Ein wahres Musical-Kleinod wurde in diesem Sommer erstmals auf einer deutschen Profi-Freilichtbühne auf den Treppen vor St. Michael in Schwäbisch Hall präsentiert und weiß zu berühren. „Wie im Himmel“ dreht sich um Heimat, Heimkunft, Freundschaft und Zusammenhalt. Höchst emotional wird hier ein Stück inszeniert, das über die Menschlichkeit und Güte eines jeden erzählt – und darum, dass die Qualitäten mancher erst auf den zweiten Blick zu erahnen sind. „Wenn man es fühlt, kann man sie seh’n: Flügel gibt’s bei allen.“
Basierend auf Kay Pollaks Oscar-nominiertem schwedischen Musikfilm-Drama aus dem Jahr 2004 hat selbiger Regisseur 2009 zunächst ein Musiktheaterstück und dann 2018 ein Musical zum Film konzipiert. Auf wenigen Bühnen war „Wie im Himmel„ bisher zu sehen, zumeist in Skandinavien – es ist also noch ein wirkliches Musical-Kleinod, vor allem im deutschsprachigen Raum.
Der Stardirigent Daniel Daréus kehrt nach einem schweren Herzanfall in sein Heimatdorf zurück und beendet seine Karriere, um seine laut Ärzten wenige verbleibende Zeit an dem Ort zu verbringen, den er am ehesten als Zuhause versteht. Dortmuss er sich Schritt für Schritt mit sich selbst und seiner Vergangenheit aussöhnen. Dabei hilft ihm die Dorfbevölkerung, dessen Kirchenchor Daniel in der Leitung übernimmt. Zahlreiche Bewohner des Ortes kollidieren durch ihre Einzelschicksale mit Daniels Geschichte und dem gemeinsamen Chorprojekt, werden aber zu seinen Freunden und letztendlich sogar zu seiner Ersatzfamilie: der zunächst vorlaute und verletzende Ladenbesitzer Arne, die herzensgute, aber als leichtes Mädchen verrufene Lena, die nach einem Partner für ihren Lebensabend suchende Olga, der wegen seiner Behinderung als Außenseiter betrachtete Tore, der wegen seiner Dickleibigkeit gemobbte Holmfrid und die begnadete Sängerin Gabriella, die von ihrem Mann häusliche Gewalt erfährt. Als Antagonistin tritt neben dem brutalen Ehemann Conny auch die hochreligiöse Siv auf, die nach einer unbeabsichtigten Abfuhr Daniels beginnt, ihm das Leben im Dorf zu erschweren. Trotzdem gelingt es Daniel, den Chor zusammenzubringen und durch diese Gemeinschaft sämtliche Probleme der Bewohner zu lösen.
Das Buch erweckt durch seine nostalgische Herzschmerz-Stimmung und das Außenseiterthema das Gefühl einer Mischung aus „Come from Away“ und „Die fabelhafte Welt der Amélie“. Die zahlreichen Einzelschicksale der Figuren werden schön miteinander verwoben und oft durch kleine Gesten und zarte Andeutungen weiter gesponnen, sodass kein Erzählchaos entsteht. Tatsächlich wirkt das ganze Stück ein wenig wie ein französischer Familienfilm: eine Mischung aus Komödie, Drama, Leichtigkeit, anrührenden Momenten voller Nostalgie und der Magie von Gemeinschaft. Trotzdem weist das Buch auch einige Schwächen auf. Unorganische Szenenwechsel reihen sich aneinander, viele Episoden wirken nicht rund oder fertig erzählt. Einige Konflikte und die daraus aufgebaute Dramatik wirken zum Teil sehr konstruiert. Die durch liebevolle Details gezeichneten Figuren trösten aber über diese Defizite durchaus hinweg, da mittels der Charaktere so viel Emotionalität transportiert wird, dass der Zuschauer sich die vielen Erzähllücken durchaus selbst erschließen könnte, auch wenn das von der Hauptgeschichte etwas ablenkt.
