Enrico de Pieri, Sandy Mölling © Andreas Lander
Enrico de Pieri, Sandy Mölling © Andreas Lander

Chicago (2019)
Theater, Magdeburg

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Es ist aus der deutschen Musicallandschaft nicht mehr wegzudenken. Seit mittlerweile 12 Jahren lockt das Magdeburger DomplatzOpenAir jeden Sommer scharenweise Musicalbegeisterte von nah und fern an. In diesem Jahr holt Regisseur Ulrich Wiggers „Chicago“ in die Stadt – und erfindet den Musicalklassiker komplett neu. Die aufwändige Inszenierung trifft den Zeitgeist und ist die Reise nach Magdeburg absolut wert!

Das Musical-Vaudeville „Chicago“ hat eine ehrwürdige Tradition, ist aber trotzdem noch lange kein alter Hut. Das zeigt die Neuinszenierung von Ulrich Wiggers nachdrücklich. Weg vom Vaudeville lenkt Wiggers den Blick auf das eigentliche Thema der Mediensatire, das gerade vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in der Unterhaltungsbranche relevant ist wie nie. Welche Rolle spielt die „vierte Gewalt“ in Form der Medien und welchen Einfluss hat sie auf Meinungsbildung und Justiz in einer Zeit, in der wir dazu neigen, selbst die normalsten Dinge des alltäglichen Lebens multi-medial in Szene zu setzen? Wie wird die Zukunft aussehen, wenn sich dieser Trend weiter fortsetzt? Diesen Fragen geht Ulrich Wiggers bei seiner zweiten Domplatz-Inszenierung auf den Grund.

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In einem gesprochenen Intro webt Wiggers den Rahmen für die Handlung: Die Gefängnisse wurden privatisiert und die Geschichten der Insassen bieten ideales Unterhaltungspotential für die sensationsgierige Masse daheim vor dem Fernseher, am Tablet oder am Smartphone, die dann interaktiv über die Schicksale der Insassen entscheidet.

Crime, Glitzer und Korruption gehen im Cook County Jail Hand in Hand. Für unschuldig befunden wird derjenige, der sich am besten medienträchtig in Szene setzen kann – vorausgesetzt, er hat vorher einen Batzen Geld an den geschäftstüchtigen Anwalt Billy Flinn bezahlt, der die Aufmerksamkeit der Presse mit frei erfundenen, medientauglichen Skandalen in die richtigen Bahnen lenkt. Wer kein Geld hat oder blind an die Gerechtigkeit der Justiz im eigenen Land glaubt, der endet am Galgen. Schuld und Unschuld verkommen so zu gänzlich irrelevanten, theoretischen Konzepten. Am Ende brennen sogar die Waagschalen der Justitita – aber niemanden stört’s. „Sex sells and money rules“ – das ist die Botschaft. Es ist eine Zukunftsvision, die Angst macht, weil sie heutzutage nicht nur vorstellbar ist, sondern wir sie ansatzweise schon als Realität erkennen. Das ist nicht nur verdammt gruselig – sondern trifft auch den Zeitgeist.

Insgesamt wurde für die Open-Air-Inszenierung ein unfassbar großer Aufwand betrieben. Allein das imposante Bühnenbild von Leif-Erik Heine verrät schon, dass sich die Zuschauer auf eine spektakuläre Show freuen können. Filmfreunde werden sich an Fritz Langs Sci-Fi-Klassiker „Metropolis“ erinnert fühlen.

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Im Zentrum des Geschehens befindet sich eine zehn Meter hohe Statue der Justitia, die von zwei acht Meter hohen, furchteinflößenden Wächter-Statuen flankiert wird. Dahinter befindet sich ein halbkreisförmiger, zweistöckiger Aufbau mit diversen Räumen, die meist als Gefängniszellen fungieren, jedoch im ersten Akt auch rasch in Wohnzimmer und im zweiten Akt in Gerichtsräumlichkeiten umgewandelt werden können. An den äußeren Enden des Aufbaus befinden sich in den oberen Etagen die Zellen der erbitterten Rivalinnen Velma Kelly und Roxie Hart.

