Operngesang in Weimar, Gesangspädagogik in Dresden, ein Konzertexamen-Aufbaustudium in Köln: Der Gesang hat es Nico Müller angetan. Dabei lässt er sich ungern in eine Schublade stecken. Denn obwohl er einem breiten Publikum als Mitglied der Klassik-/Pop-Crossover-Formation „ADORO“ bekannt wurde, ist Müller auch dem Musical nie abgeneigt gewesen. Wir trafen ihn nach einem seiner Auftritte und redeten unter anderem über seine Faszination für das Musical, die Unterschiede zwischen klassischem Gesang und Musicalgesang, die Vorurteile, mit denen sich das Genre leider immer noch herumärgern muss und seine Tätigkeit als Lehrer an Deutschlands einziger Berufsfachschule mit dem Ausbildungszweig Musical.
Nico, du bist als Mitglied der 2007 gegründeten Formation ADORO bekannt geworden, die Elemente der Oper mit beliebten Popsongs verbindet, wobei ein ziemlich unverwechselbarer Sound entsteht. Mit Crossover warst du also schon früh vertraut. War es da nur eine Frage der Zeit, bis du das Musical als weitere kreative Schaffensplattform für dich entdeckt hast oder ist das schon vorher geschehen?
Abenteuerlust lag mir schon immer im Blut. Mag sein, dass es insgesamt für die Klassik-Szene eher ungewöhnlich ist, sich aktiv mit anderen Genres auseinander zu setzen. Für mich jedoch war das nichts Besonderes. Ich hatte nämlich schon zu Studienzeiten das Glück, ein paar wunderbare Musicaldarsteller kennenzulernen, die meine Begeisterung für Musicalgesang weckten. Als Student habe ich dann als Gastsolist in einigen Stadttheaterproduktionen mitgewirkt, wie zum Beispiel in „Les Misérables“ (Gera und Hof) und in „Jekyll & Hyde“ (Chemnitz).
Als ausgebildeter Opernsänger wirst du die Vorurteile kennen, die dem Genre Musical aus dem Bereich der Klassik entgegengebracht werden: Seichte Unterhaltung für das weniger gebildete Volk, keine ernstzunehmende Kunstform. Wie stehst du dazu?
Musical ist ein ganz besonderes Genre in welchem Gesang, Schauspiel und Tanz in verschiedenen Facetten miteinander verwoben sind. Die meisten dieser Genre-Kritiker machen sich gar nicht bewusst, was für eine ganz besondere Leistung es ist, sich dieser Herausforderung zu stellen und im En-Suite-Theater bis zu acht Mal in der Woche auf der Bühne zu stehen. Meiner Ansicht nach gehört jeder, der dies herabwürdigt oder gar als „weniger gebildet“ abtut, selbst zu den weniger gebildeten Menschen. Ich habe selbst solche Vorurteile erlebt. Am besten ist es, dem keine Beachtung zu schenken. Das ist zugegebenermaßen manchmal wirklich nicht leicht!
Du hast bereits in einigen Musicals mitgewirkt und bist auch im Rahmen diverser Musical-Galas aufgetreten. Kann man als klassisch ausgebildeter Sänger automatisch Musical singen? Lassen sich die Techniken vergleichen?
Ganz klar: NEIN. Natürlich kann man als Opernsänger schon „irgendwie“ Musical singen – aber so wird man dem Genre in keinem Fall gerecht und alles, was ich bisher in dieser Richtung gehört habe, entspricht nicht der Stilistik des Musicals.
Man kann auch nicht wirklich sagen, dass eines von beiden schwerer oder leichter ist. In der Klassik geht es darum, seine Stimme so tragfähig zu bekommen, dass man über das Orchester ohne Mikrofon noch zu hören ist und trotzdem einen natürlichen „runden“ Klang erzeugt. Das bedeutet jedoch, dass leises Flüstern oder mutwillig „überlüftet“ zu singen eigentlich nur selten – wenn überhaupt – möglich ist. Aber davon lebt nun wieder das Musical. Mit Hilfe des Mikros kann man dort mit Klängen und Farben arbeiten, um etwas stimmlich darzustellen. Bei den „großen Songs“ muss man hingegen ebenfalls aussingen, aber mit dem Wissen im Hinterkopf, dass man über Band oder Orchester immer zu hören sein wird.
Man hat somit also mehr Möglichkeiten, einen Song zu gestalten…
Ja, und je nach stilistischer Richtung des Musicals gilt es klassischer oder eher moderner (Belt) von seiner Stimmtechnik zu sein. Ich hatte das Vergnügen, von tollen Muscialdarstellern lernen zu dürfen, dabei aber auch meine eigenen Erfahrungen aus der Klassik mit einbauen zu können. Von der Technik des Beltens war ich so begeistert, dass ich diese unbedingt lernen wollte. Mit Hilfe der klassischen Grundlagen – die übrigens nicht so weit vom Musicalgesang entfernt sind, wie einige Klassiker dies gern behaupten – fand ich meine Möglichkeit, dies zu tun.
