Melissa King: Vorurteile greifen immer noch um sich

[Drei Fragen an …] Für „Show Boat“ hat Melissa King erstmals die Rolle der Regisseurin bei den Bad Hersfelder Festspielen übernommen. Das Musical verlangt ihr einiges an Feingefühl ab, denn in dem Stück geht es um interkulturelle Unterschiede – und zu seiner Entstehungszeit war diese Art der Darstellung ungewöhnlich und neu.
King berichtet in diesem Interview von ihrem Umgang mit der Thematik und der immer noch vorherrschenden rassistischen Intoleranz.

Viele bezeichnen „Show Boat“ als eines der ersten Musicals überhaupt. Was ist das Revolutionäre an diesem Stück?
In einer Zeit des amerikanischen Musicaltheaters, in der europäisch beeinflusste Operetten, Musical-Revuen wie die Ziegfield-Follies und Vaudeville-Shows die populäre Form von Unterhaltung waren, hatten Kern und Hammerstein II den Drang, ein dramatisches Musical zu entwickeln, mit einem neuen Ansatz, eine fantasievolle Neuinterpretation dessen, was ein angemessenes Thema für Musicals sein kann. Das Ergebnis dieser Bemühnungen war „Show Boat“, das erste wahre „Musical-Stück” – ein Handlungs-Musical mit einer durchgehenden und glaubwürdigen Geschichte, mit dreidimensionalen Charakteren, einer authentischen Atmosphäre, Musik, Liedtexten, Humor und Shownummern. Es zeigte eine neue Richtung für das amerikanische Musicaltheater auf, ebnete den Weg für weitere Musicals, bei denen das Zusammenspiel von Musik und Handlung noch kunstvoller und die Figuren noch realistischer gestaltet wurden.
„Show Boat“ ist auch revolutionär dahingehend, dass es als eines der ersten Stücke überhaupt mit (zu dieser Zeit) unkonventionellen Themen wie Beziehungen zwischen den Rassen und unglücklichen Ehen umging. Es war das allererste Musical, in dem ein schwarzes und ein weißes Ensemble zusammen auf einer Bühne standen. Obendrein wurden hier erstmalig ein interkulturelles Paar und eine Mischehe thematisiert – ein mutiges und lobenswertes Unterfangen der Autoren zu jener Zeit.

„Show Boat“ spielt vor dem Hintergrund der Rassendiskriminierung in den USA. Ein Skandal zur Zeit der Uraufführung. Wie ist das heutzutage? Muss man immer noch mit Vorsicht an die Geschichte herangehen, oder ist vieles heute einfach selbstverständlicher geworden?
Aus heutiger Sicht scheint „Show Boat“ etwas zu fehlen. Ich glaube das ist der Grund, warum es über die Jahre immer wieder überarbeitet und umgeschrieben wurde. Obwohl dieses Musical Themen wie Rassenmischung und Rassendiskriminierung behandelt, sind diese Probleme im Skript nach der dritten Szene nicht mehr relevant, was dazu führt, dass die afroamerikanische Stimme vermindert und zum Schweigen gebracht wird und somit die afroamerikanische Erfahrung dieser dunklen und bedrückenden Zeit trivialisiert.
Nichtsdestotrotz bringt fast jede neue Produktion von „Show Boat“ immer noch Kontroversen mit sich, und man braucht ein gewisses Maß an Feingefühl, wenn man mit dem Thema Rasse in diesem Musical umgeht. Was zu einer der ersten unausweichlichen Diskussionen führt ist das „N-Wort“. Sogar in der heutigen Zeit hat es das Potenzial zu kränken, Wut zu schüren und immer noch erhitzte Debatten zu verursachen. Die Kraft dieses Wortes hat sich über die Jahre nicht verringert, obwohl es allgegenwärtig von Rappern benutzt wird, und obwohl versucht wird, den Ausdruck in gewissen Stadtvierteln wieder zurückzuerobern.
Meine Entscheidung, dieses Wort im Musical zu gebrauchen (nachdem ich es mit meinem schwarzen Ensemble diskutiert hatte) begründet sich auf der Absicht, ein post-Reconstruction Mississippi zu zeigen, ohne die Wahrheit zu verschönen.
Obendrein gab es in der Probenzeit Momente – während wir an einer bestimmten Szene gearbeitet haben oder als das erste Mal Elemente des Bühnenbildes präsentiert wurden – in denen Ensemblemitglieder emotional reagierten. Obwohl alle vollkommen einverstanden waren mit dem, was ich zu erreichen versuchte, und somit auch meine Entscheidung unterstützen, gewisse Dinge zu zeigen, waren sie trotzdem zutiefst getroffen. Emotionen, Erinnerungen, Schmerz und ein Gefühl von Unrecht, das ihnen selbst oder ihren Familienmitgliedern widerfahren war, brachen hervor. Die Geschichten waren leider zahlreich.
Während wir „Show Boat“ diskutierten, sagten viele Leute: „Ja, wir dürfen nicht vergessen, denn die Zeiten rassistischer Intoleranz sind gar nicht so lange her“ – worauf ich antworte: „Wacht auf, Leute, es gibt sie noch heute.“ Schreckliche Ereignisse, verursacht durch rassistische Vorurteile, greifen immer noch wild um sich, sogar im Obama-als-Präsident-Zeitalter. Nicht nur rassistische Diskriminierung, sondern Unterdrückung von Menschen aufgrund ihrer religiösen Unterschiede, Sexismus und sexueller Orientierung. Und diese Probleme existieren nicht alleine in Amerika. Man könnte ganz einfach Natchez, Missisippi mit Kasachstan, Pakistan, Sudan, Bolivien, unzählige Länder in Afrika, sogar mit Bad Hersfeld (Amazon.de) ersetzen.
Also, ja, man muss an „Show Boat“ immer noch mit einem gewissen Maß an Vorsicht herangehen. Obwohl dieses Musical heute weniger skandalös erscheint als zu der Zeit, als es Premiere feierte 1927, hat seine Wirkung, leichte und fröhliche Szenen (im Zusammenspiel mit der wunderbaren Partitur) in Gegensatz zu menschlichem Leid zu stellen, immer noch das Potenzial, zum Nachdenken anzuregen.

