Taboo
London / 2003

Das schrille 80er-Jahre Musical von und mit Boy George als Live-Mitschnitt aus dem Londoner “Venue” Theater.


Braucht die Welt ein Musical auf DVD, das in London und am Broadway nach relativ kurzen Laufzeiten wegen Besuchermangels schließen musste? „Taboo” polarisiert die Musicalzuschauer genauso wie der Macher dieser Show, George O´Dowd, der in der Popmusik-Szene der 80er Jahre als „Boy George” entweder geliebt oder gehasst wurde.Was O´Dowd hier veröffentlicht hat, ist ein Live-Mitschnitt der Premierenversion seines Musicals aus dem kleinen Londoner „Venue” Theater. Beim ersten flüchtigen Anspielen der Tracks kann man leicht den Eindruck gewinnen, man habe es hier mit einem bunten, oberflächlichen Travestie-Spektakel aus den 80er Jahren zu tun. Wer sich aber das komplette Musical aufmerksam ansieht, dem wird auffallen, dass hier auch eine Geschichte mit Tiefgang erzählt wird. Das Buch von Mark Davies kombiniert eine fiktive Geschichte mit den realen Charakteren der ausgeflippten „New Romantics”-Szene. Zu diesen exzentrischen Persönlichkeiten, die sich in den 80er Jahren regelmäßig in Londoner Nachtclubs versammelten, zählen beispielsweise der junge Boy George, die Musiker Marilyn und Steve Strange, sowie der australische Performance Künstler Leigh Bowrey, der sich selbst als lebendes Kunstwerk sieht.

„Taboo” zeigt, wie die Medien auf diese skurilen Gestalten aufmerksam werden, wie sie berühmt werden, aber nach einiger Zeit im Rampenlicht plötzlich wieder „out of fashion” sind.Dass innerhalb dieser Szene häufig über gleichgeschlechtliche sexuelle Praktiken gesprochen und gesungen wird, von denen ein Großteil der Zuschauer vermutlich noch nie etwas gehört hat, mag sicherlich nicht jedermanns Geschmack sein. Auch mögen beschwingte Songs wie „Guttersnipe”, in dem zwei grell geschminkte junge Männer von Karrieren als „Pop-Diven” träumen, beim eher konservativen Publikum für etwas Irritierung sorgen. Fakt ist jedoch, dass „Taboo” trotz aller zweideutigen Späße, auch die Schattenseiten des exzessiven Lebensstils darstellt.

In den eingängigen Balladen „Pretty Lies” und „Stranger In This World” wird deutlich, dass all die Schminke und die auffälligen Outfits für den jungen Boy George nur ein Mittel sind, seine Unsicherheiten in Bezug auf seine eigene Identität zu verbergen. Das offensive „anders sein” ist für ihn die einzige Möglichkeit, die Anerkennung einer Gesellschaft zu bekommen, in der er sonst aufgrund seiner recht offensichtlichen Homosexualität wenig Chancen auf Erfolg hätte.

O´Dowd zeichnet durchaus kritisches Bild seiner eigenen Jugend, wenn er im zweiten Akt zeigt, wie Boy George mehr und mehr den Drogen verfällt als der Rummel um seine Person nachlässt.

Auch die Tatsache, dass Leigh Bowreys sexuelle Freizügigkeit letztendlich mit einem qualvollen AIDS-Tod bestraft wird, macht klar, dass „Taboo” keine fröhliche Hommage an die 80er Jahre ist. Vielmehr regt O´Dowd zum Nachdenken an, indem er die Tragik hinter den nach außen hin so lebensfrohen Menschen auf die Bühne bringt.Die bekannten Boy George-Hits kommen in „Taboo” nur am Rande vor. Den größten Teil der abwechslungsreichen Musik hat O´Dowd für das Musical neu komponiert. Ob Ballade oder schnellerer Rock-/Pop-Song: spätestens nach dem zweiten Hören bekommt man sie nicht mehr aus dem Kopf.Auch durch die Besetzung kann diese DVD-Veröffentlichung auf voller Linie punkten. Selten bekommt man so viele außergewöhnlich guten Darsteller auf der selben Musicalbühne zu sehen.

Luke Evans, Lyn Paul und Paul Baker überzeugen nicht nur durch unverwechselbare Stimmen, sondern kommen auch schauspielerisch sowohl in lustigen als auch in tragischen Momenten völlig glaubwürdig rüber.

Euan Morton als junger Boy George sieht dem Original sehr ähnlich, singt und spielt aber wesentlich ausdrucksstärker.

O´Dowd höchstpersönlich ist als Leigh Bowrey zu sehen und hat sichtlich Spaß daran, sich in den aller grellsten Kostümen zu präsentieren.

Der hier zu Lande aus „Cats” und „Rent” bekannte John Partridge wirkt zwar vom Körperbau her etwas ungewohnt im „kleinen Schwarzen”, kann den Zuschauer aber durch Gesten, Mimik und sein freches Mundwerk als schrille Marilyn amüsieren.Die intime Atmosphäre des kleinen „Venue” Theaters, in welchem es keine fest definierte Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum gibt, ist perfekt eingefangen, so dass die dargestellten Schicksale auch über die Mattscheibe nicht an ihrer berührenden Wirkung verlieren.

Andererseits liegt in der einfachen Räumlichkeit auch das Problem dieser DVD. Beispielsweise ließ es sich offenbar nicht vermeiden, dass ab und zu ein Kameramann mit ins Bild rutscht, wenn die Charaktere durch die Zuschauergänge laufen.

Ein weiteres Manko: im Publikum klingelt ein Handy, ausgerechnet während die Muse Big Sue die ergreifende Ballade „Il Adore” am Bett des sterbenden Leigh Bowrey singt. Das fällt jedoch nur bei ganz genauem Hinhören auf. Neben einem kurzen Live-Konzert von Boy George und einem Videoclip des Taboo-Songs „Ich bin Kunst”, kann man sich die komplette Show auch mit den Kommentaren des Machers ansehen. Außerdem gibt es noch Impressionen aus dem überschaubaren Backstagebereich. Sehenswert sind diese vor allem für Fans von John Partridge, der sich hier mal recht zeigefreudig gibt. Auch wenn „Taboo” nicht jedem gefällt: diese einzigartige Show ist eine spannende Abwechslung zu den familientauglichen Musicals a la Disney, und deshalb braucht die Welt diese DVD unbedingt!

Overlay