Isabel Dörfler © Bernd Brundert
Isabel Dörfler © Bernd Brundert

NEUES FEATURE
"Um zu berühren, muss man selbst berührbar sein." - Interview mit Isabel Dörfler

Isabel Dörfler gehört zur schillerndsten Riege der deutschsprachigen Musicalwelt und bezeichnet sich nicht nur selbst gerne als „Diva“. Wir haben uns zu einem ausführlichen und inspirierenden Tête-à-Tête mit „La Dörfler“ getroffen und viele interessante Geheimnisse gelüftet, die die ‚gelernte Diva‘ umgeben. Ihre Wurzeln, Träume, Ambitionen und Werte verrät uns die etablierte Sängerin. Was ihre Familie mit den Bremer Stadtmusikanten und den Freimaurern zu tun hat und ‚all things Diva‘ erzählt sie uns im ausführlichen Gespräch, bei dem klar wird, dass hinter ihrer Selbstbezeichnung eine große Menge Menschlichkeit und viel Geschichte schlummern. Außerdem hat sie uns auch brandaktuell ihr neuestes Engagement verraten und ihre spannende Einschätzung zur Rezeption des Musical-Genres in Deutschland mit uns geteilt …

Liebe Isabel, schön, dass du dir Zeit für unser Interview freigeräumt hast. Starten wir direkt: Jede Diva erzählt auch gerne von ihren bescheidenen Anfängen. Du bist in Bremen geboren. Aktuell lebst du in Berlin – und wenn man mit dir spricht, hört man sowohl Berlinerisches als auch norddeutsche Einfärbungen. Bist du ein Nordlicht oder eine Berlinerin?

Ich gebe mir außer ‚Diva‘ kein Label. [lacht] Ich war zwar zwischenzeitlich auch mal ein Landei, was ein toller Ausgleich zur dicken Stadtluft war, aber mein Beruf findet fast nur in Großstädten statt. Privat kann das für mich fast überall sein, wo die Leute nicht zu nordisch versteift sind. Aber Berlin und Wien sind meine beiden Lieblingsstädte.

Isabel Dörfler © Bernd Brundert

Wie und warum ist es dann dazu gekommen, dass du aus Bremen in die große weite Welt gezogen bist, und was hat dich dazu inspiriert?

Bremen ist entzückend – und klein. Ich wollte mehr sehen und erleben, inspiriert u.a. von meinem damaligen Lieblingsfilm „Yentl“ mit Barbra Streisand, den ich mehrfach im Kino gesehen habe. Ich wusste, die Welt ist groß. Wer etwas riskiert, muss bereit sein einen Preis zu zahlen. Mein Leben ist sehr abenteuerlich, aber auch unsicherer geworden durch meine Berufswahl. Ich habe vor ein paar Tagen „A Piece Of Sky“, den Schlusssong aus „Yentl“ für mein Best-of-Album, das im Winter erscheinen soll, eingesungen. Die Musik ist auch nach all den Jahren für mich wundervoll – niemals hätte ich mich getraut den Song zu singen, aber ich habe so ein wundervolles Orchester-Playback dafür geschenkt bekommen, und jetzt habe ich es getan – der schwerste Song meines Lebens!

Wie begann dann dein Weg in die Welt von Musik und Musicals  – und welche Rolle spielte deine Familie in deiner Ausbildung?

Ich bin als gelernter Teamplayer in einer Großfamilie mit zwei älteren Schwestern und einem jüngeren Bruder groß geworden. Meine Eltern wollten, dass auch gerade wir Mädchen Großstadtluft schnuppern und uns weiterbilden. Ab sechs Jahren sorgten meine Eltern bei mir für Ballettunterricht am Bremer Theater. Mit 17 fing ich an, als Solistin an kleinen Theatern neben meiner Schulzeit zu arbeiten, sang in verschiedenen Bands und Chören, und wusste: Ich will mehr. Ich wollte unbedingt ans Theater, habe dort ein Praktikum als Maskenbildnerin gemacht und für mich galt: „Hauptsache dabei sein!“ Ich kannte am Bremer Theater am Goetheplatz jede Ecke und habe, wenn keiner da war, dort am Flügel im Ballettsaal improvisiert und komponiert. Meine Eltern haben uns Kindern zuhause Musik- und Klavierunterricht spendiert. Mein Ballettlehrer wusste, dass ich singen konnte und ich seit ich 13 war in verschiedenen Theatergruppen gespielt habe, also schickte er mich zu einem Vorsingen im Bremer Theater. Ich wurde direkt genommen als 1. Solistin in einer großen Tucholsky Rock-Show, mit ganzen 18 Jahren! Es war auch noch ein Erfolg.

