Die Beste ihrer Art: Chicago (London 1998)

[Die Beste ihrer Art] In dieser Serie beschreiben muz-Autoren jeweils für ein Musical, welche CD-Aufnahme die ihrer Meinung nach relevanteste und beste ist. Heute: muz-Redakteur Hardy Heise erklärt, warum Ute Lemper und Ruthie Henshall für ihn das beste Velma-Roxy-Duo sind.

Das 1975 am Broadway uraufgeführte Jazz-Musical von John Kander (Musik), Fred Ebb (Buch und Texte) und Bob Fosse (Buch) ist eine Satire auf das US-amerikanische Gerichtssystem. Unter dem Motto “Mord ist Unterhaltung” wird hier gezeigt, dass die Mörderinnen und Vaudeville-Tänzerinnen Roxie Hart und Velma Kelly im Cook County Gefängnis in Chicago der Goldenen 1920er Jahre mit einem guten Anwalt und einer guten Show keinerlei Schwierigkeiten haben, freigesprochen zu werden und dem Tod durch Erhängen zu entgehen. Zum Welterfolg wurde “Chicago” durch das mit mehreren Preisen ausgezeichnete 1996er-Broadway-Revival. Es ging um die Welt und ist heute das erfolgreichste Musical-Revival aller Zeiten.

Es liegen fünf CD-Einspielungen der Bühnenversion in jeweils hochwertiger Qualität vor. Dazu kommt der
Soundtrack des mehrfach oscargekrönten Filmes von 2002 mit Renée Zellweger, Catherine Zeta-Jones und Richard Gere, auf dem die Protagonisten aber gesanglich ohne die Kraft der Bilder deutlich gegenüber den weiteren Aufnahmen abfallen. Außerdem fehlen im Film einige Songs wie “When Velma Takes the Stand”, “My Own Best Friend” und “Class”.

In der Original-Broadway-Aufnahme von 1975 sind Chita Rivera als Velmy Kelly, Gwen Verdon als Roxie Hart und Jerry Orbach als Billy Flynn in den Hauptrollen zu hören. Verdon singt die Roxie mit markanter, kehliger Stimme, Rivera gibt ihre Velma mit kratzig-dunklem Timbre. Velmas “I Know a Girl” und der “Hot Honey Rag” fehlen gänzlich, dazu ist “Me and My Baby” stark gekürzt worden. Diese Aufnahme ist musikalisch zurückhaltend, weniger schwungvoll und stärker bläserlastig als die Revival-Produktion von 1996, bei der Bebe Neuwirth als Velma, Ann Reinking als Roxie, James Naughton als Billy und Joel Grey als Amos Hart zu erleben sind. Diese CD kommt mit höheren Tempi, teilweise fast zu schnell daher. Dazu sind beide Aufnahmen beinahe zu schnörkellos geraten, sodass die Sänger weniger Möglichkeiten haben, ihre “persönlichen Note” herauszuarbeiten. Ann Reinking singt mit einer an Gwen Verdon erinnernden, nasalen Stimme, Bebe Neuwirth wirkt oftmals angestrengt. Die Orchestrierung der Revival-Aufnahmen aus den 1990ern mit 14 Musikern weist kaum Unterschiede auf.

Auf der 1998 in Wien aufgenommenen deutschsprachigen Version erklingen – jung und überzeugend – Anna Montanaro und Frederike Haas sowie Reinhard Fendrich als Flynn und der auf Nebenrollen abonnierte Leon van Leeuwenberg als Amos live. Montanaro verleiht Velma mit ihrer rauchigen Stimme neben aller Härte auch nachdenkliche und sogar verletzliche Züge, während Haas ihre Roxie mit sicher geführter, klarer Stimme gibt. Die von Rudi Klausnitzer überarbeitete deutsche Übersetzung von Erika Gesell und Helmut Baumann überzeugt mit Sätzen wie “Er hat’s so wollen” nicht immer. Es wäre interessant, die beiden mittlerweile gereiften Protagonistinnen heute auf einer Aufnahme zu hören. Auf der niederländischen Einspielung singen Stars wie Pia Douwes und Simone Kleinsma, sie geht aber aufgrund der sprachlichen Barriere nicht einfach ins Ohr. Es ist jedoch die einzige Gesamtaufnahme des Musicals auf zwei CDs.

Aufgrund der hervorragenden gesanglichen Leistungen der weiblichen Protagonisten ist mein Favorit allerdings der
Tonträger aus London von 1998, auf dem unter anderem Ute Lemper, Ruthie Henshall und Meg Johnson zu hören sind. Ute Lemper ist die Rolle der ordinären Velma Kelly wie auf den Leib geschneidert. Sie singt kraftvoll und mit ganz individueller Note, etwa, wenn sie das Wort “Jazz” im Kehrvers der Eröffnungsnummer langzieht. Die Lemper zieht den Hörer mit starker Stimme nachhaltig in ihren Bann.

Dazu ist die ausdrucksstarke Ruthie Henshall wunderbar als berechnende, aber auch verletzliche Roxie Hart. Beides kann sie stimmlich eindrucksvoll mit variantenreicher Färbung transportieren. Sie glänzt damit auch während ihres Monologs “Roxie, Part I” auf dieser CD. Beide Stimmen sind Erotik pur. Die damals 61-jährige Meg Johnson ist eine unglaublich präsente Mama Morton mit starker, tiefer Stimme und intensiver Interpretation. Rollendeckende Leistungen bringen Henry Goodman als Billy Flynn und Nigel Planer als Amos Hart. Das homogene Ensemble unterstützt die Solisten stimmgewaltig, vor allem bei “Cell Block Tango” und “We Both Reached For the Gun”. Das Orchester unter der Leitung von Gareth Valentine spielt rhythmisch mit starkem Swingeinfluss und stets wechselnden Tempi in bester Cabaret-Manier auf. Eine kurzweilige Aufnahme zum Zücklehnen und Genießen!
(hh)

Welche CD von “Chicago” bevorzugen Sie? Forum mitdiskutieren. Nächste Woche lesen Sie: muz-Redakteurin Claudia Leonhardt bespricht die Aufnahmen von “Aida”.

Overlay