Kinder sind auch nicht besser als ihre Eltern. Wie tagsüber die Kleinen, fallen auch die Erziehungsberechtigten am Elternabend übereinander her. Ein echtes Theater-Ereignis: Grandios, packend und gnadenlos real.
Realismus ist nicht gerade ein bevorzugtes Stilmittel von Musical-Autoren. Das Genre, dass von Emotionalisierung und Überzeichnung lebt, kann mit der wirklichkeitsnahen Darstellung von Problemen und Personen eigentlich wenig anfangen – zu groß ist der Bruch, wenn plötzlich die Musik einsetzt und gesungen wird. Um so erstaunlicher, was Peter Lund (Texte), Thomas Zaufke (Musik) und Bernd Mottl (Regie) geschafft haben: „Elternabend“ reißt gerade deshalb mit, weil es so erschreckend real und abgründig ist. Und trotzdem sind die (größtenteils hervorragenden) Musik-Nummern kein Störfaktor. Denn sie unterbrechen das Geschehen, karikieren die Figuren und kommentieren die Handlung intelligent mit den klassischen Stilmitteln des Musicals.
Die Eltern eines spendenfinanzierten Schülerladens treffen sich mit dem neuen Erzieher Dennis (der achte in sechs Jahren) zum alljährlichen Elternabend. Ein echtes Highlight ist gleich die erste gemeinsame Nummer, in der Dennis die armen Eltern zwingt, mit Kinderinstrumenten bewaffnet ein pädagogisches Kennenlern-Lied zu singen („Ich heiße Dennis und ich freu mich dich zu sehn“). Schon durch wenige in einen Gegengesang montierte Textzeilen und die jeweils typgerecht passende Melodie werden die Figuren charakterisiert. Irene (Yvonne Ritz-Andersen) langweilt sich, weil sie reich ist und keine Aufgabe hat. Deshalb übernimmt sie überall die Chef-Rolle, duldet keinen Widerspruch und traktiert die Runde mit Protestlisten, Protokollen und Tagesordnungen. Vera (Susanne Szell) ist eine frustrierte Hausfrau, die ihre Minderwertigkeitskomplexe bekämpft, indem sie herumzickt und ihren Mann Gerd (Harald Hofbauer) unter dem Pantoffel hält. Der hat längst resigniert, wechselt nur motivationslos zwischen Arbeit und Fernseher und gönnt sich als einzigen Ausdruck von Individualität die von seiner Frau missbilligten Zigaretten (wozu es auch eine wunderschöne Nummer gibt: „Rauchen verboten“).
Kurt (Guido Schmitt) arbeitet als Klempner, seine Frau ist mit ihrem Karatelehrer durchgebrannt. Gelegentlich blitzt Zynismus auf, aber eigentlich hält sich Kurt lieber zurück – zu groß ist die Angst, die anderen könnten ihn nicht akzeptieren. Ähnlich geht es Geli (Britta Balzer). Sie ist strohdumm, aber in diesem Stück keinesfalls nur die Witzfigur. Denn die Tragik liegt darin, dass sie um ihre Dummheit weiß und merkt, wie sie deswegen ausgegrenzt wird. Nichts wäre ihr wichtiger, als zur Gruppe zu gehören. Aber durch den Versuch, sich beliebt zu machen, verliert sie nur noch mehr Sympathien. Still und in sich gekehrt sitzt die dezent alternativ gekleidete Anouschka (Yara Blümel) in der Runde. Sie findet die Welt zum Kotzen, hat es aber längst aufgegeben, für Veränderungen zu kämpfen (oder sich vielleicht auch noch nie getraut).
Diese feinen Eltern kippen ihren gesamten Frust übereinander aus. Schon im ersten Akt sind die Dialoge messerscharf („Ich finde dein Verhalten jetzt sehr … schade“). Die (überwiegend originellen und witzigen) Songs braucht man als Zuschauer auch, um zwischendurch verschnaufen zu können – denn diese ätzenden Typen und Dialoge kommen einem dermaßen bekannt vor, dass es geradezu erschreckend ist.
Im zweiten Akt fallen diese Verschaufpausen aus (es gibt nur noch zwei witzige Nummern), und dann wird es wirklich bitter. Denn immer mehr wird klar, wie sich der Lebensfrust der Eltern auf die Kinder übertragen hat. In mehreren Rückblenden spielen die Schauspieler die Kinder ihrer Figuren, gegen Ende lösen sich die Grenzen zwischen Kindern und Erwachsenen fast vollständig auf. Die Kinder von Irene und Vera/Gerd haben eine Bande gegründet und erpressen die anderen Kinder systematisch um Schutzgeld. Die Kinder von Kurt und Geli bemühen sich als Mitläufer, werden aber immer wieder verachtet und getreten. Anouschkas stille Tochter ist das bevorzugte Opfer. Die Kinder sind genau wie ihre Eltern – wo sollten sie auch etwas anderes gelernt haben?