Isabel Dörfler in ihrem ersten Engagement bei „Tucholsky in Rock“ © Klaus Lefebvre

Erst danach habe ich die Musicalausbildung im Studio Theater an der Wien mit Stipendium gemacht. Seitdem habe ich als Solistin gearbeitet. Den Wunsch, Neues auszuprobieren, diese Neugierde auf das Leben werde ich, glaube ich, niemals los – eine Gnade am Älterwerden ist, dass man es akzeptiert. Ich liebe es, tief in Aufregendes, gern auch Neues einzusteigen. Mein Beruf soll ja schließlich auch mich unterhalten.

Wie war dein Elternhaus, und wie standen sie zu deiner Zukunftsentscheidung?

Meine Eltern haben meine Geschwister und mich mit großer Erwartungshaltung, allerdings wenig emotional unterstützend, teils streng erzogen. Meine Eltern waren beide Diven, auf ihre eigene Weise. Meine Mutter, eine emanzipiert rothaarige Lady mit grünen Fingernägeln, war Geschäftsführerin eines Porzellanladens in der berühmten Böttcherstraße in Bremen. Beinahe wäre sie bei Willy Brandt in Bonn Politikerin geworden, aber meine Eltern haben sich bewusst aus Sorge um die Sicherheit der Familie dagegen entschieden. Aber sie hat sich anders verewigt: Wenn man durch die Böttcherstraße geht, sieht man dort ein Messingschild, auf dem steht, man hätte den Knochen des Esels der Bremer Stadtmusikanten dort gefunden. Das war im Grunde ein Marketing-Gag und Presse-Event, der auf dem Mist meiner Mutter gewachsen ist.

Mein Vater war Ingenieur, hat die erste weibliche Freimaurerloge Deutschlands gegründet und als Vorsitzender einer weltweiten Wissenschafts-Freimaurerloge von Bischöfen und Malern bis hin zu Schriftstellern, Polizeidirektoren und Kriminalisten die schillerndsten Persönlichkeiten bei uns daheim empfangen. Meine Eltern haben große Geschichten geliebt, und ich habe viel zugehört und alles aufgesaugt, wie ein Schwamm. Ich war ein schüchternes Kind, bin zu Hause nicht viel zu Wort gekommen. Erstaunlich, oder? [lacht]

Isabel Dörfler in „A Chorus Line“ © Vereinigte Bühnen Wien

Meine Eltern und meine Schwestern waren die Stars. Es war mir gar nicht so klar, etwas Größeres in meinem Leben zu sehen. Ich fühlte nur eine sehr große Sehnsucht und großes Fernweh. Ich bemerkte aber, wie Menschen auf meine Arbeit, die ich bis zum heutigen Tag zutiefst liebe, reagieren. Mir ist es zum Glück gegeben, mich komplett in die unterschiedlichsten beruflichen Anforderungen und Spielarten mit Vielseitigkeit und großer Liebe zum Handwerk zu stürzen. Das ist früh aufgefallen. Kurz nachdem ich als Solistin am Theater genommen wurde, haben meine Eltern mich in der Nacht aufgeweckt und gefragt: „Isabel, ist es also das, was du machen willst?“ Bei meiner eindeutigen Antwort war das Thema gegessen. Und spätestens, als sie mich auf der Bühne gesehen haben, waren sie überzeugt. Ich war mit 18 schon Vollblut-Solistin, das war allen klar.

Wie bist du zu dem Titel der ‚Diva‘ gekommen?

Ich nenne mich durchaus scherzhaft ‚gelernte Diva‘. Das wird frau durch viel Arbeit, Beobachtung und die richtige Auswahl von Rollen, Konzerten und natürlich Kleidern. [lächelt]

Als Anfängerin hätte ich mich nicht getraut, mich Diva zu nennen. Als Teamplayer, der ich zutiefst bin, in einer Theaterproduktion, ist das auch nicht hilfreich. Ich bin ‚gelernte Diva‘, weil ich oftmals Diven spielen musste! Ich habe mir beigebracht, was eine Diva ausmacht. Der große Wurf sollte es sein, dramatisch, heiter, und dabei trotzdem nahbar und sensibel zu sein. Das ist gar nicht so leicht! Dafür musste ich eine Menge ausprobieren und lernen. Als eine der Musicaldarstellerinnen der ersten Stunde war ich wie meine Kolleginnen und Kollegen mit einer Menge Understatement unterwegs: Wenn ich nicht zu meinem damals noch kleinen Kind und meiner Familie nach Hause raste, habe ich am Bühnenausgang natürlich gerne Autogramme gegeben. Ansonsten waren wir alle eher zurückhaltend und wollten uns niemandem aufdrängen. Das ist natürlich noch immer so, aber mittlerweile darf man sich auch als Solistin feiern lassen, auf eigenen Konzerten oder als Hauptdarstellerin. Das hat das Diva-Werden dann erst möglich gemacht. Und das lebe ich mittlerweile auch gerne.

