© Capelight Pictures
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Ingos Fernsehsessel - "Hair"

Einmal pro Monat werde ich mich in meinen Fernsehsessel setzen und mir für euch einen Musicalfilm ansehen. Da werden bekannte Streifen dabei sein, aber auch Unbekanntes oder Vergessenes.

Diesmal ist der Musical-Filmabend für mich eine kleine Reise in die Vergangenheit. Die Kassette mit dem „Hair“-Soundtrack lief in meiner Klasse rauf und runter – es waren die friedensbewegten 1980er – und den Film haben wir uns auch diverse Male angeschaut. Der Soundtrack sitzt mir so im Ohr, dass ich zusammenzucke, wenn ich eine andere Interpretation der Songs höre. Ich bin gespannt, ob der Film mich auch 35 Jahre später noch so mitnimmt wie damals.

Meine erste Begegnung damit ist mir auch im Gedächtnis geblieben: Die Katholische Jugend meines Heimatdorfs zeigte „Hair“ – auf einem ratternden Filmprojektor; wenn die Filmrollen ausgetauscht werden mussten, gab es immer eine Pause – und als die Hippie-Gruppe sich aufmacht, um Claude in der Kaserne zu besuchen, rief die Frau neben mir: „Oh, nein! Jetzt tauschen sie und dann …“. Sie spoilerte dem ganzen Saal das Ende, als noch keiner eine Ahnung hatte, was ’spoilern‘ ist.

Aber genug der Nostalgie. Ich bin positiv überrascht, wie kurzweilig die ersten zwei Drittel auch jetzt noch sind. Ich erinnere mich, dass ich auch damals schon fand, dass der Film nach Claudes Einrücken in die Kaserne an Schwung verliert, bevor er dann zum dramatischen Ende das Tempo wieder beschleunigt.

Auch optisch bin ich sehr angetan. Der Film wurde vor Ort in New York gedreht. Kameramann Miroslav Ondříček findet Bilder zwischen Authentizität und touristischen Attraktionen – schließlich sieht der Zuschauer die Stadt durch die Augen von Claude, dem Landei aus Oklahoma, der zwei Tage die Stadt erkunden will, bevor er sich beim Militär melden muss. Der leicht dokumentarische Anstrich verzichtet auf optische Spielchen. Selbst bei „Hare Krishna“, wenn sich Claude auf LSD eine abgedrehte Hochzeitsszene zusammenfantasiert, bleiben die Bilder recht nüchtern. Eindrucksvoll auch die Einstellung der Soldaten, die beim Aufbruch nach Vietnam in einen bedrohlich dunklen Flugzeugbauch marschieren, und die Kranaufnahmen von den über 20.000 Statisten während einer Friedenskundgebung bei „Let the Sunshine In“ sind immer noch überwältigend. Die Choreografien von Twyla Tharp sind eine lebendige Mischung aus Modern Dance und klassischem Ballett. Sie wirken improvisiert und dadurch spontan.

Bei der Besetzung verzichtete man auf große Namen. Dafür überzeugen alle Cast-Mitglieder darstellerisch und harmonieren sehr gut. John Savage bringt mit seinem jungenhaften Gesicht eine naive Unerfahrenheit mit, die gut zu Claude passt. Treat Williams ist als Berger der selbstbewusste Anführer, Annie Golden (die einzige im Ensemble mit „Hair“-Bühnenerfahrung) die naive schwangere Jeannie, Dorsey Wright der Macho Hud und Donnie Dacus (eigentlich Gitarrist und kein Schauspieler) der lustige Sidekick Woof. Als Kontrast zu den extrovertierten Hippies spielt Beverly D’Angelo die verwöhnte Upperclass-Tochter Sheila erst zurückhaltend, bis sie sich auf die Seite von Bergers Gruppe schlägt. Nur Savage, Williams und D’Angelo singen Solo-Parts.

Viele Songs poppen plötzlich auf und sind im Stil von Musikvideos inszeniert, die zur Entstehungszeit des Films immer populärer wurden. Deshalb ist es auch nicht wichtig, ob man die Figur kennt, die gerade singt. Aber auch diese namenlosen Sängerinnen und Sänger machen ihre Sache ausgesprochen gut.

Galt MacDermot, der Original-Komponist, betreute auch die musikalische Seite des Filmprojekts und war Mit-Entscheidungsträger, welche Songs komplett im Film zu hören sind, welche nur angespielt und welche als instrumentale Hintergrundmusik benutzt werden. Er hat seine Partitur ordentlich aufpoliert und klanglich erweitert, hatte aber jetzt natürlich mehr als eine Theaterband zur Verfügung.