Die gigantische Bühne verlangt den Darstellern jede Menge sportliche Höchstleistungen ab. Durch geschicktes Staging wirkt sie aber zu keinem Zeitpunkt leer. Die opulenten und hochwertig gearbeiteten Kostüme von Franz Blumauer – mehr als 200 an der Zahl! – machen so gut wie jede Szene zu einem Augenschmaus.

Da werden selbst olle fliederfarbene Jogginganzüge, die Standardkluft der männermordenden Mädels, zu einem echten Hingucker. Als gelungene Hommage an die 1920er Jahre trägt die amtierende Gefängnis-Diva Velma Kelly meist Marlene-Hosen, schicke Blusen und raffinierte Tops, während die eiskalte Roxie eher in sexy Minikleidchen und Glitzerfummeln Männerherzen höherschlagen lässt.

Überhaupt gibt es jede Menge Glitzer, sei es bei dem futuristisch anmutenden silberfarbenen Anzug von Billy Flinn, dem tiefgrün schillernden Outfit des Conferenciers oder aber bei Roxies und Velmas goldenen Kleidchen im Finale. Mama Mortons Leder-Outfit erinnert auf den ersten Blick zunächst an die Killer-Queen; komplementiert mit dem Schlagstock schreit das Kostüm dann doch eher nach klassischer Domina. Das große Los hat hier Gerben Grimmius gezogen, der als schillernd – skurrile Klatschreporterin Mary Sunshine die extravagantesten Kostüme des Abends tragen darf. Dazu hat er – von Kopf bis Fuß in ein knallrotes, eng-anliegendes Rüschenkleid gehüllt – den spektakulärsten Auftritt des Abends: Er darf von schräg oben quer über die Köpfe der Gäste zur Bühne schweben. Mary Poppins lässt grüßen.

Die Massenszenen wie etwa der „Zellen Block Tango“ und „Hokuspokus“, bei denen auch Mitglieder aus Chor und Ballett mitwirken, zählen zu den beeindruckendsten Momenten des Abends. Dies ist zu einem Großteil auch den flotten, spritzigen Choreographien von Jonathan Huor zu verdanken, die ab und an noch Reminiszenzen an Fosses zackigen Stil erkennen lassen.

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Das Lichtdesign setzt das Geschehen gelungen in Szene und unterstreicht dabei raffiniert Stimmungen, während der ausgezeichnete Ton dafür sorgt, dass die Shownummern klar beim Publikum ankommen. Die Band unter der professionellen Leitung von Damian Omansen spielt die jazzigen Arrangements mit leichter Hand und ist für die Zuschauer permanent sichtbar, da sie mittig im oberen Stock des Bühnenaufbaus untergebracht ist. Eine starke Symbolik: Die Musik so klar im Zentrum des Geschehens – was wäre Musical ohne gute Live-Musik? Ein kleiner Denkanstoß an all diejenigen, die finden, dass Musik aus der Konserve es doch auch tut.

Die Cast ist großartig – trotz einiger weniger zunächst recht unkonventionell anmutenden Besetzungen – und zeigt sich am Premierenabend ausgesprochen energiegeladen und spielfreudig. Die Leading Ladies Sandy Mölling (Roxie Hart) und Marcella Adema (Velma Kelly) passen wunderbar in ihre Rollen und ergänzen sich gut. Möllings Roxie zeigt sich gleich von Anfang an als gerissenes, Rampenlicht-affines Luder, das aber auch sehr gut Naivität und Unschuld heucheln kann und genau weiß, wie man Männer um den Finger wickelt. Mölling ist ein echtes Bewegungstalent und überzeugt auch gesanglich („Roxie“).

Adema liefert als Velma Kelly eine überragende Leistung ab, brilliert mit beeindruckender Bühnenpräsenz („All der Jazz“) und ist extrem ausdrucksstark – das muss sie auch sein, denn ihre Figur hat im Vergleich zu Roxie doch deutlich undankbarere Szenen und damit weniger Chance, sich zu profilieren.

Carin Filipčić als Gefängniswärterin Mama Morton hat mit „Bist Du gut zu Mama“ ihren ersten starken Auftritt und beweist, dass sie viel Power in der Stimme hat – auch wenn sie ab und an lieblicher klingt, als man das von Mama Morton vielleicht gewöhnt ist. Schauspielerisch zeigt sie sich facettenreich.

