Tom Francis (Joes Gilles), Nicole Scherzinger (Norma Desmond) © Marc Brenner
Tom Francis (Joes Gilles), Nicole Scherzinger (Norma Desmond) © Marc Brenner

Sunset Boulevard (2023 - 2024)
Savoy Theatre, London

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Nicht weniger als eine Inszenierung für eine ganz neue Generation kündigte Andrew Lloyd Webber großmundig an, als er eine Neu-Produktion einer seiner erfolgreichsten Shows für das Londoner Savoy Theatre unter der Regie von Jamie Lloyd bekannt gab. Gleichzeitig konnte er noch einen wahren Besetzungs-Coup verkünden: Pop-Star Nicole Scherzinger, die mit den „Pussycat Dolls“ weltweit bekannt wurde, schlüpft für die knapp 16-wöchige Laufzeit in die Rolle der Norma Desmond, jener vergessenen Stummfilmdiva, die von ihrer Rückkehr auf die Leinwand träumt und immer weiter in eine Scheinwelt schlittert, bis es zum großen Unglück kommt. Und tatsächlich ist „Sunset Boulevard“ im Savoy Theatre anders als alle bisherigen Inszenierungen: Noch nie kam das Publikum den verschiedenen Charakteren des Stücks so nahe wie in der Inszenierung von Jamie Lloyd.

Sunset Boulevard ist einer der letzten Ausläufer der großen Bombast-Musicals der 80er- und 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Noch immer verbinden die Fans mit dem Stück die protzige golddurchwirkte Villa Norma Desmonds, die sowohl in den Bühnenhimmel als auch nach hinten fahren konnte, aus dem Tony-Award-prämierten Original-Bühnenbild von John Napier. Dementsprechend groß war die Sorge, als Jamie Lloyd, bekannt für seine enorm spartanischen Inszenierungen, die Regie dieses Revivals übernahm. Tatsächlich ‚entrümpelte‘ er unter anderem die gesamte Bühne, selbst Requisiten wie beispielsweise der tote Schimpanse, um den Norma trauert, oder das Drehbuch, welches sie für ihr großes Comeback – Verzeihung, ihre Rückkehr – verfasst hat, existieren nur in der Imagination von Darsteller und Publikum. Auf der komplett schwarzen Bühne werden stattdessen viele der Szenen von Kameraleuten, die den Sängerinnen und Sängern folgen, aus nächster Nähe frontal ins Gesicht gefilmt und auf eine überdimensionale Leinwand in schwarz-weiß auf den Hintergrund der Bühne projiziert. Es entsteht dadurch ein Eindruck größter Nähe und Intimität. Jede noch so kleine Mimik kann selbst in den letzten Reihen noch wahrgenommen werden und Normas Mantra, dass sie mit nur einem Blick alles erzählen könne, erfährt einen eindrucksvollen Beweis. Der Verneigung Jamie Lloyds vor dem filmischen Original trägt auch die Farbgebung der gesamten Produktion Rechnung: Die Kostüme von Soutra Gilmour, die allesamt der heutigen Zeit entstammen könnten, sind ebenfalls komplett in schwarz und weiß gehalten. Die Lichtregie von Jack Knowles spielt sehr gekonnt mit Licht und Schatten. Nur in einem einzigen Moment der Show leuchtet die gesamte Bühne, nämlich dann, wenn Norma in den Paramount-Studios von einem der alten Beleuchter wieder erkannt wird und er seinen Scheinwerfer auf sie richtet. Dieser kleine Moment – der bereits in der Original-Inszenierung einer der Gänsehaut-Momente war – wirkt durch die insgesamt dunkle Inszenierung nochmal viel beeindruckender. Beinahe direkt proportional zum immer stärkeren Abgleiten Normas in ihre Scheinwelt, in der sie immer noch ein großer Star ist, holt die Regie das Publikum zurück in die Realität. Das Titellied der Show zu Beginn des zweiten Aktes wird im gesamten Theater und sogar auf den Straßen vor dem Theater gesungen und von der Kamera begleitet auf die Bühne übertragen. Dabei verlassen die Darsteller auch ihre Rollen und Jamie Lloyd baut den ein oder anderen ironischen Seitenhieb ein: Max-Darsteller David Thaxton sitzt vorm Spiegel in seiner Garderobe und himmelt ein Foto der Pussycat Dolls an, Nicole Scherzinger schreibt – in Anlehnung an die Original-Kostüme einen Turban tragend – Mad About the Boy mit Lippenstift an ihren Spiegel (ein Satz, der in der ursprünglichen Inszenierung von Bedeutung war, nun aber gestrichen wurde). Zum Ende der Show hin, wenn Norma völlig den Bezug zur Realität verliert, zeigen die anderen Figuren im wahrsten Sinne des Wortes, dass sie nicht mehr mitspielen wollen: Betty, die junge Autorin, in die sich Joe während der Arbeit an einem gemeinsamen Drehbuch verliebt, nimmt nach ihrem letzten Auftritt beim Verlassen der Bühne das Mikroport und den Ohrhörer ab, ebenso Normas Butler Max. Wenn Joe Norma erklärt, dass er sie verlassen werde, zieht er sein Kostüm aus und steht nur noch in Unterhosen auf der Bühne.