Die Arrangements des bekannten schwedischen Komponisten Fredrik Kempe sind vor allem eins: vielfältig. Ganz unterschiedliche Genres von Gospel über Oper, A Cappella, lateinamerikanische Einflüsse, klassische Musical-Balladen und Pop sorgen für ein großes Spektrum und viel Abwechslung. Dabei entstehen durchaus eingängige Melodien, von denen noch einige Lieder danach im Kopf weiterhallen; sogar ein paar Ohrwürmer sind Kempe gelungen. Emotionen werden in jedem Fall en Masse transportiert, denn die Lieder sind in diesem Stück nicht handlungstragend, sondern vertiefen die Charakterisierung der Figuren und erlauben Einsicht in ihre eigenen Welten. Vor allem die Sololieder und Duette mit Chor-Backup sind besonders berührend und haben teilweise epische Züge. Die deutsche Übersetzung der Songs wirkt gelungen und wenig gekünstelt. Vielmehr hören sich die Texte nach gesprochener Alltagssprache an, die melodiös unterlegt sind – und das passt zu einem so menschlichen Stück wie diesem optimal.
Das Bühnenbild sowie das Licht sind in dieser Produktion sehr reduziert, was dem Stück gut steht und nicht durch unnötiges Beiwerk von den zentralen Figuren und ihren zwischenmenschlichen Dynamiken ablenkt. Es sind eher die kleinen Bilder, die Eindruck hinterlassen und stets subtil durch Nuancen in der Lichttechnik illustriert werden: Bei Daniels Ankunft im kalten Schweden ist es zum Beispiel Schnee, der aus den Händen des Ensembles rieselnd sich über das Stück verteilt auf der großen Treppe vor St. Michael, wo das Stück aufgeführt wird, verbleibt und immer mal wieder hoch weht. Ein angedeuteter Einkaufsladen mit einem sich bewegenden Warenband und dem von der Verkäuferin selbst gemimten piependen Scan-Ton der Ware bleibt im Gedächtnis. Immer wenn der gewalttätige Conny erscheint, um seine Frau Gabriella von der Chorprobe zu zerren, fährt er mit einem echten Auto vor und rauscht mit quietschenden Reifen davon, was diese Szenen sehr authentisch wirken lässt. Gegen Ende steigt Daniel über eine selbst mitgebrachte Leiter hinauf zu seiner Angebeteten Lena und es gelingt ihm endlich, seine Liebe zu gestehen, als sie zusammen auf dieser Leiter stehend ein inniges Duett anstimmen. So kann man auch mit sehr reduziertem Bühnenbild, wenigen Requisiten und zurückhaltender Lichttechnik authentische Szenen erstellen, die im Gedächtnis bleiben.
Ein Highlight der Inszenierung ist die musikalische Umsetzung und die dazu gehörende, fast einwandfreie Tontechnik. Das Orchester spielt die aufwändige Partitur und die vielen reinen instrumentalen Teile sehr klar und wunderschön. Die Musik ist stets gut mit dem Gesang abgemischt, sodass man jedes Wort verstehen kann, ohne dass etwas in den Melodien untergeht. Man würde fast den Eindruck haben, im Kino zu sitzen, so einwandfrei hört sich alles in der Abmischung an, aber es wäre ein sehr leises Kino: So hätte die Gesamtlautstärke einen deutlichen Schwung nach Oben vertragen, damit die teils dramatisch-epochale Musik mit Choral noch besser wirken kann.
Die Haller Inszenierung lebt durch viele stille Momente und bewusstes Wirkenlassen der gefühlsmäßig komplexeren Szenen. Das zeigt zum Teil den wahrscheinlich gewünschten emotionalen Effekt auf das Publikum, zieht aber teilweise zu sehr in die Länge und lässt unangenehme Stillen entstehen. Die Auf- und Abgänge der Charaktere dauern wegen der enorm großen Treppe, auf der alles inszeniert wird, oft so lange, dass man sich fragt, ob man die teils unnötig langen Wege nicht hätte reduzieren und die einzelnen Szenenbilder nicht hätte komprimieren können. Auch das Ensemble hat zum Teil seine liebe Mühe, die Stufen hoch und runter zu hetzen. Selbstverständlich ist der wirklich außergewöhnliche Standort einer Kirchentreppe als Bühne eine besondere Herausforderung – dass es aber auch ökonomischer geht, haben Inszenierungen wie „Der kleine Horrorladen“ oder „Sister Act“ in Schwäbisch Hall schon bewiesen. Ansonsten ist die Inszenierung aber sehr gelungen: Es werden zum Großteil organische Übergänge der einzelnen Szenen ineinander kreiert, die die Schwächen des Buchs ausgleichen. Schöne Kostüme und passende, kleine Choreographien runden den positiven Gesamteindruck ab. Vor allem entstehen mit der großen Chorgruppe immer wieder schöne Szenenbilder, zum Beispiel, wenn sie sich hinter Gabriella aufbaut um sie vor Conny zu schützen oder sie im Kreis steht, damit sich die Chorsänger gegenseitig ermutigen können.
