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Ausufernde Orchestrierungen und ein riesiges Ensemble trifft man an deutschen Musicalbühnen leider nur noch selten. Nichts Geringeres sieht allerdings das für seine Zeit revolutionäre Musical und ungewohnt poetische „Follies“ von Stephen Sondheim vor. Dem gerecht zu werden ist eine solch einschüchternde Herausforderung, dass viele Theater sich nicht an dieses Stück heranwagen. In seiner letzten Spielzeit wagt Intendant Uwe Eric Laufenberg am Staatstheater Wiesbaden genau dieses prekäre Unterfangen – mit triumphalem Erfolg!
Die Handlung des zwischen Kult und Klassiker stehenden Bühnenspektakels war für die 1970er, in denen „Follies“ erstmals aufgeführt wurde, bahnbrechend. Weg von oberflächlichen Gute-Laune-Showmusicals und seichten Romanzen, hin zu Werken mit inhaltlicher Tiefe, Geist und Menschlichkeit. Alternde ehemalige Showgirls treffen sich in ihrem früheren, zum Abriss verdammten Club und lassen alte Zeiten – und alte Liebschaften – im wahrsten Sinne des Wortes „Revue“ passieren. Dabei werden verloren geglaubte Emotionen geweckt, Sehnsüchte genährt und Träume neu geträumt – aber es treten auch düstere Obsessionen, Neurosen und gescheiterte Lebenspläne ans Tageslicht. Charakterlich komplex und tiefsinnig, aber trotzdem glitzernd-funkelnd und prunkvoll kommt „Follies“ in Wiesbaden daher. Tom Gerbers Inszenierung und Florian Delvos Dramaturgie zeichnen einen Klassiker neu, machen ihn für eingefleischte Musicalfans und Theater-Neulinge gleichermaßen greifbar – mit zahlreichen innovativen Einfällen, ohne dabei die Bodenhaftung und das melancholische Gefühl des Originals zu verlieren.
Auf der von Bettina Neuhaus designten Bühne in der Optik eines heruntergekommenen Revuetheaters ist nahezu ständig Trubel und immer gibt es etwas zu entdecken: Dass das Stück sich während einer lebhaften Party abspielt, ist jederzeit zu sehen. Geladene Gäste, allesamt ehemalige Showgirls und ihre Partner, unterhalten sich, tanzen zusammen, lachen und schäkern mit den Kellnern und Barkeepern. Eine Jazzband spielt in einer Ecke neben dem Tanzparkett Live-Musik. Die Kostüme glitzern. Ab und zu wird ein Showgirl von einem Kameramann zu dem großen „Damals“ interviewt – was für das Publikum live in Großformat auf Leinwand übertragen wird. Manchmal zieht sich die eine oder andere Grande Dame in eine Ecke Backstage, an einen alten Schminktisch oder ins ehemalige Auditorium des Theaters zurück. Durch Drehung der Bühne werden weitere Schauplätze offenbart: Die Stage Door, ein schummriger Hinterhof oder die Garderobe des Theaters. Draußen fährt in einigen Szenen ein echter Oldtimer vor. Für Show-Auftritte wird der große Vorhang der realen Bühne effektvoll genutzt. Darsteller betreten die Balkons neben der Bühne und beobachten das Geschehen. Ein absolut stimmiges, facettenreiches und detailverliebtes Bühnenbild, das sich darüber hinaus die Gegebenheiten vor Ort gekonnt zu eigen macht.
Auch die Kostüme von Jannik Kurz reihen sich in diesen überaus positiven Eindruck ein. Glamouröse Revue-Kostüme vergangener Zeiten wechseln sich mit frivolen und gewagten Show-Kostümen ab und jede der im Zentrum der Handlung stehenden Diven wird zur Feier ihres Abschiedsabends so eingekleidet, dass sich schon auf den ersten Blick – gemäß dem Motto „Kleider machen Leute“ – erahnen lässt, welche Charakterzüge, Vergangenheit und Wertvorstellungen die Damen wohl zutage bringen werden. Im zweiten Akt, als die vier Protagonisten in ihre „Follies“ genannten, als Revue-Nummern performten Monologe übergehen, greift Jannik Kurzs Kostüm-Gesamtbild noch einmal in die Vollen und zeigt, dass Glamour und Camp sehr nahe beieinander liegen können. Großes Kino sind auch die Choreographien von Myriam Lifka. Lifkas Stärke liegt in der tänzerischen Inszenierung der großen Shownummern, die vor Prunk und Grazie nur so strotzen. Doch auch Comedy lässt sie in die Choreographien en Masse einfließen: Marionettenartige Bewegungen, sexy-anrüchige Tanzmoves und Slapstick-artige Bewegungsabfolgen funktionieren allesamt erfolgreich. Genau wie die klassische, große Stepp-Nummer im ersten Akt, die zu den choreographischen Highlights gehört!