Von Hause aus sind Sie ja Choreografin. Sie haben bereits bei der „West Side Story“ in Bad Hersfeld die Choreografie übernommen. Bei „Show Boat“ sind Sie nun für die Regie verantwortlich. Was macht die Arbeit als Regisseurin für Sie attraktiv?
Es war immer wichtig für mich als Choreografin, nicht nur Schritte und Nummern zu schaffen, sondern ein integrierter Teil des kreativen Prozesses von ground zero an zu sein. Jedes Musical zu erforschen und involviert zu sein, vom ersten Brainstroming mit dem Regisseur und den anderen Kreativen, einen durch den Prozess andauernden Dialog über das Musical als Ganzes zu führen und die Dramaturgie jeder Nummer zu durchdenken – diese Dinge waren immer viel spannender als nur die Tanzschritte selbst.
Es ist der gleiche Prozess, den ich als Regisseurin durchmache, nur ist es viel umfassender, und die Verantwortung ist bei weitem größer. Im Gegensatz dazu, eine Komponente zu sein, die ihren Teil zu einer Vision beiträgt, ist es meine Vision und Absicht, die ich versuche zu verwirklichen. Obwohl dieser Gedanke manchmal überwältigend erscheint, ist er nichtsdestotrotz beglückend. Und dann gibt es den Probenprozess: die Schauspieler zu führen, zu beobachten und ihnen in ihrer Entwicklung zu helfen, sie zu verstehen und ihre Interpretation der Rollen; ein Umfeld zu schaffen, in dem Vertrauen und Respekt herrscht und dadurch dem Ensemble erlauben, aus der „Komfort-Zone“ herauszutreten, Risiken einzugehen und zu fragen, erörtern, auszuprobieren und Dinge zuzulassen; einen offenen Dialog führen und sich auszutauschen… zu inspirieren und von den Darstellern inspiriert zu werden … Ah, das ist wahres Glück!
Speziell bei „Show Boat“ muss ich zugeben, dass ich am Anfang den Fehler machte, dieses Musical leichtfertig als alten Klassiker abzutun. In das Musical einzutauchen, in den Roman und die ausführlichen Analysen, die über „Show Boat“ geschrieben wurden, das Bemühen, dieses Musical auf eine Art zu zeigen, dass es eine Dringlichkeit besitzt, und das Publikum zu berühren und hoffentlich nachdenklich zu machen, war sehr reizvoll. Als Amerikanerin gemischter Rassen fühle ich mich verantwortlich, der afroamerikanischen Erfahrung in diesem Musical eine Stimme und Würde zu verleihen, ohne zu versuchen, ein großes politisches Statement zu setzen, eine Moralpredigt zu führen und ohne das Stück neu zu erfinden. Dieser Prozess war eine Herausforderung und oh so befriedigend.

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