Das Ensemble wird von einem selten so schön zu hörenden Chor dominiert, der in einigen Liedern wirklich „Wie im Himmel“ klingt und mehrmals das Potenzial hat, zu Tränen zu rühren, beispielsweise bei dem Titellied „Wie im Himmel“ und dem emotionalen „Ein Lied aufs Leben“. Die zahlreichen kleineren Rollen werden alle glaubhaft mit Leben gefüllt und wirken schön im Zusammenspiel, zum Beispiel bei „Wir waren richtig gut“ und „Vieles ist schon schön“, wo sie sich gemeinsam über ihre Chorfortschritte freuen. Besonders anrührend und zum Schmunzeln sowie zum Mitfühlen einladend spielen Barbara Raunegger ihre Rolle als Olga und Petter Bjällö seinen Holmfried. David Lindermeier als Conny gibt einen überzeugenden Antagonisten und fährt alles an Gehässigkeit auf, sodass man ihn einfach hassen muss – sehr gut gemacht! Andrea Pagani als Arne überzeugt als Comic Relief des Stücks vor allem mit dem Gassenhauer „Frag einfach Arne“ und seiner Wandlung vom vorlauten Dorfladenbesitzer zu einem mitfühlenden Freund. Joachim Nimtz als Pfarrer Stig legt seine Rolle überaus dramatisch an und brilliert in seinen nicht minder dramatischen Solosongs, in denen er die Entwicklung vom selbstbewussten Übermenschen der Kirche zu einem verletzten und tief unsicheren Trunkenbold überzeugend darstellt. Sein Zusammenspiel mit Maaike Schuurmans als Inger ist überzeugend und lässt ihr Solo „Sünde Schuld und Scham“ zu einem Highlight des Abends werden, in dem sie ihrem Ehemann die Leviten lesen kann. Mit Franziska Schuster als Lena tritt eine nahezu engelsgleiche Präsenz zutage, die von Herzensgüte geprägt ist und durch anrührende Lieder wie „Engelgesang“ und „Was wir sind wird nie vergehn“ gekrönt wird. Julian Culemann als Daniel überzeugt auf ganzer Linie mit seinem authentischen Schauspiel. Er gibt seiner Figur das zwischenmenschliche und nicht sichtbare Feingefühl, das man zum Beispiel von Amélie aus „Die fabelhafte Welt der Amélie“ kennt. Culemann beweist eine Art Fähigkeit, sich in die anderen Figuren so subtil einzufühlen, dass man die tiefe Verbindung von Daniel zu seiner Heimat erahnen kann. Seinen gesanglichen Höhepunkt setzt er mit dem äußerst anspruchsvollen Lied „Ich geh obwohl ich nicht will“. Leah Delos Santos als Gabriella krönt die Besetzung. Ihre Auslegung der geschundenen Frau, die durch den Chor zu neuem Lebensmut gelangt, ist berührend und ergreifend. Ihre drei Lieder „Ein Lied aufs Leben“ im Duett mit Schuster, das große Solo mit Hintergrundchoral „Gabriellas Lied“ und das intime „Meine Sterne“ sind jedes für sich große musikalische Highlights, rühren zu Tränen und sorgen für Gänsehaut.
Mit der Hoffnung, dass „Wie im Himmel““ künftig auf weiteren Bühnen zu erleben sein wird, bleibt nur, vor den Freilichtspielen Schwäbisch Hall und der gesamten Besetzung den Hut zu ziehen für den Mut, etwas Neues zu wagen und damit so zu brillieren.
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