Meine erste musikalische Begegnung mit Stephen Sondheim: 1994, „Sonntag im Park mit George“, Hessisches Staatstheater Wiesbaden.
Das Publikum ist extrem verwirrt. Musicals sind damals – und oft auch heute noch – für deutsches Theaterpublikum „My Fair Lady“ oder „Cats“: Melodienseligkeit und Tanz. Und das wird auch an diesem Abend erwartet.
Und dann bekommen die Zuschauer den in Musik umgesetzten Stil des pointillistischen Malers Georges Seurat zu hören: enervierende Stakkatotöne wie die Punkte, die Seurat mit seinem Pinsel auf die Leinwand stößt; Melodien, die beim ersten Hören allenfalls angerissen werden, Sprechgesang.
Das Theater leert sich geradezu fluchtartig in der Pause. Überall ist zu hören „Das ist doch kein Musical!“
Zumindest ist mir dieser Theaterbesuch so im Gedächtnis geblieben. Allerdings auch, dass die Produktion mit vielen singenden Schauspielern aus dem Hausensemble besetzt war, die mit der anspruchsvollen Komposition auf verlorenem Posten standen und man sich bei der Besetzung gewaltig ver– und die Gattung „Musical“ gehörig unterschätzt hatte. Denn Musicals im Allgemeinen und Sondheims Musicals im Besonderen sind eben doch mehr als Melodienseligkeit und Tanz.
Auch ich wusste nicht genau, was ich mit diesem Stück über einen Maler und sein Gemälde anfangen sollte – vor allem mit dem zweiten Akt, der sich so unnötig anfühlte, aber trotzdem war da etwas, was mich fasziniert und in den folgenden Jahren und Jahrzehnten immer wieder in Sondheims Stücke getrieben hat.
Nicht alles ist leichte Kost, die Umsetzung seiner Werke ist oft eine Herausforderung. Vor allem lässt sich Sondheim in keine Schublade stecken: „Passion“ ist mehr Oper als Musical; „A Funny Thing Happened on the Way to the Forum“ hat den Hang zum albernen Klamauk; die Mischung aus schwarzhumorigem Slapstick und einer Tragödie von fast griechischem Ausmaß macht es keiner „Sweeney Todd“-Inszenierung leicht. Der mordende Barbier hat sich in den letzten Jahren dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – einen festen Platz auf deutschsprachigen Bühnen erobert, ebenso „Into the Woods“.
Aber auch abseits der ‚Klassiker‘ gibt es noch einige Perlen zu entdecken: Da ist zum Beispiel „Merrily We Roll Along“, eine rückwärts erzählte Geschichte eines Freundes-Trios. Oder „Follies“, der melancholische Abgesang auf das alte Vaudeville-Theater mit hinreißenden Rollen für reife Damen. „A Little Night Music“, die bittersüßen Liebesverwirrungen auf einem schwedischen Landsitz um 1900 mit dem Welthit „Send in the Clowns“. Oder auch „Assassins“, ein sperriges aber faszinierendes Stück über neun Männer und Frauen, die versuchten, verschiedene amerikanische Präsidenten umzubringen. Und und und…
Sondheim war nicht nur ein vielseitiger Komponist, der viele Stile bedienen konnte und doch einen völlig eigenen Stil kreiert hat, er war auch ein hervorragender Songtext-Schreiber. Begonnen hatte er mit den Lyrics zu „West Side Story“. „Gypsy“ wollte er eigentlich komponieren, doch Ethel Merman, Star der Show, drückte den erfahrenen Komponisten Jule Styne durch. Sondheim blieben „nur“ die Songtexte, doch diese mauserten sich zu den Highlights des Stücks.
Für mich hat niemand Liebeskummer, Hoffen und Bangen treffender und herzzerreißender beschrieben wie Sondheim in „Losing My Mind“ aus „Follies“ und vor den herrlichen Reimen in „A Little Priest“ aus „Sweeney Todd“ verneige ich mich.
Seine Werke haben das Musicaltheater revolutioniert, auch wenn nicht jedes ein Hit war. Er hat viele Komponisten beeinflusst und unterstützt – was ja gerade auch ein Thema in der aktuellen „Tick, Tick … BOOM“-Verfilmung ist.
Das Musical verdankt ihm viel.
Und ich danke ihm für viele wunderbare Theaterabende.