Isabel Dörfler in „Anything Goes“ © Nationaltheater Mannheim

Wie zeigt sich das Diva-Sein in deiner Arbeit?

Bei meinen Konzerten habe ich erst entdeckt, dass ich auch ganz und gar Entertainerin bin. Die Kommunikation und Nähe zum Publikum sind meine Passion. Eine Lieblings-Diva ist immer auch eine starke Projektionsfläche für andere. Im Konzert bin eben keine kühle, unnahbare Bühnenfigur. Die lebensfreundliche Diva Isabel Dörfler in meinen Konzerte ist nahbar und liefert trotzdem große Gefühle, singt große Songs mit Stimme und emotionaler Tiefe. Sie liebt was sie tut, hat eine Menge Humor, kann über sich und andere schmunzeln, ist dem Publikum und mir persönlich total nah. Gerade diese Mischung macht es interessant für hoffentlich alle persönlich Beteiligten! Es hat mich viel Überwindung gekostet, diese Anteile als Qualitäten anzuerkennen und ihnen zu vertrauen. Als Bühnenmensch war ich das so nicht gewohnt. Das glückliche Feedback meiner Konzertbesucher spricht für sich. Danke dafür!

Wie ist das Diva-Sein ganz konkret im Musical-Business für Dich?

Beim Diva-Spielen auf den Musiktheater-Bühnen sieht es so aus: Ab etwa fünfzig spätestens wird es schwer für uns Frauen bei der Rollenwahl. Starke Frauenrollen gibt es dann nur noch wenige. Entweder mütterliche Figuren, frustrierte Damen oder eben Diven. Also, was bleibt mir dann anderes übrig, als mich in die Diven-Richtung zu entwickeln? Wenn ich in eine Schublade rein muss, dann fülle ich diese auch selbstbewusst aus! Wie mein jetziger Mann dazu gesagt hat: „Segmentation means choice.“

Wann kommt bei dir die Diva raus?

Zunächst einmal ziehe mich für meine Konzerte natürlich entsprechend an. Was soll ich in Jeans und Bluse auf einem Konzert aufschlagen, wie langweilig wäre das denn?! [lacht]

Aber im Ernst: In einem wertschätzenden Team mit Leuten, die genauso gerne und professionell arbeiten wie ich und positiv gestimmt sind, kommt die krasse Diva selten raus. Im Endeffekt wollen wir mit dem Publikum zusammen einfach Entertainment erleben, unsere Passion teilen und eine emotional intelligente, schöne Zeit haben, bei der man sich im Bestfall gegenseitig inspiriert. Wer diesem vielleicht etwas divenhaften Anspruch nicht gerecht wird, arrogantes oder respektloses Verhalten zeigt, der wird womöglich konfrontiert. Zum Glück ist mir das nicht allzu oft untergekommen. Bei manchen Jobs habe ich mir allerdings schon ab und zu gesagt: „Halt die Klappe, du brauchst den Job, du hast eine Tochter Zuhause, du brauchst die Kohle, also sei ruhig.“ Aber bei einer meiner Großproduktionen wäre ich tatsächlich um ein Haar nicht dabei gewesen und war kurz davor zu gehen, weil die Regie dort mit mir und meinen Kollegen mit teils deutlich größerer Reputation als meiner sehr respektlos umgegangen ist.

Machtspiele kann ich überhaupt nicht tolerieren. Leute, die so agieren, halte ich weder für begabt noch für beruflich überzeugend. Da werde ich zur Diva!

Isabel Dörfler in „Antigone“ 1987 © Berliner Kammerspiele

Bleibt eine Diva immer bei sich, egal was passiert? Kann das nicht auch zu Problemen führen?

Ich bin jemand, der sich nicht verunsichern lässt und nicht vorschnell urteilt: Selbst wenn das Publikum mal unaufmerksam wirkt, kann es sein, dass die Leute die Zeit ihres Lebens haben. Wenn mal etwas nicht klappt und verrückte Situationen entstehen, die nicht vorhersehbar waren, versuche ich das Beste daraus zu machen. Während der Vorstellung bei „42nd Street“ in Stuttgart war einmal mein Mikrofon kaputt und der Herr vom Stage Management robbte über die Bühne, um mir ein neues zu geben, verzweifelt versuchend, unsichtbar zu sein. Als ich das dann beherzt kommentierte und das Publikum daraufhin lachte, habe ich sozusagen einen Eintrag ins Klassenbuch bekommen.