Ein wunderbares, fast schon verschwenderisch groß klingendes Orchester im Graben mit einer Showband-Extension auf der Bühne vertont Sondheims musikalisch hochkomplexe Partitur virtuos, facettenreich und sehr stimmungsvoll. Sowohl die großen Revuenummern als auch die ruhigeren, gefühlvollen Balladen meistern die Musiker unter Albert Horne als musikalischen Leiter makellos. Leider wird die Tontechnik weder dem Orchester noch dem Darsteller-Ensemble gerecht: Zahlreiche Tonaussetzer, Timingprobleme und eine insgesamt recht leise und dumpfe Akustik trüben leider den musikalischen Gesamteindruck.
Das riesige Ensemble auf der Bühne, bestehend aus acht Hauptrollen, weiteren acht größeren Nebenrollen, knapp unter 20 weiteren Darstellern, Chorsolisten des Hessischen Staatstheaters, Statisten sowie den vier Bühnenmusikern addiert sich auf rund 45 Bühnenakteure. Eine ungewohnt große Zahl, die an längst vergangen geglaubte, goldene Zeiten in der Musicalwelt erinnert und absolut zu begeistern weiß. Wo man auch hinschaut, fängt das Auge spiel- und tanzfreudige virtuose Darsteller und Sänger ein. Ein zu jeder Zeit grandioses Bild!
Als besonders beeindruckend erweist sich das dynamisch-symbiotische Zusammenspiel der vier Hauptakteure mit ihren jüngeren Gegenparts. Die Grenzen zwischen Jetzt und Damals verschwimmen und als wären sie tatsächliche Erweiterungen voneinander, lässt ihr sich gegenseitig spiegelndes Schauspiel ihre gemeinsame Figur noch viel greifbarer und menschlicher auf das Publikum wirken. Alle vier Figuren mit ihren insgesamt acht Darstellern werden mit höchster schauspielerischer Qualität und einem transzendenten Ausdruck gezeichnet. Besonders gefällt das intensive Zusammenspiel zwischen Kelly Panier als jüngerer und Pia Douwes als älterer Sally. Am Ende des ersten Aktes bricht Sally in beiden Inkarnationen emotional zusammen, woraufhin der Vorhang fällt – das ist so intensiv, da braucht es nicht einmal einen klassischen 1.-Akt-Showstopper. Pia Douwes, deren Mitwirken bei „Follies“ stark beworben wurde, fügt sich in die Riege der anderen Hauptdarsteller so ein, dass sie zwar Glanzmomente mit ihrer unverkennbaren Präsenz, ihrem ehrlichen Schauspiel und ihrer einzigartigen Stimme erzeugt, aber ihre Co-Stars nie in den Schatten stellt – und das ist keinesfalls als Kritik an Douwes gemeint, sondern vielmehr als Kompliment an die gesamte Hauptdarsteller-Truppe, die sich wunderbar auf Augenhöhe begegnet! Douwes‘ musikalisches Highlight kommt am Ende des zweiten Aktes, als sie in einem wunderschönen violetten Galakleid in ihrem Follie „Ich verlier‘ den Verstand“ von ihrer Obsession für Ben singt und damit auch den emotionalen Höhepunkt des Stücks liefert.
Jacqueline Macaulay gibt eine stimmgewaltige Phyllis mit trockener Attitüde und einer einnehmenden Bühnenpräsenz. Sie harmoniert sowohl grandios mit ihrem Bühnenpartnern Dirk Weiler als Buddy und Thomas Maria Peters als Ben, als auch mit Larissa Hartmann, die ihr junges Alter Ego spielt. An Pia Douwes‘ Sally kann sich Macaulay hervorragend abarbeiten. Weiler kann vor allem in „Buddy’s Blues“ von seinen schauspielerischer Expertise und seinem komödiantischen Geschick zusammen mit den Karikatur-Darstellerinnen Nicoletta De las Casas und Josefine Rau überzeugen – Komik allerhöchster Güte! Niklas Roling und Johannes Summer zeichnen die jüngeren Versionen von Buddy und Ben mit einer jugendlichen Unbeschwertheit und Leichtigkeit, die Weiler und Peters geschickt aufnehmen und in ihren Charakterisierungen der mittlerweile unglücklichen älteren Inkarnationen aufblitzen lassen. Ines Behrendt und John Holyoke geben als Emily und Theodore ein liebenswertes, leicht schrulliges Ehepaar ab, das im Gegensatz zu den eher tragischen Hauptfiguren durchaus echtes Glück versprüht. Annette Luig als Solange sorgt für einige ikonische Momente mit ihrem französischen Dialekt und ihrem aufdringlichen Werben für ihr vulgär riechendes Parfum. Wahre Showstopper liefert zudem das infernale Diven-Trio aus April Hailer (Carlotta), Andrea Baker (Hattie) und Sharon Kempton (Heidi). Hailer spielt ihre raue Hollywood-Diva wie eine Mischung aus Judy Garland und Marlene Dietrich mit herrlichen, großen Allüren und einer ebenso großen Portion tief verletzlicher Menschlichkeit. In ihrem Solo „Bin noch hier“ kulminiert ihr Charakterschauspiel in einem Feuerwerk, das im Gedächtnis bleibt. Baker entpuppt sich als Stimmwunder des Abends und beltet die größten Shownummern des Stücks, „Broadway Baby“ und „Rege regt sich Regen am Dach“ virtuos heraus. Kempton mit ihrem glockenklaren Sopran und einer beeindruckenden Körpersprache lässt ihre besonders gebrechlich angelegte Heidi herzzerreißend sehnsüchtig „Noch ein Kuss“ zusammen mit Elisa Birkenheier als ihr junges ich nach der Liebe suchen.