Musikalisch wurde „Sunset Boulevard“ ebenfalls kräftig überarbeitet: The Lady’s Paying wurde gestrichen, an seine Stelle tritt eine mit beinahe hypnotischer Melodie hinterlegte Sprechszene, in der Norma mit samtweicher Stimme Joe zu ihrer Party einlädt und verkündet, sie habe ihm Geschenke auf sein Zimmer legen lassen. Gleiches Schicksal erfährt das mit der gleichen Melodie später folgende Eternal Youth is Worth a Little Suffering. Bei Too Much in Love, dem Liebesduett zwischen Joe und Betty, wurde ein instrumentales Zwischenstück mit der Melodie von Girl meets Boy eingewoben, welches diesen Song nun nicht mehr so solitär in der Show lässt wie in den bisherigen Inszenierungen. Einige Dialogszenen wurden ebenfalls überarbeitet; so sind beispielsweise die Namen der damaligen Stummfilm-Größen beinahe komplett aus den Texten getilgt. Im Orchestergraben nehmen 18 Musiker Platz und geben dem Score genau sowohl den richtigen Drive in den Ensemble-Nummern als auch die perfekte Dramatik in den Songs von Norma und Max. Die Soundqualität dabei ist hervorragend. Kristallklar lassen sich einzelne Instrumente heraushören und die Abmischung zwischen Orchester und Darsteller auf der Bühne ist in der besuchten Vorstellung perfekt. 

Die Ensemble-Szenen sind sehr ideenreich von Fabian Aloise choreographiert. Insbesondere die Szenen, in denen sich Drehbuchautoren und Jung-Schauspieler auf dem Gelände der Paramount-Studios herumtreiben, vermitteln sehr plastisch die Eintönigkeit und Frustration der Letzten in der Nahrungskette Hollywoods. Das Ensemble spielt mit enorm viel Energie, jede noch so kleine Rolle ist sehr gut herausgearbeitet und hat ihren ganz eigenen Charakter. Tom Francis übernimmt in diesem Revival die Rolle des Joe Gillis. Er legt seine Rolle näher als bisherige Interpretationen an das filmische Original an: So ist er stets gelangweilt und angeödet von der Filmwelt Hollywoods und insgesamt ein passiver Charakter, dem die Dinge im Leben passieren, ohne dass er direkt Einfluss darauf nimmt. Sein Sunset Boulevard ist schon allein dadurch enorm beeindruckend, dass er dabei treppauf, treppab durch die endlosen Gänge des Savoy Theatres und über die Straßen Londons gehend diesen schwierigen Song völlig mühelos singt. Grace Hodgett Young gibt als Betty Schaefer ihr West-End-Debut: Selbstbewusst und oft ironisch kommentierend legt sie ihre Rolle auch eher in der Gegenwart an als in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in denen das Musical eigentlich spielt und macht damit ihre Figur in der heutigen Zeit deutlich glaubwürdiger. Besonders bei Too Much in Love gibt sie mit ihrer kraftvollen und klaren Stimme eine eindrucksvolle Visitenkarte ab.