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An Daniel Rákász als gewieften und selbstverliebten Billy Flynn muss man sich erst einmal gewöhnen, denn er passt schon rein optisch nicht so ins gewohnte Bild – was nicht grundsätzlich schlecht sein muss. Sein gestählter Körper ist ein echter Hingucker („Ich bin nur für Liebe da“) – obwohl er irritierend oft nackte Haut zeigt – und es ist auch keine Überraschung, dass der ausgebildete Tänzer die anspruchsvollen Choreographien spielend meistert. Jedoch würde man sich hier und da ein wenig mehr Ausstrahlung und Ausdrucksstärke wünschen – Kritik auf hohem Niveau.

Charisma – davon hat Kollege Gerben Grimmius als Boulevard-Reporterin Mary Sunshine mehr als genug. Er geht sichtbar in seiner Rolle auf und strahlt und schillert auch noch dann, wenn er bei „Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen“ enthüllt, was unter dem Kostüm liegt.

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Trotz kleiner Rolle ein ganz großer auf der Bühne: Publikumsliebling ist Enrico de Pieri als gehörnter, ewig verlierender Ehemann Amos Hart. Egal, was Amos auch tut: Er bleibt doch immer unsichtbar – „Mr. Zellophan“ eben. Selbst die gewünschte Abgangsmusik wird ihm verwehrt.

Allgegenwärtig ist and dem Abend auch Chris M. Nachtigall, der als exzentrischer Conferencier durch das Stück führt.

Wiggers greift immer wieder tief in die Kiste der Regie-Kniffe und baut geschickt Anspielungen auf die aktuelle Pop-Kultur ein. So geht ein hörbares Raunen durch das Publikum, als Mölling in der Szene, als Roxie zur Bauchredner-Puppe Billy Flynns wird, plötzlich in einem Wasserkleid dasteht – ganz so wie Helene Fischer auf ihrer vorletzten Tour: Sprudelndes Wasser bildet dabei eine Art Reifrock – ein echter Hingucker. Eine gute Idee sind auch die drei Monitore über der Bühne, die wie ein Medien-Feed die Berichterstattung über Roxie & Co anhand von Live-Mitschnitten und Zeitungsartikeln dokumentieren.

Insgesamt gesehen ist Ulrich Wiggers mit „Chicago“ auf dem Magdeburger Domplatz ein ganz großer Wurf gelungen, von dem man zurecht in Superlativen redet: Das Bühnenbild ist spektakulär, die Kostüme umwerfend, Band und Cast ausgezeichnet – und die neue Rahmenhandlung, die das Stück in die Moderne holt, ist ein echter Geniestreich. Von dieser unterhaltsamen Neuinszenierung, deren medien- und gesellschaftskritischen Töne den Zeitgeist treffen, wird man wohl noch lange reden.

 
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KREATIVTEAM
BuchFred Ebb
Bob Fosse
MusikJohn Kander
SongtexteFred Ebb
InszenierungUlrich Wiggers
Musikalische LeitungDamian Omansen
ChoreografieJonathan Huor
BühnenbildLeif-Erik Heine
KostümeFranz Blumauer
 
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CAST (AKTUELL)
Roxie HartSandy Mölling
Velma KellyMarcella Adema
Billy FlynnDaniel Rakasz
Amos HartEnrico de Pieri
Mary SunshineGerben Grimmius
Mama MortonCarin Filipcic
ConferencierChris M. Nachtigall
EnsembleJasmin Eberl
Marja Hennicke
Emma Hunter
Antanina Maksimovich
Cristina Salamon Lama
Lara de Toscano
Christian Funk
Michael Konings
Pablo Martinez
Nico Went
  
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TERMINE
keine aktuellen Termine
 
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TERMINE (HISTORY)
Fr, 14.06.2019 21:00Domplatz, MagdeburgPremiere
Sa, 15.06.2019 21:00Domplatz, Magdeburg
So, 16.06.2019 21:00Domplatz, Magdeburg
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