Das Jahr der US-Importe und Revivals in London: Selten gab es so viele neue Produktionen und doch so wenig wirklich Neues auf den Bühnen der britischen Hauptstadt. 2006 war aus künstlerischer Sicht ein schwaches Jahr für die Briten.
Nachdem die ersten Monate des Jahres 2006 in London ohne erwähnenswerte Musical-Premieren verlaufen waren, erreichte in der zweiten Jahreshälfte eine Flut neuer Produktionen das West End. Dabei handelte es sich jedoch nicht um Uraufführungen von Stücken aus britischer Hand. Stattdessen gab es vor allem Musicals vom New Yorker Broadway, die in ihren Originalinszenierungen auf die Londoner Bühnen kopiert wurden, sowie Revivals bekannter Klassiker – zwei überraschend unkreative Trends für eine Stadt, die einst Geburtsstätte von Welterfolgen wie Cats war.
Bei den US-Importen machte Avenue Q (seit 28. Juni im Noel Coward Theatre) den Anfang. Die freche Handpuppen-Satire wurde für den europäischen Markt nur leicht verändert, und die guten Verkaufszahlen bewiesen, dass amerikanische Gags mit dem berüchtigten Humor der Briten kompatibel sein können. Im Herbst erreichte auch Wicked (seit 27. September im Apollo Victoria Theatre) das West End. Am Broadway ist das Märchen-Musical von Stephen Schwartz seit 2003 ein Hit und so fieberten viele Musicalfans der Europapremiere entgegen. Die Beurteilung der britischen Fachpresse war eher verhalten, das Publikum hingegen scheint die Show genauso zu lieben wie die Amerikaner. Ein weiterer Broadway-Import war die Ritter-Komödie Spamalot (seit 16. Oktober im Palace Theatre). Dass diese genau den Geschmack der Briten traf, ist nicht verwunderlich, basiert sie doch auf den Späßen der bekannten britischen Komikertruppe Monty Python.
Weniger erfolgreich war hingegen der Transfer der Tanz-Show Movin‘ Out , die am Broadway mit zwei Tony Awards ausgezeichnet worden war. In London sollte die Show mit den Hits des Sängers Billy Joel von April bis Juli die Spielpause vor dem Umbau für „Wicked“ im Apollo Victoria Theatre überbrücken, aber mangels Zuschauerinteresses wurde sie bereits im Mai wieder abgesetzt.
Nicht nur große Ensuite-Produktionen schafften 2006 den Sprung über den Atlantik, auch kleinere Stücke mit begrenzter Spielzeit wurden erstmals in London gezeigt. Menier’s Chocolate Factory nahm das Zwei-Personen-Musical The Last Five Years von Jason Robert Brown (25. Juli bis 30. September) in den Spielplan auf, und das Royal National Theatre brachte das anspruchsvolle Melodram Caroline, or Change (19. Oktober bis 4. Januar 2007) auf die Bühne.
Um den amerikanischen Shows auch am West End zu einem guten Start zu verhelfen, wurden in den meisten Fällen auch gleich noch die Hauptdarsteller vom Broadway importiert. So verstärkten Ann Harada (Christmas Eve in „Avenue Q“), Idina Menzel (Elphaba in „Wicked“) und Tonya Pinkins (Caroline in „Caroline, or Change“) ihre Londoner Kollegen. „Spamalot“ bekam mit Tim Curry und Christopher Sieber doppelt Unterstützung vom Broadway, der Flop „Movin‘ Out“ mit Ron Todorowski, David Gomez und Holly Cruikshank sogar gleich dreifach.
Etwas aus dem Rahmen fällt die Bühnenadaption des Films Dirty Dancing (seit 24. Oktober im Aldwych Theatre), stammt sie doch nicht aus den USA, sondern aus Australien. Dass sie am West End einen neuen Vorverkaufsrekord aufstellte, ist sicher nicht dem weitgehend unbekannten Hauptdarsteller Josef Brown zu verdanken, der – natürlich – schon in der australischen Originalproduktion zu sehen war, sondern dem zugkräftigen Titel.
Neben den Klon-Produktionen stand ein weiterer Trend: Revivals alter Klassiker erfreuten sich 2006 in Großbritannien großer Beliebtheit. So kehrte der Kander/Ebb-Klassiker Cabaret (seit 10. Oktober im Lyric Theatre) in einer düsteren Inszenierung von Rufus Norris ins West End zurück. Trevor Nunn setzte Gershwins Porgy & Bess (seit 9. November im Savoy Theatre) neu in Szene.
