KI-generiertes Symbolbild
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NEUES FEATURE
Ingos Fernsehsessel "Hedwig and the Angry Inch"

Einmal pro Monat werde ich mich in meinen Fernsehsessel setzen und mir für euch einen Musicalfilm ansehen. Da werden bekannte Streifen dabei sein, aber auch Unbekanntes oder Vergessenes.

Nach eher leichter Musicalkost in den letzten beiden Monaten steht diesmal etwas Anspruchsvolleres auf meinem Programm. Das Original von „Hedwig and the Angry Inch“ war ein Off-Broadway-Hit; musikalisch und inhaltlich nur bedingt Mainstream. Die Filmversion bewahrt den Independent-Look und geht optisch mit mal realistischen, mal surrealen Bildern einen Schritt weiter als die Bühnenversion, die nur auf einer Club-Bühne spielt. Ein mitreißender, hervorragend gespielter und inszenierter Bilderrausch!

Hansel Schmitt (John Cameron Mitchell) lebt mit seiner Mutter in Ost-Berlin. Sein Vater, ein US-Soldat, hat die Familie vor dem Mauerbau verlassen. Hansel beginnt ein Verhältnis mit dem GI Luther (Maurice Dean Wint). Dieser schlägt Hansel eine Geschlechtsumwandlung vor, damit er ihn mit dem Pass und dem Namen von Hansels Mutter – eben als Hedwig – heiraten und mit ihm in die USA ziehen kann. Doch die Operation geht schief und zwischen Hedwigs Beinen bleibt ein Wulst zurück, ein „angry inch“. Nach einem Jahr, genau am Tag des Mauerfalls, wird Hedwig von ihrem Mann verlassen. Sie widmet sich wieder ihrer alten Liebe, der Rockmusik, und gründet eine Band. Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie als Gelegenheitsprostituierte und Babysitterin, etwa für die Familie Speck. Der älteste Sohn der Specks, Tommy (Michael Pitt), ist ein scheuer, von der Pubertät gebeutelter Teenager. Hedwig gibt ihm Selbstvertrauen, führt ihn (nicht nur) an die Musik heran und bringt ihm Lieder bei, die sie geschrieben hat. Sie gibt ihm auch seinen Künstlernamen: Tommy Gnosis (das griechische Wort für „Wissen“). Als Tommy das „angry inch“ entdeckt, verlässt er Hedwig, startet eine äußerst erfolgreiche Musikkarriere und wird ein Star – mit Hedwigs Songs. Daraufhin geht Hedwig mit ihrer Band auf Paralleltour, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Sänger ihre Musik gestohlen hat. Sie spielen in jeder Stadt, in der Gnosis auftritt, allerdings vor wenigen Leuten und in ziemlichen Spelunken.

Und so eine Spelunke ist einziger Handlungsort des Bühnenmusicals, in dem Hedwig dem Publikum ihre Geschichte erzählt. Mit dem reinen Erzählen ist es natürlich beim Film nicht getan. Es bleibt dabei, dass wir die Handlung aus Hedwigs Perspektive und in Rückblenden sehen, aber die Stationen aus ihrer Vergangenheit werden szenisch umgesetzt. Wobei nicht immer alles naturalistisch nachgespielt wird, sondern Sequenzen wie in einem Traum verfremdet werden.

„The Origin of Love“ wird etwa mit einer Animation bebildert, die den Inhalt des Songs ziemlich verständlich macht. Dabei geht es – verkürzt dargestellt – um das Kugelmenschen-Mythos des Aristophanes, bei dem die Menschen kugelförmige Körper, vier Arme sowie vier Beine hatten und in drei Geschlechter aufgeteilt waren: ein männliches, ein weibliches und eins mit einer männlichen und einer weiblichen Hälfte. Die Kugelmenschen wurden den Göttern zu übermütig und zur Strafe geteilt. Deswegen sucht jeder Mensch nach seiner zweiten Hälfte. Ein Bild, das sich durch Bühnenvorlage und Film zieht. Beispielsweise kommt Hedwig aus der geteilten Stadt Berlin; als die Stadt ihre zweite Hälfte zurückbekommt, wird Hedwig dagegen von ihrem Mann verlassen und ist wieder auf der Suche nach ihrer Hälfte.

