Die Beste ihrer Art: "Les Misérables" (10th Anniversary 1995)

[Die Beste ihrer Art] In dieser Serie beschreiben muz-Autoren jeweils für ein Musical, welche CD-Aufnahme die ihrer Meinung nach relevanteste und beste ist. In dieser Folge: Gastautorin Michaela Flint erklärt, warum der Mitschnitt des Londoner Konzerts zur zehnjährigen Laufzeit der Show ihrer Meinung nach unerreicht ist.

Seit mehr als 30 Jahren werden Victor Hugos musikalische Elende auf den Bühnen unserer Welt gezeigt. Mindestens 33 CD-Einspielungen in zwölf Sprachen liegen von “Les Misérables” vor. Da fällt die Entscheidung für einen Favoriten schwer. Sie hängt ganz entscheidend davon ab, ob man Studioaufnahmen Live-Mitschnitten vorzieht. Einige fühlen sich durch die Applaussequenzen an den eigenen Besuch der Show erinnert und entscheiden sich für diese anstelle einer nachträglich perfektionierten Studiofassung.

Unter den Aufnahmen des Musicals findet sich auch ein Juwel wie das “French Concept Album”. Die ursprünglichste aller “Les Misérables”-CDs wurde 1980 aufgenommen und besticht vor allem durch den perfekten Einklang von Melodie und Gesang. Einzig die französische Produktion von Quebec 2008 kann mit diesem Vorteil aufwarten. Es zeigt sich, dass ein in der Originalsprache gesungenes Musical harmonischer fürs Ohr ist und authentischer wirkt, als es eine Übersetzung je sein kann. Deutsche, holländische, spanische oder japanische Übersetzungen von “Les Misérables” klingen dagegen häufig sehr holprig. Einzig die englische Fassung von Herbert Kretzmer kann annähernd mit dem französischen Original mithalten.

Meine Wahl fällt trotz meiner Vorliebe für Originalaufnahmen auf den Mitschnitt des Konzerts in der Royal Albert Hall zum 10-Jährigen in London. Den Ausschlag gibt nicht allein die Opulenz des 100-Personen-Orchesters – denn gerade in diesem Bereich ist Quantität nicht immer gleich Qualität.

Vielmehr sind es die neun Protagonisten, deren Namen untrennbar mit “Les Misérables” verbunden sind: Colm Wilkinson, der erste Londoner Valjean, ist an Gefühl und Wandlungsfähigkeit unerreicht. Man glaubt ihm beim bloßen Zuhören die Verletztheit als Gefangener, spürt die Energie als Bürgermeister und empfindet ihm die Liebe zu seiner Schutzbefohlenen Cosette nach. Michael Ball, Marius der ersten Stunde, steht Wilkinson in Sachen Gefühl in nichts nach. Sein Timbre trieft – im positiven Sinn – vor Liebe, und seine Trauer um die gefallenen Studenten ist greifbar. Philip Quast klingt ehrfurchtgebietend, schafft es aber schussendlich doch, Sympathien für den verbissenen Inspektor Javert zu wecken.

Ruthie Henshall haucht Fantine eine Verletzlichkeit ein, die sie mit ihrer Stimme perfekt transportiert. Lea Salonga gilt als die Eponine schlechthin. Hört man ihrem “On My Own” zu, versteht man diese Begeisterung schnell. Einzig Judy Kuhn agiert als Cosette lediglich rollendeckend, was bei dem vom Produzenten als “Dream Cast” bezeichneten Ensemble zu wenig ist. Bleibt noch Jenny Galloway als Mme. Thénardier, die nicht nur ihren “Gatten” Alun Armstrong – ebenfalls Mitglied der Cast von 1985 – mit ihrem kraftvollen Ausdruck in den sprichwörtlichen Schatten stellt. Komplettiert werden die Protagonisten von Michael Maguire, der einen energetischen Enjolras gibt und sich von Michael Ball nicht in den Hintergrund singen lässt.