Alle Augen richten sich im Savoy Theatre aber natürlich auf Nicole Scherzinger als Norma Desmond. Die Figur der Norma wurde für diese Inszenierung komplett neu gedacht. Sie ist nicht mehr die ältere Grand-Dame, sondern eine Frau in ihren allerbesten Jahren. Norma trägt keine ausladenden Roben und keinen Turban: Das gesamte Stück über ist sie barfuß, hat ihre langen dunklen Haare offen und trägt ein kurzes schwarzes Seidenkleid. Wenn sie Joe davon erzählt, dass sie Salome nach ihrem neuen Drehbuch spielen wird, räkelt sie sich lasziv vor ihm auf dem Boden und geht mühelos in einen Spagat über. Scherzingers Norma ist eine herrische Gebieterin, die keinen Widerspruch duldet. Sie beherrscht die großen Gesten und spielt geschickt mit der Kamera. Mit ihrer Mischung aus Verführung und großen Stummfilmgesten, die sie vor der Kamera vollführt, entstehen teilweise skurril-witzige Momente, ohne aber ihre Figur der Lächerlichkeit preiszugeben. Mit ihrer kraftvollen Stimme interpretiert sie vor allem ihre beiden großen Songs With One Look und „As if we Never Said Goodbye dermaßen beeindruckend, dass sie nicht enden wollenden Szenenapplaus erntet. An ihrer Darstellung werden sich zukünftige Generationen von Norma Desmonds gleichermaßen messen lassen müssen wie bisher an den Darstellungen der großen West-End- und Broadway-Stars Glenn Close, Patti LuPone oder Elaine Paige.

Die wohl beeindruckendste Rolleninterpretation liefert allerdings David Thaxton in der Rolle des immer ergebenen Butlers Max ab. Bis zum letzten Moment bewahrt er die Fassade und unternimmt alles, um Normas Schweinwelt aufrecht zu erhalten. In den vielen Kamera Close-Ups legt er eine bemerkenswerte Mimik an den Tag: Voll Strenge, Bewunderung für Norma und eindeutig klarmachend, dass niemand ihr schaden dürfe, schmettert er seine Songs dem Publikum entgegen. Erst wenn Norma verhaftet wird, wird ihm offenbar bewusst, dass der letzte große Liebesdienst, den er ihr erweisen kann, noch ihr letzter großer Auftritt ist: Wie von Sinnen brüllt er seine letzten Regieanweisungen, reißt sich das Mikrophon vom Kopf und bricht unter Tränen völlig in sich zusammen. Am Ende steht Norma im wahrsten Sinne des Wortes ganz allein auf der Bühne und zelebriert blutverschmiert ihren letzten Auftritt.

Es bleibt spannend abzuwarten, wie sich das aktuelle Revival von Sunset Boulevard in seiner radikalen Neuinterpretation auf folgende Inszenierungen auswirkt. Normas Zeile We Gave the World New Ways to Dream darf sich Jamie Lloyd allerdings auf alle Fälle in seine Vita schreiben. 

Hinweis: Unsere Review entstand im Rahmen einer Preview vor der offiziellen Premiere.

 
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KREATIVTEAM
MusikAndrew Lloyd Webber
Buch / LiedtexteDon Black
Christopher Hampton
InszenierungJamie Lloyd
Bühnenbild / KostümeSoutra Gilmour
ChoreographieFabian Aloise
Musikalische LeitungAlan Williams
LichtdesignJack Knowles
SounddesignAdam Fisher
VideodesignNathan Amzi
Joe Ransom
 
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CAST (AKTUELL)
Norma DesmondNicole Scherzinger
Rachel Tucker,
(Lara Denning)
Joe GillesTom Francis
Betty SchaeferGrace Hodgett Young
Max von MayerlingDavid Thaxton
Lisa / MasseurGeorgia Bradshaw
Patsy / BeauticianHannah Yun Chamberlain
Camera OperatorJordan Cork
Camera Operator / SwingCatherine Cornwall
SheldrakeTyler Davis
Dorothy / AstrologerKamilla Fernandes
ArtieAhmed Hamad
Catherine / DoctorLaura Harrison
Joanna / MasseurCharlotte Jaconelli
Nancy / BeauticianOlivia-Faith Hamau
John / GuardLuke Latchman
Mary / Heather / AnalystEmma Lloyd
Jean / BeauticianMireia Mambo
Camera OperatorShayna McPherson
SammyGregor Milne
Finance Man / FrankKody Mortimer
Finance Man / Cecil B. de MilleJon Tsouras
Morino / Hog-EyeCharlie Waddell
SwingLillie-Pearl Wildman
Harrison Wilde
Kirsty Anne Shaw
Jon Reynolds
Michael Lin
  
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TERMINE
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TERMINE (HISTORY)
Do, 21.09.2023 19:30Savoy Theatre, LondonPreview
Fr, 22.09.2023 19:30Savoy Theatre, LondonPreview
Sa, 23.09.2023 19:30Savoy Theatre, LondonPreview
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