Auf der Bühne bei High-Class-Produktionen gibt es so viele Verabredungen, die man einhalten muss und von denen keiner abweichen darf. Wie ein Korsett fühlt sich das manchmal an. Aber die Kunst ist, sich im gesetztem Rahmen trotzdem selbstbewusst kreativ zu bewegen – oder sich irgendwann daraus zu lösen und sein eigenes Ding zu machen.

Konntest du dich aus diesem Korsett befreien, was das Musical-Business angeht?

Anfangs ging das nicht, da ich nicht ‚diese eine Rolle‘ für mich gefunden habe, die einen daraus befreit, und weil ich meine wunderbare Tochter großgezogen habe und somit ’nur‘ Stadttheater oder die sogenannten ‚Qualitätsshows‘ von Stage, die nur ein Jahr oder anderthalb liefen, spielen konnte. Erst als meine Tochter zwölf Jahre alt war, habe ich mich langsam wieder in die größeren Produktionen getraut, und da kam es mir eigentlich auch noch zu früh vor. Ich habe es geliebt, meine Tochter in ihr Leben zu begleiten, hatte aber immer den Ehrgeiz, Familie und Beruf zu kombinieren. Das war nicht einfach, denn ein Kind großzuziehen und eine Ehe zu führen, das kommt nicht mal eben auf der Nudelsuppe daher geschwommen! [lacht]

Wie hast du diesen Spagat zwischen Familie und Beruf gemeistert – und gab es auch Tiefschläge?

Meine erste Ehe ist relativ früh gescheitert, nicht an meinem Beruf. Viele machen es sich gern so einfach, die Schuld bei berufstätigen Frauen zu suchen! Berufstätige Männer spricht kaum einer schuldig. Ich war 15 Jahre alleinerziehend, ab dem Zeitpunkt, wo meine Tochter in die 2. Klasse ging. Und ich habe trotzdem eine Karriere gehabt. Das ging nur, weil mich meine Schwester unterstützt hat und meine Tochter mich bestärkt hat, weiterzuarbeiten. Meine Tochter musste sehr anpassungsfähig sein und hat mich sicher sehr oft zutiefst vermisst… Frauen mit Kindern fühlen sich immer schuldig –  weil unser System Frauen belügt: Sie sagen, du kannst alles machen! Aber das ist reines Wunschdenken. Frauen und Kinder bringen viele Opfer.

Meinen jetzigen Mann habe ich erst vor 10 Jahren kennengelernt. Ein wunderbarer, intelligenter und sehr humorvoller Mensch, der mir in wirklich allem zur Seite steht. „Diesem Ingenieur ist gar nichts zu schwör!“ [lacht]

Isabel Dörfler in „Cabaret“ © Theater Freiburg

Welche Schlüsse hast du aus dieser Zeit für deine Arbeit geschlossen?

Vielleicht ist es ein bisschen Diva, dass ich wegen all dem mittlerweile sage: Ich spiele nur Rollen, die mir Spaß machen! Nur einmal habe ich eine Rolle gehabt, die ich doof fand: Das war in „Harry und Sally“. Sonst würde ich alle Frauenfiguren nochmal spielen, die ich gemacht habe, da das vor allem ikonische Rollen waren, wie aus „Evita“, „Cabaret“, „Chicago“, „42nd Street“ oder „Rocky Horror Show“. Solche Stücke sind ja fast schon so ikonisch wie ein Gebetbuch. Das zu spielen ist wie ein Bekenntnis. Du hast all die Leute bei dir, die dieses Stück vor dir groß gemacht haben und es aktuell auf der ganzen Welt spielen. Das hat etwas Erhebendes und ich bin dankbar und stolz, diese Stücke in meinem Leben zu wissen!

Komisch, dass du trotz des Diva-Labels so lieb und freundlich wirkst!

Ja, das höre ich öfter! Ich stelle mir das auch manchmal bei meinen Solokonzerten vor. Wenn ich als freundlich-humorvolle Entertainerin rauskomme, können einige sich nicht vorstellen, dass ich dramatische, gar düstere Charaktere spiele wie eine Norma Desmond. Da muss ich also gegen mein freundliches Wesen anspielen. Das ist viel leichter, wenn man per se schon eine Rolle einnimmt und sich verkleidet. Mit dieser Diskrepanz spiele ich aber auch wahnsinnig gerne! Außerdem bin ich, weil ich im Theater aufgewachsen bin, eine disziplinierte, echte Teamplayerin. Das denken viele nicht von mir, sogar einige meiner Kollegen! Ich bin also eine nette Diva! „Die netteste Diva, die du je getroffen hast“ sagen meine lieben Fans über mich.