Die Besetzung ist also nahezu perfekt. Das Orchester unter der Leitung von David Abell intoniert die voluminöse Partitur von Claude-Michel Schönberg lebendig und mitreißend. Die Streicher begeistern genauso wie die intensiven Blechbläser. Auf dieser Aufnahme kann man den Kompositionen sehr genau und detailliert folgen. Die mehr als 160 Chormitglieder verstärken zudem das Ensemble in den kraftvollen Massenszenen ideal.

Technisch lässt sich an dieser Aufnahme nichts aussetzen. Es handelt sich um einen 1:1-Mitschnitt des Konzerts vom 8. Oktober 1995, welches auch auf DVD erhältlich ist. Dies zeigt sich zum Beispiel bei Cosettes “Castle on a Cloud”, wo es zu einem lauten Knall kommt, der die junge Sängerin aber nicht weiter erschreckt. Dass es bei einem Live-Mitschnitt zu vielen Applauspausen kommt, der Szenenapplaus nach einigen Stücken (“I dreamed a Dream”, “Bring him Home”, “Master of the House”, “Empty Chairs at Empty Tables”) nicht enden möchte, mag den ein oder anderen Zuhörer stören, doch diese Begeisterung im Publikum mitzuerleben, gehört zur Magie dieses Stücks dazu.

Dass bei dieser konzertanten Aufnahme nicht alle Songs aus dem Musical zu hören sind, mag verstimmen – aber ernsthaft vermisst werden diese Stücke letztlich nicht. Zudem entschädigen die beiden Zugaben (“Do You Hear the People Sing?” mit 17 Valjean-Darstellern und “One Day More”, gesungen von allen Künstlern).

Ältere Studioaufnahmen wie die Original London Cast Recording von 1985 warten mit Überraschungen wie ganzen Songs oder zumindest Songteilen auf, die mit den Jahren aus dem Bühnenmusical verschwanden. Auch diese sind sicherlich hörenswert. Doch gerade bei der genannten CD fällt die klinisch reine Studioumgebung negativ ins Gewicht, da viele Emotionen unter der Abmischung leiden, und auch das Orchester es sehr an Intensität vermissen lässt.

Die deutschsprachigen Aufnahmen sollen an dieser Stelle nicht ignoriert werden: Es gibt eine sehr gefällige Doppel-CD mit der Wiener Besetzung von 1988. Reinhard Brussmanns Interpretation von Valjean kann als stellvertretend für das gesamte Ensemble bezeichnet werden: Sie ist ohne Fehl und Tadel, wirkt aber sehr glatt und unaufgeregt. Die Highlight-CD der Duisburger Produktion von 1996 ist ebenfalls im Studio entstanden und vermittelt einen guten Eindruck vom Stück. Doch beide Aufnahmen können die Emotionen und die Ursachen für die weltweite Begeisterung nicht transportieren.

Im Herbst 2010 kam ein neues Live-Album mit der Jubiläumscast (dem Ensemble, das die 25th Anniversary Tour in England spielte) auf den Markt. Hierfür wurde eine Vorstellung in Manchesters Palace Theatre mitgeschnitten. Theateraufnahmen bergen nicht selten die Gefahren unausgewogener Tontechnik und zu intensiver Applaussequenzen. In diesem Fall trifft diese Kritik leider zu. Auch das Orchester spielt nicht so energisch, wie man es sich wünschen würde. Angekündigte überarbeitete Arrangements fallen kaum auf, und auch die Besetzung ist eher schwach. Einzig Earl Carpenter bleibt als Javert im Gedächtnis. Die übrigen Protagonisten, inkl. John Owen-Jones als Valjean und Gareth Gates als Marius, bleiben blass. Somit wurde die Chance vertan, dem vorangegangenen Jubiläumsalbum eine Steigerung folgen zu lassen. (mtw)

Welche “Les Misérables”-CD bevorzugen Sie? Hier können Sie Ihre Bewertung abgegeben. Über die muz-Serie “Die Beste ihrer Art” können Sie auch im Forum mitdiskutieren. Nächste Woche lesen Sie: muz-Redakteur Dominik Lapp über das Musical Tarzan.

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