Szenenbild (© karenina-musical.ru)
Szenenbild (© karenina-musical.ru)

"Anna Karenina" in Moskau: Mehr fürs Auge als fürs Herz

 

Unser Gastautor Björn Herrmann war in Moskau unterwegs, wo aktuell die Musicaladaption des Literaturklassikers “Anna Karenina” in opulenter Inszenierung zu sehen ist. Kann das Drama-Musical made in Russia begeistern?

Musicalstadt Moskau? Auch in der russischen Metropole ist das Genre inzwischen nicht nur eine Randerscheinung. Eine Handvoll Theater spielen westliche Stücke in russischer Übersetzung, auch die ersten originär russischen Stoffe haben inzwischen ihre Umsetzung auf die Musicalbühne gefunden. Seit 2012 ist Stage Entertainment an der Moskwa aktiv und hat im denkmalgeschützten Theater Rossia, dem ehemals größten Kinosaal der Sowjetunion und im MDM-Theater, dem ehemaligen Kongresspalast der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol unter anderem “Das Phantom der Oper”, “Tanz der Vampire” und “Ghost” auf die Bühne gebracht. Aktuell ist die Musicalbespielung allerdings ausgesetzt. Dafür ist im spektakulären sternförmigen Theater der russischen Armee ensuite die als 3-D-Musical angekündigte russischsprachige Version des polnischen Stückes “Pola Negri” zu sehen und das Mossovet-Theater hat für 2019 “Jesus Christ Superstar” und “Jekyll and Hyde” auf den Spielplan genommen.

Die populärste Produktion in der Hauptstadt ist aktuell eine Musicalversion des russischen Literatur-Klassikers “Anna Karenina” von Lew Tolstoi im Akademischen Operettentheater, das im Stadtzentrum gleich ums Eck vom legendären Bolschoi-Theater liegt. Das Stück ist dort seit 2016 mit geringen Unterbrechungen ensuite zu sehen.

Die Aufgabe, die über 1000 Seiten der Romanvorlage für die Bühne zu bearbeiten, hatte der Literat und ehemalige Dissident Juliij Kim; die Musik schrieb Roman Ignatjew. Beide zeichneten bereits für die Umsetzung der Eigenproduktionen “Monte Cristo” und “Orlow” verantwortlich, die seit 2008 im selben Theater zu sehen waren.

Die Autoren reduzieren die opulente Originalhandlung des 1877/78 erstmals veröffentlichen Romans auf deren prägende Beziehungsgeschichten. Im Mittelpunkt steht die weibliche Hauptfigur Anna Karenina, die sich zwischen ihrem Ehemann, dem Staatsbeamten Karenin und ihrem Geliebten Graf Wronskij, entscheiden muss. Ihr innerer Kampf zwischen wahrer Liebe und Pflichtbewusstsein gegenüber Ehemann und Sohn, führt dazu, dass die Protagonistin immer mehr dem Wahnsinn verfällt und auf ein tragisches Ende zusteuert. Als Nebenhandlung wird die Geschichte ihrer Nichte Kitty erzählt, die zunächst ebenfalls Wronskij zugetan ist, später aber den Gutsbesitzer Ljewin heiratet. Neben den üppigen Ballsälen St. Petersburgs sind immer wieder Bahnhöfe und auch das Landgut Ljewins Schauplätze der Handlung.

Der zu Herzen gehende Stoff ist einer der großen Klassiker der russischsprachigen Literatur und so gut wie jedem Einheimischen bekannt. Für auswärtige Besucher wird dankenswerterweise im schön fotografierten Programmheft eine englischsprachige Synopse bereitgehalten, um der Handlung folgen zu können.

Unverkennbar orientiert sich die Musicaladaption am westlichen Genre des Drama-Musicals. So gibt es einen leitmotivisch auftretenden Erzähler, der als sinistrer Bahnhofsvorsteher immer wieder den Vorboten des kommenden Unheils gibt. Neben festlich arrangierten Bällen werden stimmungsvolle Eislaufszenen und dramatisch akzentuierte Alpträume im Setting der Bahnhöfe eingesetzt, die stilistisch mehr als nur einmal an “Mozart!” erinnern. Dazu kommen ländliche Gelage der Bauern und die vermutlich weltweit erste Modern-Choreographie, die mit Sensen und Strohhocken getanzt wird. In den Hauptrollen sind bekannte russische Musicaldarsteller zu sehen; auch Ivan Ozhogin (Graf Krolock im Berliner “Tanz der Vampire”) stand schon als Wronskij auf der Bühne.

Im Orchestergraben des wunderschönen, wenn auch etwas renovierungsbedürftigen Operettentheaters spielt ein veritables 20-Mann-Orchester live. Licht- und Tontechnik sind erstklassig.

Dennoch vermag der Abend nicht zu fesseln und den Zuschauer zum Mitleiden zu animieren. Das liegt zunächst einmal an der belanglosen Partitur. Die üppig instrumentierten und von den Produzenten als “Symphonic Rock” apostrophierten Musiknummern sind austauschbar und bleiben nicht im Ohr. Abgesehen vom Leitmotiv “Damoi” (“Nach Hause”), das immer wieder einmal durchklingt und zumindest in Erinnerung bleibt, sind Soli, Duette und auch die raren Chornummern ein einziger Klangbrei ohne Wiedererkennungswert. Auch wenn die Solisten hervorragend singen, erreichen sie damit nicht das Herz des Zuschauers; die Musik berührt nicht.

Ein zweiter Grund ist das eindrucksvolle, aber seelenlose Bühnenbild, das so manches Mal die Protagonisten förmlich erschlägt. Vier gußeiserne Hubpodien fahren beinahe ununterbrochen über die Bühne und sind mal Bahnhofshalle, mal Brücke oder Balkonempore in Karenins Haus. Dazu kommen computergenerierte Großprojektionen der Schauplätze, deren Stil zwischen fotorealistisch oder kunstvoll verfremdet variiert und die gerade deshalb keinen rechten Zauber entfalten können. Ab und an werden, dem Leitmotiv des sich immer weiter drehenden Rades des Lebens folgend, riesige Eisenbahnräder aus dem Bühnenhimmel gefahren, die zusammen mit einer üppig flackernden Lichtshow den Albtraumszenen Dramatik verleihen sollen und einen Schuss Steampunk in die Show bringen.

Zwischen all diesen Zutaten wirken die Darsteller oft verloren und im kalten Licht der hochmodernen LED-Lichttechnik allzu leblos. Selbst die einzig berührende Szene, in der Karenin nach dem heimlichen nächtlichen Besuch Annas bei ihrem gemeinsamen Sohn das verstörte Kind in den Arm nimmt und mit ihm im Dunkel verschwindet, wird von herumfahrenden Hubpodien dominiert und ihrer Wirkung beraubt. Leider kann sich so nie eine Identifikation mit den Charakteren herausbilden. Nur selten war moderne Bühnentechnik so störend wie in dieser Produktion.

Dennoch – bei allen erwähnten Schwächen der Inszenierung sind das eindrucksvolle Theater, das opulente Orchester und das hervorragende Bühnenhandwerk der Darsteller und Tänzer schon allein einen Besuch wert. Die Eintrittspreise bewegen sich auf dem Niveau deutscher Stadttheater und auch der nicht-russischsprachige Zuschauer kann der Handlung mühelos folgen.

 
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