Einmal pro Monat werde ich mich in meinen Fernsehsessel setzen und mir für euch einen Musicalfilm ansehen. Da werden bekannte Streifen dabei sein, aber auch Unbekanntes oder Vergessenes.
In Zeiten hoher Spritpreise, wo sich womöglich nicht wenige überlegen, komplett auf den öffentlichen Nahverkehr umzusteigen, habe ich mir „Linie 1“ für meinen nächsten Fernsehsessel-Abend ausgesucht.
Es ist wirklich schon sehr lange her, dass ich dieses Musical zuletzt gesehen habe. Ich war gespannt, ob es immer noch funktioniert oder zu sehr im Westberlin der 1980er Jahre steckengeblieben ist. Überraschenderweise ist das Musical sogar ziemlich gut gealtert. Die Typen in der Bahn sind heute noch die gleichen wie vor 35 Jahren. Nur die Wilmersdorfer Witwen dürften mittlerweile ausgestorben sein. Die filmische Umsetzung ist dagegen… naja… sagen wir mal: „Man hat sich bemüht.“
Die junge Sunnie (im Stück ist sie nur „das Mädchen“) kommt aus der Provinz nach Berlin, um den Rocksänger Johnnie zu suchen, von dem sie ein Kind erwartet. Er hat ihr eine Adresse in Kreuzberg gegeben, deshalb landet sie in der titelgebenden U-Bahn-Linie und trifft dort auf Punker, Obdachlose, Kriminelle und schräge Typen. Der durchgehende Handlungsfaden ist ziemlich dünn. Episode reiht sich an Episode, Begegnung an Begegnung; mal kabarettistisch, mal albern, mal dramatisch. Der ursprüngliche Untertitel „eine musikalische Revue“ trifft es auch besser als die Gattungsbezeichnung „Musical“.
Was im Theater mit einem oft ziemlich improvisierten Bühnenbild gut läuft, tut sich in der Filmversion schwer. Der Film konnte nicht an Originalschauplätzen gedreht werden, also mussten die U-Bahnhöfe im Studio aufwändig nachgebaut werden. Man mietete zwar einen richtigen U-Bahn-Zug, doch der war zur schwer für die Studio-Statik. Deswegen wurde das Fahrgestell ausgebaut und statt des Zugs fuhren nun die Bahnsteige. Also immer, wenn die Bahn „fährt“, wurde der Hintergrund mit Mann und Maus bewegt. Bis auf sehr kurze Momente aus dem echten Berlin, wurde alles im Studio gedreht. Die Idee, eine bewusst eigene Welt zu kreieren, klingt theoretisch gut, auch wenn die Authentizität auf der Strecke bleibt. Die entstandene leicht surreale, aber trockene Atmosphäre mit bemalten Kulissen hat mich nicht überzeugt.
Reinhard Hauff hatte 1986 mit dem RAF-Drama „Stammheim“ den Goldenen Bären gewonnen, galt also als „politischer Regisseur“, wobei er aber seine ersten Erfahrungen in den 1960er Jahren bei Fernsehshows gemacht hat. Die Verbindung von politisch-ambitioniertem Kino mit musikalisch-szenischer Praxis schien ihn wohl zur Idealbesetzung für den Regiestuhl gemacht zu haben. Leider sehen besonders die Tanzszenen nach altbackenem, aber auf „cool“ getrimmtem Fernsehballett aus. Erzählerisch verbindet Hauff die wenigsten Episoden miteinander. Die meisten folgen lieblos plump einer nach der anderen. Es wirkt, als sei der Film radikal gekürzt worden, ohne sich um Übergänge zu scheren.
Hauff hat zusammen mit dem Autor der Vorlage, Volker Ludwig, das Drehbuch geschrieben. Seine Mitarbeit habe sich – laut Interview auf der DVD – aber auf die filmischen Aspekte beschränkt, inhaltlich habe er alles Ludwig überlassen. Das abgeänderte Ende verwundert ein bisschen. Im Stück kommt Sunnie / „das Mädchen“ mit dem „Jungen im Trenchcoat“ zusammen. Sie treffen im Laufe der Geschichte mehrfach aufeinander und so konnte man – zumindest in den Inszenierungen, die ich gesehen habe – eine Annäherung bemerken. Im Film kommt Sunnie ziemlich plötzlich mit dem Punker Kleister zusammen, als hätte man jetzt schnell einen Schluss mit Happy End gebraucht.
Dass Songs in Verfilmungen weggelassen oder ausgetauscht werden, ist nichts Ungewöhnliches. Ich bedauere trotzdem, dass das atmosphärische „6 Uhr 14 – Bahnhof Zoo“ gestrichen wurde. Auch gefällt mir „Tag, ich hasse dich“ besser als dessen Ersatz „Berlin Berlin“. Und warum wurde die Melodie von „Wenn die Liebe erwacht“ ausgetauscht? Das ist zwar auch im Film noch recht peppig, aber viel braver als das rotzig-rockige Original. Bei den Liedern schmerzt besonders, dass das Playback der Songs oft nicht lippensynchron ist.
Wenigstens darstellerisch hat die Produktion vieles richtig gemacht. Das Ensemble besteht fast vollständig aus der Originalbesetzung des GRIPS-Theaters. Nur die Hauptdarstellerin wurde ausgetauscht. Bei Nahaufnahmen sei bei der Original-Darstellerin das junge Mädchen nicht mehr glaubhaft gewesen. Inka Groetschel wurde von Regisseur Hauff an einem Imbiss entdeckt. Sie schlägt sich recht wacker, bleibt aber blass. Schon in der Bühnenfassung ist diese Rolle ziemlich undankbar. Sie ist das Herz der Geschichte, die Identifikationsfigur des Publikums, das mit ihr in den Mikrokosmos der Berliner U-Bahn eintaucht und sich, genau wie sie, zurechtfinden muss. Die Figuren, die sie dort trifft, sind jedoch alle viel lauter, durchgeknallter und präsenter als sie. Diese werden von den großartig wandelbaren GRIPS-Veteranen in dem typischen Stil dieses Theaters ein bisschen zu übertrieben dargestellt, aber das bringt Tempo in den Film und passt sehr gut.
Man sieht diesem Film seine Ambitionen an, aber das Ergebnis ist nicht rund. Zu künstlich, zu aufgesetzt, zu gewollt und zu zahm.
„Linie 1“ hat 1988 die Berliner Filmfestspiele eröffnet. Da muss eine gehörige Portion Lokalpatriotismus im Spiel gewesen sein.
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