„Hedwig and the Angry Inch“ stammt von dem Schauspieler John Cameron Mitchell (Buch) und dem Rockmusiker Stephen Trask (Songs). Die beiden lernten sich zufällig kennen und beschlossen, etwas zusammen auf die Beine zu stellen. Mitchell spukte schon länger eine Figur im Kopf herum. Als diese Hedwig trat er erstmals in einem Drag-Club auf – mit Songs von Trask. Daraus entwickelten sie ein autobiografisch gefärbtes Musical, das 1997 Premiere feierte. Um nicht nur Hedwig und die aus Männern bestehende Band auf der Bühne zu haben und den Background-Gesang um die Klangfarbe einer Frauenstimme zu erweitern, kam die Figur „Yitzhak“ dazu. Yitzhak ist Hedwigs Ehemann, eine aus Kroatien stammende ehemalige Dragqueen, die zwar männlich auftritt, deren reales Geschlecht aber in der Schwebe gehalten wird und von einer Darstellerin gespielt wird.

In der Bühnenversion ist Yitzhak sehr präsent, in der Filmversion tritt die Figur zugunsten des Tommy-Gnosis-Handlungsstrangs etwas zurück. Das finde ich zwar schade (auch weil Miriam Shor in dieser Rolle herzzerreißend um Hedwigs Aufmerksamkeit nahezu bettelt), aber nachvollziehbar, weil dieser Teil sich filmisch gut erzählen lässt und klar wird, warum Hedwig so verbissen dem Star hinterherreist.

Nachdem „Hedwig“ sich zum Off-Broadway-Hit mauserte, wurden die Filmrechte zügig verkauft. Die Produzenten wollten John Cameron Mitchell als Drehbuchautor, Hauptdarsteller und Regisseur. Mitchell brachte eine Co-Regie ins Spiel, weil er noch nie einen Film inszeniert hatte, musste dann aber aus Zeitgründen allein übernehmen. Jede dieser Aufgaben erledigt er bravourös. Er setzt die räumlich begrenzte Vorlage so um, dass deren Wurzeln noch erkennbar sind, baut naheliegende Rückblenden ein, lässt Hedwig immer wieder die vierte Wand durchbrechen und mit dem Publikum kommunizieren. Die Bandmitglieder (unter ihnen auch Komponist Trask) bekommen einen Hauch Kontur und die Figur der Bandmanagerin Phyllis Stein (euphorisch und geschäftstüchtig gespielt von Andrea Martin) kommt neu dazu.

Kameramann Frank DeMarco war Mitchell eine große Hilfe bei der Inszenierung. Er fand kreative Möglichkeiten der bildlichen Umsetzungen; mal klein und einfach, mal aufwendig und oft überraschend. Als Darsteller scheint Mitchell komplett mit der von ihm geschaffenen Figur zu verschmelzen. Hedwig ist so ein vielschichtiger Charakter. Alle Wesenszüge – Naivität, Schmerz, Wut, Enttäuschung bis zur emotionalen Kälte Yitzhak gegenüber – spielt Mitchell mit jeder Faser seines Körpers. Er geht völlig in seiner Rolle auf. Dass sein Gesang live am Set aufgenommen wurde (die Musiker hingegen wurden vorher aufgezeichnet und als Playback eingespielt) gibt zusätzliche Authentizität.

Für mich ist „Hedwig and the Angry Inch“ eine der besten Verfilmungen eines Bühnenmusicals, die je gedreht wurden. Das Stück wurde perfekt an das Medium Film angepasst und dessen erweiterte Ausdrucksmöglichkeit genutzt. Weder die Theaterfassung noch der Film gehen Kompromisse ein, sind wild, laut, mal derb, mal lustig und immer emotional packend. Das war ein rauer Abend in meinem Fernsehsessel!

 
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