Einmal pro Monat werde ich mich in meinen Fernsehsessel setzen und mir für euch einen Musicalfilm ansehen. Da werden bekannte Streifen dabei sein, aber auch Unbekanntes oder Vergessenes.
Diesmal habe ich Lust auf einen Film, der mich ohne Wenn und Aber begeistert hat. Lin-Manuel Miranda hat das biografisch angehauchte Kammermusical detailversessen, mit Herzblut und fabelhaften Darstellern verfilmt. Deutlicher als in der Vorlage bezieht sich der Film auf die Biografie des Komponisten Jonathan Larson und setzt ihm ein Denkmal ohne ihn zu glorifizieren.
Larson ist der große tragische Komponist des Musicals. Am Tag vor der Premiere seines Stücks „Rent“ (1996) verstarb er an einem Aneurysma. „Rent“ veränderte die Broadway-Landschaft und wirkte wie eine Frischzellenkur für das Musical. Zuvor hatte Larson die One-Man-Show „Tick, Tick … Boom!“ geschrieben, in der er selbst auftrat. Als Jon erzählte er vom Leben eines Komponisten, der versucht, sein Musical auf eine Broadway-Bühne zu bekommen.
Nach Larsons Tod wurde das Buch von dem Dramatiker David Auburn überarbeitet und die Besetzung auf ein dreiköpfiges Ensemble erweitert.
Der Titel spielt auf ein Geräusch an, das die Hauptfigur Jon hört. Es ist das Ticken der Zeit, die verrinnt. Er steht kurz vor seinem 30. Geburtstag und hat nahezu nichts vorzuweisen. Das Science-Fiction-Musical „Superbia“, an dem er gerade arbeitet, soll nichts weniger als eine Sensation werden, aber niemand will es produzieren. Um sich notdürftig über Wasser zu halten, jobbt er als Kellner. Sein Freund Michael hat die Schauspielerei zugunsten einer sicheren Stelle in einer Werbeagentur aufgegeben und auch seine Freundin Susan, eine Tänzerin, will ebenfalls ihre künstlerischen Ambitionen an den Nagel hängen und von New York in die Provinz ziehen. Sie stellt ihm ein Ultimatum – Jonathan muss sich zwischen ihr und seinem Musical entscheiden.
Statt sich nur auf die Geschichte eines verkannten Genies zu verlassen, verarbeitet Auburn in seinem Buch die Suche von Menschen um die 30 nach dem richtigen Platz im Leben, dem Abwägen zwischen innerem Drang und Sicherheit.
In der Musical-Vorlage hat Jon keinen Nachnamen, doch Regisseur Lin-Manuel Miranda und sein Autor Steven Levenson machen von Beginn an klar, dass es sich hier um eine Larson-Biografie handelt. Akribisch haben sie sich in sein Leben eingearbeitet, Interviews mit Freunden und Mitarbeitern geführt, Unterlagen gesichtet, Noten durchforstet, Videos angesehen. Die Detailversessenheit ging sogar so weit, dass Larsons echtes Apartment und das Moondance Diner, in dem er arbeitete, mit viel Gespür für die Atmosphäre der frühen 1990er Jahre für den Dreh nachgebaut wurden.
Die Hintergrundarbeit ist mehr in ein Gefühl für den Stoff und die Person Larson geflossen, denn von ein paar filmischen Schlenkern wegen zusätzlicher Songs und dem Hinzufügen einiger Nebenfiguren abgesehen, hält sich der Film an den Handlungsverlauf der Musicalvorlage. Aber gerade diese spürbare Verbindung macht „Tick, Tick … Boom!“ für mich so einzigartig. Ich würde auch mal davon ausgehen, dass Lin-Manuel Miranda die Gefühle der Hauptfigur aus erster Hand kannte und nachvollziehen konnte. Er hatte 2014 in der New York Times einen Artikel über den Einfluss von „Tick, Tick … Boom!“ auf sein eigenes Werk geschrieben. Sein Musical „In the Heights“ war schon ein großer Erfolg gewesen und „Hamilton“ stand zu dieser Zeit gerade in den Startlöchern. Der Artikel brachte die Produzentin Julie Oh auf die Idee zur Verfilmung und Miranda war ihr Wunschkandidat für die Regie. Er hat auch einen Cameo-Auftritt als Koch im Moondance Diner.
Broadway-Liebhaber werden ihre wahre Freude an den vielen weiteren Cameos von Broadway-Größen haben. Besonders hoch ist die Dichte bei „Sunday“, einer Parodie auf das Finale von Sondheims „Sunday in the Park with George“, wo u.a. Bebe Neuwirth, Chita Rivera, Bernadette Peters, Brian Stokes Mitchell und einige Cast-Mitglieder der „Rent“-Uraufführung durchs Bild huschen.