Als der schwule Erzieher Dennis (Gerd Lukas Storzer) dem Treiben Einhalt gebieten will, wird auch er ein Opfer der Erpressung. Die Bande droht, ihn wegen sexuellen Missbrauchs von Veras Sohn anzuschwärzen. Ein besonderer Reiz liegt darin, dass nicht zweifelsfrei aufgeklärt wird, ob dieser Vorwurf berechtigt ist (auch wenn Dennis ein Sympathieträger ist). So schwankt auch das Publikum zwischen Mitleid und Zweifel. Das zeigt um so deutlicher, wie hilflos ein Erwachsener einem solchen Vorwurf gegenüber steht. Selbst wenn es keine Beweise gibt: Irgendwas bleibt hängen.
Dennis gibt der Erpressung hilflos nach. In einer der stärksten Szenen (der allerdings mit „Kinder müssen alles dürfen“ der schwächste Song folgt) übernehmen die Kinder das Kommando über den Laden und bestimmen selbst das pädagogische Beschäftigungsprogramm. Als die Eltern davon erfahren, können sie trotzdem nicht aus ihrer Haut: Sie setzen ihren bissigen Zwist fort und suchen nach einem Schuldigen – klar, dass das weder man selbst noch das eigene Kind sein kann. Zu Selbstkritik ist nur Gerd fähig. Er bricht geradezu rauschhaft aus seinem eingefahrenen Leben aus, legt sich öffentlich mit seiner Frau an, schockiert die Runde mit sexuellen Gedanken über seine Tochter und verschwindet schließlich mit Dennis auf die Toilette. Doch der Kater folgt bald. Beide Geschichten haben kein Happy-End. Die Eltern werden handgreiflich und verwandeln den Schülerladen immer mehr in ein Schlachtfeld, bei den Kindern versucht Anouschkas 7-jährige Tochter, sich an einem Klettergerüst aufzuhängen.
Diese Show eignet sich weder für junge Paare mit Kinderwunsch noch für Berlin-Reisende, die den Party-Abend mit einem Besuch im Theater beginnen wollen. Denn was hier passiert, ist so packend und berührend, dass man anschließend erst einmal eine Pause braucht. Das wird durch die U-förmig angeordneten Tribünen, die ebenerdige Bühne und das kleine 200-Zuschauer-Theater noch unterstützt. Hier ist man wirklich hautnah dabei und Teil des Geschehens – und das ist keine Floskel, wie man sie so oft in der Werbung für andere Shows hört. Ehrlich gesagt war Rezensent ein Mal kurz davor, aufzuspringen und Irene anzubrüllen, weil ihre Selbstgerechtigkeit kaum noch zu ertragen war.
Das Ensemble der Wiederaufnahme (Juli 2004, die Vorstellungen der ersten Staffel Ende 2003 waren nach Theaterangaben ausnahmslos ausverkauft) ist durch die Bank typgerecht und mit hervorragenden, spielfreudigen Schauspielern besetzt. Gesanglich bleibt die Produktion allerdings eher durchschnittlich. Die Ensembles sind stimmig, die Soli und Duette in Ordnung. Einzig Yara Blümel darf ihre Power-Stimme an einigen Stellen auspacken und ragt hier heraus. Susanne Szell hatte in der besuchten Vorstellung dagegen offenbar mit einer Erkältung zu kämpfen, was insbesondere ihren Chansons „Du riechst so gut“ kaputt gemacht hat. Dafür überzeugte sie in ihrer großen Nervenzusammenbruchs-Szene „Vera macht Nachtisch“ schauspielerisch.
Nicht, dass es nichts zu lachen gäbe. Der erste Akt ist gespickt mit witzigen Musiknummern und Dialog-Pointen. Wenn in der Vorpausen-Hymne „Morgen“ das Les-Miz-Pendant „Morgen schon“ in Choreografie (Nicola Wendt/Götz Hellriegel), Licht (Nikolaus Vögele) und Bühnenbild (Jürgen Kirner lässt eine Barrikade aus überdimensionalen Bauklötzen aufstellen) parodiert wird, ist das einfach urkomisch. Und Thomas Zaufkes Musik wird immer dann besonders eingängig und harmonisch, wenn es auf der Bühne besonders bitter zugeht – ansonsten wären die grandios bösen Texte von Peter Lund wohl auch nicht den ganzen Abend zu ertragen.
Ein kleines Theater-Wunder – wenn andere dem Beispiel folgen, ist das deutsche Musical gerade dabei, sich völlig neu zu erfinden.
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Fr, 21.11.2003 20:00 | Neuköllner Oper, Berlin | Premiere |
Do, 08.07.2004 20:00 | Neuköllner Oper, Berlin | |
Fr, 09.07.2004 20:00 | Neuköllner Oper, Berlin | |
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Sa, 10.07.2004 20:00 | Neuköllner Oper, Berlin | |
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