Wir nähern uns Weihnachten und die Märchendichte in Theater und TV nimmt deutlich zu. Passenderweise erscheint ein lange nicht erhältlicher Film in einer aufwendig restaurierten Fassung: „Die Wunderwelt der Gebrüder Grimm“ von 1962.
Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm werden beauftragt, die Familiengeschichte eines Herzogs zu verfassen. Während Jacob der Aufgabe gewissenhaft nachgeht, ist Wilhelm mit den Gedanken stets woanders. Seine Leidenschaft ist es, die lebhaften und magischen Märchen des Bauernvolkes zu sammeln und für die Nachwelt zu erhalten.
Die Handlung hält sich zumindest einen Hauch an die Biografie der berühmten hessischen Sprachwissenschaftler. Aber Produzent und Co-Regisseur George Pal ging es in erster Linie nicht um historische Genauigkeit, sondern um ein Jahrmarktsspektakel allererster Güte. Um die Leute von den Fernsehern weg ins Kino zu locken, wandte er einen Zauber an: Cinerama. Dieses Breitwand-Bildformat wurde ab 1952 vor allem bei Reise-Dokus verwendet. Bei den Dreharbeiten musste mit drei Kameras gefilmt werden. Spezielle Projektoren warfen dann die Bilder auf eine gebogene Bildwand. Das Ergebnis war eine sehr plastische Raumtiefe. Der Ton wurde auf sechs Tonspuren abgemischt, der dann im Kinosaal durch sechs Lautsprecher lief und einen besonderen Raumklang lieferte.
In dieser Blu-ray-Edition ist auch eine Doku enthalten, die erklärt, mit wie viel Detailarbeit der Streifen rekonstruiert wurde. Leider ist daran auch zu erkennen, wie stiefmütterlich die großen Filmstudios mit ihrem Bestand an alten Filmen umgehen.
Die Ausgabe enthält zwei Discs. Eine mit dem Film im gewohnten Letterbox-Format, eine in Cinerama, im sogenannten Smilebox-Format. Auch in der Letterbox-Version biegen sich einige Totalen und man merkt, wie darauf geachtet wurde, dass das Set schön dreigeteilt war. Aber die wiederhergestellten Bilder sind schlicht atemberaubend. Die Farben strahlen und alles ist gestochen scharf. Außerdem spielt Kameramann Paul Vogel mit Perspektiven. Dazu kommen eine märchenhafte Ausstattung, prächtige Kostüme und Drehorte wie Rothenburg ob der Tauber, Dinkelsbühl, das Rheintal oder – selbstverständlich – Schloss Neuschwanstein. Für die Kostüme gab es einen Oscar; Ausstattung und Kamera waren nominiert. Dieser Film ist definitiv etwas fürs Auge. Auch die Tonspur wurde für die Neuerscheinung runderneuert und bietet einen fantastischen Klang,
In die Geschichte der Grimm-Brüder sind drei Märchen eingestreut. Erfreulicherweise haben sich die Drehbuchautoren nicht für Gängiges wie „Rotkäppchen“ oder „Hänsel und Gretel“ entschieden, sondern für „Die tanzende Prinzessin“ (eine Bearbeitung von „Die zertanzten Schuhe“), „Der Schuster und die Zwerge“ (nach „Die Wichtelmänner“) und „Der singende Knochen“. Die Versionen im Film halten sich nur recht grob an die Vorlagen. Obwohl der Film in der Kategorie „Beste Musical“ für den Golden Globe nominiert war, wird nur in den Märchensequenzen getanzt und gesungen. Jede Geschichte hat einen eigenen Stil. In „Die tanzende Prinzessin“ wird – wie sollte es auch anders sein – getanzt; von Russ Tamblyn als Jäger akrobatisch, von Yvette Mimieux als ausgebüxte Prinzessin klassisch, aber nicht weniger beeindruckend. „Der Schuster und die Zwerge“ ist eine Weihnachtsgeschichte, in der die Zwerge, die dem Schuster nachts unter die Arme greifen, per Stop-Motion-Technik als putziger Old School Puppentrick zum Leben erweckt werden. Im „singenden Knochen“ kämpfen ein Ritter und sein Knappe (Terry-Thomas und Buddy Hackett) mit viel albernem Slapstick gegen einen Drachen.
Die ebenfalls Oscar-nominierte Musik stammt von Leigh Harline. Märchenerfahrung brachte er mit – er schrieb die Musik zu Disneys „Schneewittchen“ und erhielt zwei Oscars für seinen Kompositionen zu „Pinocchio“ (beste Musik und bester Song „When You Wish Upon a Star“). Schneewittchens jodelnde Zwerge standen hörbar Pate für die „Der Schuster und die Zwerge“-Sequenz. Auch „I Dream Of Winning a Princess“, das der Jäger in „Die tanzende Prinzessin“ singt, würde gut zu einem Disney-Prinzen dieser Ära passen.
Nach einem Streit mit Walt Disney, der die „Pinocchio“-Musik nicht mochte, verließ Harline das Studio mit der Maus. Dass er außer für die beiden Langfilme auch Musik für diverse Disney-Kurzfilme geschrieben hat, merkt man seiner „Grimm“-Partitur an. Sie untermalt tänzerisch, albern, schwelgend – beschwingte Musik aus der goldenen Zeit der Traumfabrik.
Regisseur der Märchensequenzen war der Produzent des Films, George Pal. Dieser war von Hause aus Tricktechniker und mit Puppentrick-Kurzfilmen erfolgreich. In den 1950er Jahren produzierte er dann Science-Fiction-Filme wie „Kampf der Welten“. Sein erfolgreichster Film als Regisseur war „Die Zeitmaschine“ (1960), mittlerweile ein Klassiker. Die Realfilmszenen überließ er dem Routinier Henry Levin. Obwohl Levin mit leichter Hand inszeniert hat, kann dieser Handlungsstrang mit den Märchen nicht mithalten. Nach dem dritten Märchen schleppt sich der mit 138 Minuten überlange Film mühsam Richtung Happy End.
Der Film sollte die ganze Familie ansprechen, deswegen bekamen die Kinder die Märchen und die Erwachsenen die Geschichte um den quirligen Kindskopf Wilhelm und den verknöcherten Jacob. Doch die Figuren im Realteil sind zu blass gezeichnet, um wirkliches Interesse hervorrufen zu können. Alles ist auf die spektakuläre Optik und die Tricks ausgerichtet. Nur Laurence Harvey scheint seine Rolle als Wilhelm wirklich Spaß gemacht zu haben. Er interpretiert ihn als sympathischen Luftikus und bringt Schwung auf die Leinwand. Karlheinz Böhm, der nach den „Sissi“-Filmen einen Hollywood-Vertrag bekommen hatte (und über die Filme, die er dort drehen musste, bekanntermaßen nicht glücklich war), spielt Jacob der Rolle entsprechend trocken. Claire Bloom als Wilhelms Ehefrau muss nicht mehr tun als besorgt-verständnisvoll gucken und Barbara Eden („Bezaubernde Jeannie“) ist als Greta Heinrich, die mit Jacob verkuppelt werden soll, auch nicht sehr gefordert. In einer kleinen Rolle als wild grimassierender Herzog spielt Oskar Homolka alle an die Wand.
Kinder werden diesen Film im Jahr 2023 vermutlich als öde, altmodisch und langweilig abtun. Aber Erwachsene, die in ihrer Kindheit solche Filme an Feiertagen im Fernsehen sahen, werden mit nostalgisch verklärtem Blick ihren Spaß haben. Und die Optik der restaurierten Fassung kann gar nicht genug gelobt werden!
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