Wenn man mit dir spricht, spürt man, wie sehr es dir der Gesang in all seinen Formen angetan hat. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass du deine Leidenschaft und dein Wissen darüber gerne an junge Menschen weitergeben möchtest. Seit einiger Zeit bist du als Lehrer an der Berufsfachschule für Musik in Sulzbach-Rosenberg tätig, die als einzige Schule dieser Art den Ausbildungszweig Musical anbietet. Wie sieht die Ausbildung dort aus?
Ich habe meine Tätigkeit als Gesangsdozent in Sulzbach-Rosenberg vor einigen Jahren aus Spaß am Unterrichten aufgenommen. Und mittlerweile ist sie doch recht umfangreich geworden! [Nico lacht.] Meine Hauptaufgabe liegt darin, junge Talente für die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule vorzubereiten. Die Ausbildung dort ist umfassend und findet an fünf Tagen in der Woche statt. Zum einen liegt ein Schwerpunkt natürlich auf Gesang, Tanz und Schauspiel. Aber Theorie wie Gehörbildung, Musikgeschichte, Tonsatz oder Grundlagen im Klavierspiel ist ebenso ein wichtiger Ausbildungsaspekt. Insgesamt dauert die Ausbildung zwei Jahre und konzentriert sich darauf, Grundlagen zu schaffen, um im Anschluss einen der begehrten Studienplätze zu ergattern.
Außerdem arbeite ich in Dresden bei der Musicalschule „Oh-TÖNE“; bereite junge Leute aber auch privat auf Aufnahmeprüfungen vor und bringe Klassikern die Stilistik des Musicals näher. Als Sänger muss man immer öfter verschiedene Stilistiken beherrschen, was diesen Job unglaublich spannend und vielseitig macht.
Du kennst die Anforderungen, die an Musicalsänger gestellt werden, aus eigener Erfahrung. Welche Voraussetzungen sollte man mitbringen, um in der Branche Fuß fassen zu können?
Ehrgeiz, Arbeitswille und Disziplin sind neben Stimme und Musikalität die wichtigsten Eigenschaften. Man muss sich immer weiterentwickeln und darf auch dann nicht stagnieren, wenn man gerade einen längeren Vertrag in der Tasche hat. Immer weiter zum Vorsingen gehen und aktiv an seinem musikalischen Leben arbeiten – so lautet die Devise! Und natürlich sollte man trotz teils stressigem Alltag für die Möglichkeit dankbar sein, Menschen für eine kurze Zeit aus ihrem Alltag in eine andere Welt zu entführen.
Gerade hast du berichtet, wie du in deiner Eigenschaft als Dozent junge Talente auf Auditions und Castings vorbereitest. Wie erlebst du diese selbst?
Als eine Art Abenteuer! Man weiß ja nicht, wer kommt und welche Vorraussetzungen oder Sichtweisen die Personen mit sich bringen. So macht es mir Spaß, zum einen stimmliche Schranken zu sprengen und einen Ausblick darauf zu geben, was eventuell noch möglich ist und zum Anderen neue Sichtweisen aufzuzeigen. Ich bin immer sehr stolz, wenn ich dann ehemalige Schüler auf der Bühne sehen kann.
Derzeit studiere ich zum Beispiel mit einem Chor aus 70 Schülern Musicalnummern für ein „Musical Gentlemen“-Konzert in Dresden ein [Anmerkung der Redaktion: Findet am 21. November 2015 statt]. Wir lachen viel miteinander aber auch übereinander, wenn ich beispielsweise versuche, dem hohen Sopran in der Kopfstimme vorzusingen. [Nico demonstriert dies und lacht.]
Eigene Auditions sind für mich eigentlich nicht so stressig. Ich versuche immer, mein Bestes zu geben und hoffentlich positiv zu überraschen. Eine hundertprozentige Erfolgsformel gibt es dabei nicht. Falls sie jemand kennen sollte: Immer her damit!
Aktuell nimmst du mit ADORO ein neues Album auf. Hast du schon mal mit dem Gedanken gespielt, ein Musical-Album herauszubringen?
Eines Tages will ich das unbedingt tun. Aber gerade habe ich für ein reines Musical-Solo-Programm keine Zeit und meine ganze Aufmerksamkeit in diesem Bereich gilt somit ADORO.
Wo können wir dich demnächst in einem Musical-Kontext erleben?
Neben dem bereits angesprochenen „Musical Gentlemen“-Konzert mit meinen drei wunderbaren Kollegen Kasper Holmboe, Karim Khawatmi und Stefan Tolnai in Dresden steht bereits der Termin für die Musical-Benefiz-Gala in Heidenheim 2016 fest. Außerdem habe ich einige „Philharmonic Rock“ Konzerte in diesem und nächsten Jahr, die auch Musical beinhalten werden. Daneben gibt es einige Soloabende. Ich würde mich natürlich sehr freuen, wieder einmal auf der Musiktheaterbühne zu stehen.
Das klingt so, als würde es auch zukünftig bei dir nicht langweilig. Vielen Dank für das interessante Gespräch!