde.
Am meisten ärgert mich an diesem Film, dass niemand hier mit Herzblut bei der Sache war. Deshalb ist „Lost Horizon“ noch nicht einmal „so bad it‘s good“ – okay, außer dem Lendenschurzballett -, denn selbst dafür braucht man Herzblut und Visionen. Die hatte Frank Capra 1937 in seiner Version der Geschichte.