Last but not least: Der ehemalige Theaterbesitzer Weissmann, gespielt und hervorragend gesungen von Albert Horne, trägt einen großen Anteil des melancholischen Gesamtgefühls des Stücks, der durch seinen körperlichen Ausdruck und Duktus eines alten Lebemannes entsteht. Er überblickt als Gastgeber die gesamte Feier und interveniert sporadisch, um sich auf die Bühne zu schleppen und die Gäste mit Anekdoten zu füttern. Gerade im ersten Akt brilliert er stimmlich mit „Die traumschönen Frau’n“. Das Erstaunlichste jedoch ist, dass Horne nicht nur als Sänger und Schauspieler auf der Bühne mitwirkt, sondern zeitgleich die Funktion des musikalischen Leiters und die Chorleitung innehat und fast durchgängig (außer, wenn er in seiner Rolle auf der Bühne ist) das Orchester dirigiert. Eine Mammutaufgabe, die Horne hier bewältigt – und die verdient allergrößten Respekt!
Alles in allem kann man also empfehlen: Die Beine in die Hand nehmen und so schnell es geht „Follies“ in Wiesbaden anschauen. Es sind insgesamt nur 14 Vorstellungen – und wer weiß, wann dieses Musical wieder auf deutschen Bühnen zu sehen sein wird? In dieser Qualität wohl so schnell kein zweites Mal!
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KREATIVTEAM |
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Musikalische Leitung | Albert Horne |
Inszenierung | Tom Gerber |
Bühne | Bettina Neuhaus |
Kostüme | Jannik Kurz |
Choreografie | Myriam Lifka |
Licht | Oliver Porst |
Dramaturgie | Florian Delvo |
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CAST (AKTUELL) |
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Sally | Pia Douwes Frederike Haas |
Phyllis | Jacqueline Macaulay |
Buddy | Dirk Weiler |
Ben | Thomas Maria Peters |
Junge Sally | Kelly Panier |
Junge Phyllis | Larissa Hartmann |
Junger Buddy | Niklas Roling |
Junger Ben | Johannes Summer |
Carlotta | April Hailer |
Solange | Annette Luig |
Hattie / Stella | Andrea Baker |
Heidi Schiller | Sharon Kempton |
Junge Heidi | Elisa Birkenheier |
Weismann / Roscoe | Albert Horne |
Emily Whitman | Ines Behrendt |
Theodore Whitman | John Holyoke |
Dee Dee West | Petra Urban |
Sandra Cane | Petra Heike |
Kevin | Jasper H. Hanebuth |
Bobby Bennett | Jonathan Schmidt |
Victor Prince | Joel Spinello |
Peter Jones | Yannick Illmer |
Jeff Romley | Leonhard Lechner |
Tom Richards | Samuel Meister |
Junge Solange / Engel | Carla Peters |
Junge Christine | Mar Sánchez Cisneros |
Junge Sandra Cane | Tamara Kurti |
Junge Carlotta / Sally Karikatur | Josefine Rau |
Junge Dee Dee / Margie Karikatur | Nicoletta Luna Iparraguirre De las Casas |
Junge Emily | Cara Laureen Remke |
Junge Hattie / Stella | Clarissa Anyamele |
Swing | Jan Diener Dwayne Gilbert Besier |
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GALERIE |
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TERMINE |
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TERMINE (HISTORY) |
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Sa, 21.10.2023 19:30 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | Premiere | |||||||
Fr, 27.10.2023 19:30 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | ||||||||
Do, 09.11.2023 19:30 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | ||||||||
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So, 12.11.2023 19:30 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | ||||||||
Mi, 15.11.2023 19:30 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | ||||||||
So, 19.11.2023 16:00 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | ||||||||
Sa, 09.12.2023 19:30 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | ||||||||
So, 31.12.2023 16:00 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | ||||||||
So, 31.12.2023 20:00 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | ||||||||
Fr, 19.01.2024 19:30 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | ||||||||
Sa, 10.02.2024 19:30 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | ||||||||
Fr, 08.03.2024 19:30 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | ||||||||
Do, 21.03.2024 19:30 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | ||||||||
Sa, 08.06.2024 19:30 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | verlegt vom 8.6.24 | |||||||
Do, 27.06.2024 19:30 | Hessisches Staatstheater, Wiesbaden | ||||||||
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