Und du bist nicht nur selbst eine Diva, du spielst divenhafte Figuren auch gerne auf der Bühne, wie du ja auch sagst. Was für Figuren sind für dich typische Diven?

Ich habe mit „A Chorus Line“ angefangen, wo ich Val gespielt habe. Diese Rolle muss humorvoll sein und sexy obendrein. Als Edith Piaf, die ich zwei Jahre lang gespielt habe, ist man das genaue Gegenteil. Natürlich war Dorothy Brock in „42nd Street“ eine meiner Lieblings-Diven: So schön lustig, ein bisschen böse und am Ende herzlich. Type-Casting also! [zwinkert]

Isabel Dörfler in „Piaf“ © Stadttheater Hildesheim

Beide würde ich aber auf jeden Fall als ‚Diven‘ bezeichnen. Viele dieser Figuren sind trotz allen Humors zu ihrem Umfeld gnadenlos, egozentrisch und fast schon böse. Das sind zum Teil richtige Biester, die ich da gespielt habe – nicht nur Piaf, sondern beispielsweise auch Norma Desmond. Kein Wunder, dass Norma am Ende zur Mörderin wird, der innere Druck ist einfach zu groß.

Also sind Diven für dich auch sowas wie Biester?

In gewisser Weise schon. Ein inneres Biest führt oft zu divenhaftem Verhalten im negativen Sinne, könnte man sagen.

Woher kommt dir dieser Gedanke?

Ich denke, das rührt aus etwas Traurigem: Ich bin Kriegsenkel. Meine Eltern haben als kleine Kinder extrem schlimme Kriegserfahrungen gehabt. Ihnen hat man ihre Jugend genommen. Sie haben in den 50ern sehr jung geheiratet, meine Mutter war mit 21 schon schwanger. Beide waren sie die jeweils Ältesten ihrer Familien und haben ihre Mütter unterstützt, die Verantwortung für Essensbeschaffung und für ihre kleinen Geschwister übernommen. Auf ihre Bedürfnisse wurde nicht eingegangen. Sie haben im Grunde geheiratet, um aus all den gesellschaftlichen Zwängen dieser Zeit ausbrechen zu können.

Isabel Dörfler in „Wunderbar“ vom Friedrichstadtpalast © Herbert Schulze / Friedrichstadt-Palast

Meine Eltern haben also all diese Stationen der Kindheit und Jugend, den Übergang ins Erwachsenenleben, den wir jetzt leben dürfen, nicht erlebt. Sie haben den Prozess von Sozialisierung nicht durchlaufen dürfen, sich nicht ausprobieren können. Daher konnten sie auf die emotionalen Bedürfnisse von mir und meinen drei Geschwistern auch nicht wirklich eingehen – sie haben es schlicht nie lernen können. Übermittelt wurde uns als Kindern schon früh: „Funktioniere! Sei ein nützliches Familienmitglied!“ Wer man für sich selber sein wollte, war egal. All das, was meine Eltern in ihrem eigenen Leben nicht ausleben konnten, all die Wut auf die Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren waren, schlummerten bis zuletzt in ihnen – wie innere Biester. Und mit denen waren wir als Kinder konfrontiert.

Waren deine Eltern also die ersten Diven deines Lebens?

Ich sehe es so. Mein Vater war Choleriker, meine Mutter, die eine große Schönheit war, sehr egoistisch. Als Reaktion auf das Verhalten meiner Eltern war ich ein Kind, das viel geschwiegen hat. Ich habe so getan, als wäre ich nicht da, damit kein Fokus auf mir liegt, ich habe einiges an Sprüchen abbekommen wie „Du bist nicht hübsch genug, nicht schlau genug, nicht fleißig genug, nicht laut genug, nicht leise genug.“ Also hielt ich mich zurück, übernahm früh Verantwortung dafür, den Familienfrieden zu bewahren durch z.B. humorvolle Einlagen, war gezwungenermaßen eine gute Beobachterin meines Umfelds. Im Grunde weiß ich also von meinen Eltern, wie Diven ticken und warum sie sich so verhalten könnten.

 Was gibt es dir, wenn du eine Diva auf der Bühne porträtierst?

Wenn ich heute eine Diva auf der Bühne spielen kann, die ihr inneres Biest herauslässt, ist das wie eine innere Befreiung. Als Edith Piaf beispielsweise jemanden zusammenzustauchen und dann von der Bühne zu stapfen… [seufzt wohlig] Danach geht’s mir super! Ich habe die Biester meiner Vergangenheit kurz frei gelassen. Für mich ist das, auch wenn einige davor warnen, irgendwie sehr therapeutisch.