Soweit gefällt mir die „Hair“-Verfilmung immer noch sehr gut. Andere Punkte sehe ich heute kritischer.

Die Original-Autoren James Rado und Gerome Ragni wurden durch den Dramatiker Michael Weller ersetzt, waren aber auf Wunsch des Regisseurs Miloš Forman in verschiedene Stadien der Produktion eingebunden. Wellers Drehbuch stattet die Figuren mit genug Hintergrund aus, dass sie nicht in Klischees erstarren. Er zeichnet auch schön die Freundschaft und den Zusammenhalt in der Gruppe. Und wie während des Songs „Aquarius“ alle zentralen Figuren eingeführt werden, ist filmdramaturgisch geschickt gelöst. Allerdings ist mir jetzt beim wiederholten Ansehen aufgefallen, dass Weller eine sehr flache und konventionelle Geschichte erzählt. Im Kern dreht sich die Handlung nur darum, wie Claude und Sheila zusammenkommen.

Das Drehbuch hat nichts mit dem Bühnenstück zu tun, nur die Namen der Figuren wurden übernommen. Die Off-Broadway-Produktion 1967 hatte noch einen dünnen Handlungsfaden, von dem einige Motive zumindest in die ersten Filmskript-Entwürfe eingeflossen sind. Als „Hair“ 1968 an den Broadway zog, wurde das Buch überarbeitet und entwickelte sich zu einem inszenierten Songzyklus, ein Happening ohne dramaturgische Regeln. Gerade das machte das Musical aber damals so einzigartig. Der Film – zehn Jahre nach der Uraufführung der Vorlage entstanden – konnte die Sprengkraft des Originals nicht erreichen. Das lag auch daran, dass sich viele gesellschaftliche Ansichten geändert hatten.

Regisseur Miloš Forman sagte im Jahr 2000 über seinen Film: „‚Hair‘ predigte 1967 sexuelle Freiheit, Widerstand gegen den Krieg, Pazifismus, Sanftmut, Flower Power und Ökologie. 1977 sorgten diese Vorstellungen nicht mehr für erhöhten Blutdruck. [Der Film wurde 1977 gedreht, startete aber erst 1979 in den Kinos, Anm. d. Red.] Das echte Problem war, dass ‚Hair‘ kommerziell gesehen zu einem schlechten Zeitpunkt herauskam. In den späten 70ern waren die 60er vorbei und lösten noch keine Nostalgie aus.“

Da stimme ich Forman zu, aber sein Film ist auch viel zu brav inszeniert. Die Nacktheit – einer der großen Aufreger der Broadway-Produktion – wurde im Film mit einem züchtig gefilmten nächtlichen Bad im See abgehandelt. Das Thema „freie Liebe“ wird darauf beschränkt, dass Jeannie nicht weiß, wer der Vater des Kindes ist, das sie erwartet. Insgeheim scheint sie sich aber nach einer „normalen“ Familie mit Ehemann zu sehnen. Das Antikriegs-Thema ist – sehr zum Ärger der Original-Autoren Rado und Ragni – fast völlig verschwunden. Der Vietnamkrieg ist im Grunde nur Aufhänger für das tragische Ende. Claude hätte auch aus irgendeinem anderen Grund nach New York kommen und auf die Hippies treffen können.

Für uns in den 1980er Jahren war eben der Nostalgiefaktor da (also zumindest so, wie wir uns Hippie-Freigeister zu Flower-Power-Zeiten vorstellten), der Kritikern und Publikum in den späten 70ern fehlte. Ich kannte damals das Original-Musical nicht, deswegen habe ich inhaltliche Dinge nicht hinterfragt. Das Ende hatte mich ordentlich schockiert, heute finde ich es arg melodramatisch und konstruiert. Ich glaube nicht, dass der Film erfolgreicher gewesen wäre, wenn Forman sich enger an die Vorlage gehalten hätte – dazu hatte sich einfach zu viel gewandelt.

„Hair“ ist einer dieser Filme, die man nach Jahren sieht, und plötzlich feststellt, dass man ihn in der Erinnerung ein wenig verklärt hat. Filmhistorisch mag er kein Klassiker sein, für mich bleibt er ein Teil meiner Jugend.

 
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