Miranda und Levenson haben ihrem Film weitere Songs aus Larsons Fundus hinzugefügt. Manche werden nur instrumental verwendet. Auch „Rent“-Motive sind zu hören. Eine offensichtliche Änderung ist die Streichung von „Green Green Dress“, einem Duett von Jon und Susan ziemlich am Anfang, das ich beim Ansehen des Musicals eigentlich ziemlich wichtig fand, weil ich als Zuschauer da gerade erst angefangen habe zu verstehen, wer da wer ist und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Die Szene wurde zwar gedreht, aber Miranda fand, sie bremse das Tempo aus und bringe die Handlung nicht voran. Vielleicht fehlt mir tatsächlich dieser Moment, der mich Jons Freundin Susan näherbringen könnte, denn im Film tritt sie etwas mehr in den Hintergrund, als ich es vom Musical her in Erinnerung habe. Es mag aber auch daran liegen, dass im Original die Darstellerin der Susan alle weiblichen Figuren spielt und sie daher öfter auf der Bühne präsent ist als ihre Figur Susan. Alexandra Shipp in der Filmversion verkörpert sie glaubhaft und nuanciert. Die Chemie zwischen Shipp und Jon-Darsteller Andrew Garfield stimmt und ihre Schlussszene ist wirklich herzzerreißend. Aber ein paar zusätzliche Dialogzeilen hätten womöglich etwas mehr aus dem Part gemacht als „die Freundin, die aus Vernunftgründen weggehen will, aber Jon immer noch liebt“.
Der Darsteller des Michael übernimmt auf der Bühne alle männlichen Figuren außer Jon. In der Verfilmung kann sich Robin de Jesús ganz auf Michael konzentrieren. Michaels Leben verläuft mittlerweile in geordneten Bahnen, auch wenn er mit Jon hin und wieder daraus ausbrechen kann. Die emotionale Wucht einiger Szenen spielt de Jesùs ganz hervorragend.
Im Zentrum steht aber Andrew Garfield als Jon. Durch die Frisur hat man ihn dem echten Jon optisch angeglichen. Garfield spielt und singt sich die Seele aus dem Leib. Er tut es aber nicht mit einer „Schaut her, wie gut ich schauspielern kann“-Attitüde, sondern er verschmilzt völlig mit seiner Figur. Dabei ist er nicht immer sympathisch, wenn Jon verstockt und egozentrisch an seinem Musicaltraum festhält. Das macht seine Darstellung umso realistischer. Garfield wurde dafür berechtigterweise von der Kritik mit Lob überschüttet und 2022 für einen Oscar nominiert.
Die zweite Oscar-Nominierung ging an den Filmschnitt – und auch das völlig verdient. Ganz großartig, wie bei „No More“ zwischen Michaels neuem Luxus-Apartment und der billigen Wohnung, die er sich mit Jon teilte, hin und her geschnitten wird und Garfield und de Jesús ausgelassen herumtoben.
Das Thema AIDS kommt zwar auch im Bühnenmusical vor, ist in der Verfilmung aber präsenter. Jons Kellner-Kollege Freddy – eine Figur, die im Musical nicht vorkommt – wird wegen seiner HIV-Infektion ins Krankenhaus eingeliefert und Jon drückt sich vor Besuchen, weil sein Musical für ihn höhere Priorität hat. Außerdem sieht Jon in den New Yorker Straßen Plakate von AIDS-Aktivisten. So fließt die (mögliche) Inspiration zu „Rent“ in den Film mit ein. Über eine andere „Rent“-Hommage – das schiefe „Speeeeaaak!“ auf Jons Anrufbeantworter – habe ich mich sehr gefreut.
Der Gesang ist ein Mix aus Aufnahmen vor dem Dreh, Aufnahmen bei der Postproduktion und Aufnahmen am Set. Die Dreharbeiten fanden während der Pandemie statt, deswegen wurde Live-Gesang auf ein Minimum beschränkt. Um „Boho Days“ direkt aufnehmen zu können, mussten alle Schauspielerinnen und Schauspieler – und das waren einige, denn die Szene spielt bei einer Party – vorher 14 Tage in Quarantäne.
Und noch eine letzte Anekdote: Stephen Sondheim, der sowohl im Musical, in der Verfilmung und in Larsons wirklichem Leben eine wichtige Rolle spielt, wird zwar von Bradley Whitford originalgetreu dargestellt, aber seine für Jon so wichtige Nachricht auf dem Anrufbeantworter sprach Sondheim höchstpersönlich.
„Tick, Tick … Boom!“ ist filmgewordene Liebe zum Musical. Mit leichter Hand, emotionaler Wucht und voller Bildeinfälle inszeniert, muss man kein eingefleischter Musicalfan zu sein, um diesen Film zu mögen. Ist man großer „Rent“-Fan, macht er aber noch mehr Spaß.
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