Ist das nicht für die Seele gefährlich, sich Mal aufs Mal diesen Tiefen so hinzugeben?

Das, was ich da gerade beschrieben habe, mache ich nicht immer. Als gelernte Tänzerin kommt mir da, glaube ich, zugute, dass ich vieles über körperlichen Ausdruck kanalisieren kann. Auch eigentlich emotionale oder düstere Szenen kann man über das Körperliche spielen, ohne immer so weit gehen zu müssen, seine Seele zu entblättern. Bestimmte Bewegungen der jeweiligen Figur, die Körperhaltung und Gestik reichen sehr oft schon – sie sind wie Tanzschritte in einer Choreographie. Wenn man diesen Ansatz wählt, kann die eigene Person – die eigene Seele sozusagen – zuhause bleiben und sich schonen. Nicht zuletzt deswegen sind Rollen mit körperlichem Anspruch schon immer reizvoll für mich gewesen. Wenn sie körperlich nicht so anspruchsvoll sind, investiere ich viel in die Körperhaltung.

Isabel Dörfler als Norma Desmond in „Sunset Boulevard“ © Marlies Kross

Was ist denn deine liebste Divenfigur im Musicalbereich?

Da muss ich natürlich Norma Desmond sagen. Von ihr habe ich auch für mein Leben einiges gelernt. Beispielsweise, wie man nicht alt werden sollte. In diese Psyche einzutauchen, das verzweifelte Festhalten an der längst vergangenen Jugend, die Suche nach Anerkennung, Liebe. Fast schon unmenschlich. Und wie viele Leute sind tatsächlich in dieser verzweifelten Lage! Dieser permanente Druck, die Jugend zu erhalten.

Bist du frei von diesem Gedanken?

Nein! Ich kenne das selber: Wenn man die älteren Bilder auf dem Facebook-Profil anschaut und sich denkt: Diese Frau wäre ich gerne. Wieso sehe ich nicht so aus? Oder, wenn ich Zoom für Gesangsunterricht benutze, ich gebe zu: Da wird der Weichzeichner aktiviert, das erspart das aufwändige Zurechtmachen. Zum Glück ist es bei mir aber nicht so wie bei ‚richtigen‘ Stars, die dann, weil sie es nicht ertragen können, in Drogen- oder Alkoholexzesse verfallen – das Norma Desmond-Syndrom sozusagen. Oder eben wie ‚die alte Dame‘, verbittert und zynisch werden, mit den Menschen zu spielen beginnen, Empathie-unfähig geworden.

Gibt es noch Diven, die du gerne spielen würdest?

Da gibt es einige! „Mame“, „Hello, Dolly“… Jede Art von Fürstin macht ungeheuer Freude. Auch auf jeden Fall Claire Zachanassian aus „Besuch der alten Dame“. Obwohl ich mir anfangs gar nicht so sicher war. Ich war sogar ehrlich gesagt aus verschiedenen Gründen recht skeptisch bei dem Stück, Als ich ihr großes Solo „Die Welt gehört mir“ beim letzten Mitternachtsball in Duisburg gesungen habe, hat es mich selbst überrascht, wie viel mir diese Partie gibt. Figuren wie die ältere Kaiserin Elisabeth oder die alte Dame sind schon über den Punkt hinaus, sich gesellschaftlichem Druck auszusetzen und begegnen ihrem Umfeld zynisch. Unglaublich spannend, das zu erkunden! Ich wäre da auf jeden Fall dabei!

Isabel Dörfler als Hexe in „Into The Woods“ © Theater Bozen

Ich finde auch, dass du eine ziemlich überzeugende Mrs. Danvers wärst. Und die ist ja auch ein richtiges Biest. Passt doch, oder?

Mrs. Danvers würde ich auch wahnsinnig gerne mal spielen! Sylvester Levay und Michael Kunze haben mich damals allerdings dezidiert als Mrs. Van Hopper zum Casting angefragt. Michael kannte mich noch als Val in „A Chorus Line“, zu dem er die deutsche Übersetzung erstellt hat. Ich bin als Fun-Act im Gedächtnis bei vielen – auch durch „42nd Street“, das ich unfassbar gern gespielt habe.

Dunkle Charaktere spiele ich aber ebenso schon seit vielen Jahren, das ist allerdings bei manchen, die mich in einer bestimmten Rolle gesehen haben, nicht ganz präsent. Beim finalen Callback für Mrs. Van Hopper als First Cast waren wir nur noch zwei Casting-Teilnehmerinnen, da habe ich mich dann auch nicht mehr getraut, mal anzufragen, wie es eigentlich aussähe, mal für Mrs. Danvers vorzusingen – ich dachte, das könnte eventuell despektierlich wirken. Heute wäre ich da anders.