Auch der erfolgreichste britische Musical-Komponist, Andrew Lloyd Webber, vertraute auf Bewährtes. Er brachte Evita (seit 21. Juni im Adelphi Theatre) erneut auf eine große Londoner Bühne und produzierte ein Revival des Rodgers/Hammerstein-Klassikers The Sound of Music (seit 15. November im London Palladium), für das er als Jury-Mitglied einer TV-Sendung die Hauptdarstellerin auswählte. Außerdem wurde eines seiner jüngeren Werke, Whistle Down the Wind, von März bis August im Palace Theatre wiederbelebt. Weitere Revivals, die nur für eine begrenzte Spielzeit angesetzt waren, waren Mack & Mabel (10. April bis 1. Juli im Criterion Theatre) und Little Shop of Horrors (17. November bis 25. Februar 2007 in Menier’s Chocolate Factory). Besonders erfolgreich war Stephen Sondheims Sunday in the Park with George (23. Mai bis 2. September im Wyndham’s Theatre), das seine geplante Laufzeit wegen der großen Nachfrage um sechs Wochen verlängerte.
Zwei Produktionen versuchten, im Anschluss an ihre Tourneen durch Großbritannien für längere Zeit Station im West End zu machen: Die Bühnenadaption des Musicalfilms Seven Brides for Seven Brothers (16. August bis 18. November im Haymarket Theatre) und Footloose (12. April bis 11. November im Novello Theatre). Beide Musicals konnten sich nicht dauerhaft etablieren.
Wer darauf gehofft hatte, in London die Uraufführungen neuer Großproduktionen erleben zu können, dem bot sich 2006 eine sehr dürftige Auswahl. Völlig neu waren lediglich die Konzert-Show „Sinatra“ (8. März bis 16. September im London Palladium), bei der der Namensgeber per Videoprojektion eingeblendet wurde, und „Daddy Cool“ (seit 21. September im Shaftesbury Theatre), eine Compilation-Show des deutschen Produzenten Frank Farian mit den Hits der 1970er-Jahre-Band Boney M.
Natürlich bekam das West End im Jahr 2006 nicht nur Zuwachs. Einige Shows verabschiedeten sich auch (vorerst) aus London. Andrew Lloyd Webbers viktorianischer Mystery-Thriller The Woman in White (Derniere am 25. Februar) floppte nach 18-monatiger Laufzeit im Palace Theatre. Für Saturday Night Fever fiel am 18. Februar nach eineinhalb Jahren der letzte Vorhang im Apollo Victoria Theatre. Außerdem mussten Fame (Derniere am 29. April im Aldwych Theatre) und The Rat Pack (Derniere am 12. August im Savoy Theatre) ihre Behausungen für neue Produktionen räumen.
Andere Musicals behaupteten sich hingegen weiterhin tapfer gegen die neue Konkurrenz. Am 8. Oktober feierte Les Misérables seinen 21. Geburtstag und überholte somit „Cats“ als das Musical mit der längsten Laufzeit am West End. Dicht auf den Fersen der Elenden hält sich Andrew Lloyd Webbers The Phantom of the Opera, das sein 20. Jahr in London erreichte. Auf Platz drei liegt das Willy-Russell-Musical Blood Brothers mit 18-jähriger Laufzeit, das 2006 prominente Unterstützung von Antony Costa, einem Ex-Mitglied der Boygroup „Blue“, bekam.
Auch andere Ensuite-Produktionen setzten auf Gaststars. So war der Popsänger David Essex als Reverend Shaw in „Footloose“ zu sehen, der Hollywood-Star Patrick Swayze spielte den Nathan Detroit in Guys & Dolls und die US-Sängerin Ashlee Simpson schlüpfte in die Rolle der Roxie Hart in Chicago.
Insgesamt gab es in London auch 2006 wieder ein vielfältiges Musical-Angebot. Schade ist nur, dass dabei kaum neue Impulse aus Großbritannien selbst kamen. Ein Erfolg wie Elton Johns Billy Elliot, das bereits 2005 Premiere gefeiert hatte und 2006 mit vier Laurence-Olivier-Awards (unter anderem: Bestes Musical und Bester Hauptdarsteller) ausgezeichnet wurde, blieb aus.