Wie sähe es denn mit Rollen aus, die gar nicht in deinem Alters- oder Genderspektrum liegen? Wenn es keine Grenzen gäbe, was würdest du gerne spielen?

Das ist wirklich eine tolle Frage! Wäre ich 15 Jahre später geboren, hätte ich schon gerne eine Elphaba oder eine Päpstin Johanna gespielt – das ist zugegebenermaßen schon ein bisschen schade! Aber durch Konzerte kann ich den Rollen auf meine Art trotzdem begegnen. Beim Gender-Tauschkonzert „Broadway Backwards“ habe ich gemerkt, dass ich an dunklen Männerrollen unheimlich Spaß habe: das Phantom oder Jekyll und Hyde! Wahnsinnig anspruchsvolle Rollen mit großer Präsenz und inneren Biestern, die auszuspielen reizvoll ist. Immerhin habe ich mit der Titelrolle in „Piaf“ oder der Hexe in „Into the Woods“ eine Menge Tiefen ausgelotet.

Da erlaube ich mir die plakative Frage: Wo enden die Ambitionen einer Diva?

Eine Bühnen-Diva hat keine endlichen Träume! Vor längerer Zeit habe ich mal geträumt, dass der Broadway angerufen hat und für „Sunset Boulevard“ dringend einen Norma-Ersatz brauchte. Und dann bin ich eingesprungen, wurde buchstäblich hofiert! Also im Ernst: Ich glaube nicht, dass ich es noch an den Broadway schaffe. Ich war früher, als der Gedanke mir kam, es mal zu versuchen, nicht mutig genug und familiär zu eingebunden. Vielleicht sollte ich es doch mal versuchen, mich als alternde Diva zu bewerben. Vermutlich nehmen sie dann aber lieber Patti LuPone. [lacht]

Da ist also noch Luft nach oben?

Auf jeden Fall geht da noch eine Menge, eventuell sogar besser denn je. Ich habe zwar schon viele Dinge in meinem Leben abgehakt, aber diese Zitrone hat noch Saft! [lacht] Auf jeden Fall möchte ich mich weiter in meinen Konzertformaten austoben: Von Marlene Dietrich und Hilde Knef über Ella Fitzgerald bis zu Whitney Houston singe ich so viel. Mit Hingabe! Und Leute, die an einem Abend so eine Bandbreite präsentieren, die gibt es nicht wie Sand am Meer.

Isabel Dörfler als Mrs Van Hopper © Tanja Dorendorf

Nach all den Jahren im Geschäft fällt es ja vielleicht langsam auf? Das Schubladendenken in Deutschland ist für vielseitig begabte Menschen eine Qual. Klassik, Jazz, Rock, Pop, Soul – mir ist gar nichts heilig! Ich will ja auch selbst gut unterhalten sein – Spiel, Spaß, Spannung! Was Besseres gibt es nicht! Und wer weiß, wohin mich das noch bringen wird.

Bist du eine der Diven, bei der der letzte Vorhang niemals fallen wird?

So eine bin ich und das muss ich einfach akzeptieren. Als Kind habe ich schon mit meinen drei Geschwistern Musik gemacht, von 6 bis 18 Ballett gemacht, in einer Theater AG gespielt, im Domchor in Bremen gesungen, eine eigene Jazzband gehabt. Meine Schwester hat neulich gefragt: „Ist es nicht irgendwann auch mal gut?“ Ich habe es in meinem Herzen bewegt, die Antwort lautet: „Nein, es ist erst gut, wenn ich das sage.“ Und das ist wahrscheinlich erst, wenn ich ausatme. Und mein größter Wunsch ist, dass ich dann, wenn alles zu Ende geht ich sagen kann: „War das toll hier – danke.“

Eine wunderbare Antwort! Hast du Tipps für aufstrebende Diven?

Ganz klar, als erstes: Suche dir Helden, Vorbilder und Idole, schaue dir von A bis Z alles an, wie arbeiten sie, was haben sie zu sagen, beobachte und analysiere, schaue dir was ab – warum faszinieren sie, wie treten sie auf, wie singen sie, warum agieren sie so wie sie es tun? Meine ganz persönlichen Stars sind Barbra Streisand und Whitney Houston. Mit Barbra habe ich früher beim Staubsaugen immer um die Wette gesungen, wer den Endton länger halten kann, und einmal habe ich gewonnen! Barbra fasziniert als Produzentin, Regisseurin, Sängerin und Schauspielerin sowieso. Eine Diva muss auch erfunden werden. Whitney ist für mich die größte Stimme, die es je gab in diesem Bereich.

Ja, von diesen Damen habe ich mir was abgeschaut, aber auch von Ikonen wie Judy Garland, Liza Minnelli oder Doris Day. Lass deine Vorbilder ein bisschen wie deine persönliche Kirche sein. Und dann ruf mich an! Als zweiten Schritt solltest du Unterricht bei mir nehmen, ich zeige dir alles! [lacht]

Isabel Dörfler als Gudrun in „Die Päpstin“ © Spotlight Musicals GmbH

Wo können wir „La Dörfler“ als nächstes sehen und was erwartet uns da genau?

Nächste Woche fangen die Proben an: Ich spiele die Erzherzogin Sophie in der Orchester-Version von „Elisabeth“, wir gehen auf Tournee damit nach China – sehr aufregend!

Parallel bereite ich mich auf ein großes Konzert vom 5. bis 7. Juli in Bukarest vor, wo ich beim „Festival International De Muzica Interbelica“ deutschsprachige Lieder aus den 1920ern bis 40ern zusammen mit dem fantastischen Radio Big Band Orchestra, meinem Violinisten Florentin Chiran und dem Pianisten Wolfgang Köhler interpretieren darf.

Und last but not least bin ich kommendes Jahr als Solistin in den Rollen der Fantine, Charity Barnum und Mrs. Danvers mit „This Is The Greatest Show“ auf großer Tournee, worauf ich mich schon sehr freue!

Das sind ja spannende Neuigkeiten!  Du bereitest außerdem dein Konzert „Filmhits Berlin-Hollywood“ vor…

Das ist ein besonderes und emotionales Programm, in dem ich Komponisten interpretiere, die vertrieben wurden und fliehen mussten. Evergreens, die ihre Aktualität in keiner Weise eingebüßt haben. Diese gehobene Unterhaltungskultur ist uns heute schon fast entglitten. Das ist zutiefst traurig. Dabei sind diese Melodien unser Erbe – es sind Lieder von Menschen, die aus unserem Land vertrieben wurden. Unsere Unterhaltungskultur ist von den Nazis mit Stumpf und Stiel ausgerissen worden.

Schlägt sich dieses Erbe das auch auf die Rezeption des Musical-Genres in Deutschland nieder?

Leute in Deutschland, die auf Musicals, meine Kollegen und deren Kunst herabblicken und schubladisieren – das kommt nicht von ungefähr. Die strikte Trennung von U- und E-Musik ist besonders in Deutschland immer noch unfassbar verfestigt. Dieses Erbe haben uns die Nationalsozialisten hinterlassen, und die deutsche Intelligenz kaut unbewusst deren vermeintliche Werte wieder. Weil hier kaum einer Ahnung vom Metier hat, keine Lust hat sich zu beschäftigen, über den Tellerrand zu blicken. Traurig. Wir haben hier in Deutschland überhaupt kaum Fachpublikum für Musicals und die vielen verschiedenen Genre-Erscheinungen davon. Manche glauben, es gibt nur „Das Phantom der Oper“ und sonst nichts – peinlich für jemanden wie mich. Ich habe „Chicago“ gespielt, Sondheim, „A Chorus Line“ … das alles ist kein ‚oberflächlicher Quatsch‘- Es kommt immer darauf an, wie es gemacht wird.

Isabel Dörfler © Bernd Brundert

Dir geht es also mit deinem Konzertprojekt auch um Aufklärung…

Mit diesem Konzert möchte ich auf das Trauma aufmerksam machen, das wir alle noch aus der Kriegszeit mit uns tragen. Großartige Künstler, die großartige Werke mit nach Hollywood genommen haben und dort dafür prämiert wurden. Es ist eine facettenreiche Hochkunst von Unterhaltung, die für viele Deutsche nichts wert ist. Dabei sind diese Lieder, die ich meine, das letzte Mal, dass wir Deutschen eine eigene musikalische Sprache gefunden haben. Zurecht rühren diese Lieder die Menschen oft zu Tränen. Sie lösen große Gefühle aus, und ich singe sie genau deswegen: Um aufzuklären und um zu berühren. Und das tun diese Lieder auch bei mir, weswegen es höchste Zeit für mich war, diesen Liederabend zu konzipieren. Um zu berühren, muss man selbst berührbar sein.

Liebe Isabel – ich danke dir von Herzen für dieses wunderbare, nahbare und ausgesprochen inspirierende Interview. Möge dein kommendes Konzert und alle deine nächsten Projekte volle Erfolge werden!

 
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