Ein regnerischer November-Tag in München. Im Café gegenüber des Staatstheaters am Gärtnerplatz, in dem gerade die Proben zu „Les Misérables“ als Kooperation des Gärtnerplatztheaters und des Theaters St. Gallen laufen, sind wir mit Fantine-Darstellerin Wietske van Tongeren verabredet. Und genau in dem Moment, in dem Türe des Cafés aufgeht und Wietske hereinkommt, bricht die Wolkendecke auf und paar Sonnenstrahlen erleuchten den ansonsten trüben Tag.
Erstmal freuen wir uns natürlich total, dass du dir trotz deines engen Proben-Plans Zeit für ein Interview genommen hast. Du darfst ja in der Neu-Inszenierung von „Les Misérables“ die Rolle der Fantine spielen.
Ja, wie geil ist das denn! Ich freue mich immer noch voll darüber. Die Anfrage dazu kam schon im letzten Jahr. Ich habe zwar keine wirkliche ‚Bucket-List‘ mit Rollen, die ich gerne spielen würde, aber natürlich gibt es so die eine oder andere Rolle, von der ich denke, dass es schon sehr toll wäre, damit auf der Bühne zu stehen. Für manche Leute ist die Fantine vielleicht mittlerweile schon zu abgedroschen; für mich ist diese Rolle aber ein Traum. Mein Mann [Martin Pasching, Anm. d. Red.], der schon einige Male „Les Misérables“ gespielt hat, meinte immer, dass ich auch unbedingt mal dieses tolle Stück spielen müsse. Als dann die Anfrage kam und die Information, dass Cameron Macintosh aber noch alles absegnen müsse, war ich natürlich total aufgeregt.
Wie wurde Cameron Macintosh denn dann in den Casting-Prozess mit einbezogen?
Wir mussten tatsächlich alle Videos schicken. Das Theater St. Gallen, an dem ich damals gearbeitet habe, hat das alles organisiert. Wir haben am Tag vorher mit Koen Schoots, dem musikalischen Leiter der Show, gearbeitet. Auf der Bühne des Theaters war ein riesiger Bildschirm aufgebaut und Koen war per Zoom zugeschaltet. Er meinte, dass wir drei oder vier Aufnahmen hätten und uns dann die Beste raussuchen könnten, die wir an Cameron Mackintosh geben. So funktioniere ich aber nicht. Ich steigere mich in Dinge, die ich mache, ziemlich rein. Deswegen habe ich mir vorgenommen, dass ich das jetzt einmal komplett konzentriert mache und es dann genau diese Aufnahme ist. Genau so habe ich es dann auch gemacht und hatte auch ein ganz gutes Gefühl dabei.
Zwei Wochen später kam dann eine Kollegin und meinte, dass sie ihre Rolle habe und kurz darauf später noch eine, die ebenfalls eine Rolle bekommen hatte. Ich habe mir dann gedacht, dass ich doch eigentlich ein ganz gutes Gefühl hatte. Da beginnt dann das Selbstvertrauen auch ganz schnell zu zerbröseln und es wird wirklich schwer, bei sich und seinem Gefühl zu bleiben. Fünfzehn Minuten später kam dann auch meine Zusage – aber das waren schon sehr lange fünfzehn Minuten.
Fantine ist zweifellos eine der Hauptrollen der Show, obwohl sie sehr schnell aus der Geschichte wieder verschwindet. Wie gehst du es an, einer Rolle, die nur wenig Zeit auf der Bühne hat, trotzdem einen Charakter zu geben?
Sie verschwindet ja nicht komplett. Immerhin darf ich am Schluss nochmal als Geist wiederkommen [lacht]. Was ich aber an dieser Rolle so toll finde ist, dass sie eine wirkliche Geschichte erzählen darf. Und ihre Geschichte ist relevant und sogar notwendig für die gesamte Story. Sie hat einen Bogen, der enorm schnell nach oben geht. Natürlich stehen wir alle sehr gerne auf der Bühne und machen gerne viel. Aber diese Rolle ist – obwohl sie nicht so viel machen darf – enorm toll.
Die Frage, wie ich mir die Rolle erarbeite ist eine gute Frage. Ich recherchiere vorher vieles nach und achte dann darauf, was das mit meinem Gefühl macht. Mir ist es wichtig, dass ich es schaffe, die Geschichte in meine Gefühlswelt zu übertragen. Und auch wenn es niemals meine Geschichte ist, die ich auf der Bühne erzähle, steckt natürlich auch in jeder Rolle jede Menge Wietske drin und ich glaube, dass es das auch ausmacht. Die Mary Tudor war mir als Person im Charakter zum Beispiel wahrscheinlich ziemlich fern. Diesen Kitzel und die Emotionen Marys kenne ich aber natürlich auch: Verletzter Stolz und auch mal fanatisch zu sein ist wahrscheinlich niemandem fremd. Ich verdränge das zwar, aber in einer Rolle bin trotzdem immer ich die Basis und das Verdrängte ist dann die Reise, auf die ich mich mit der Figur begebe. Manche Schauspieler gehen von der Rolle aus zu sich; ich gehe eigentlich immer von mir selbst aus zur Rolle. Wenn wir einen Faden zueinander gefunden haben, kann mich der Regisseur dann durch die Geschichte führen.
Wir hatten heute den ersten Durchlauf des ersten Aktes und dabei ist mir auch wieder aufgefallen, wie wichtig auch das Gespür im Miteinander mit den anderen Figuren ist. Ich finde es auch jetzt in der Probenzeit toll, wenn mich in einer heftigen Szene jemand auch wirklich anfasst und sich niemand mir gegenüber zurückhält. Wenn die Figur, die ich spiele, angefasst wird, möchte ich auch angefasst werden. Ich gehe einfach immer hundertprozentig in eine Sache rein und es hilft mir, wenn meine Kollegen das auch so machen.
Wie ist ‚deine‘ Fantine und was bewegt dich dieser Rolle auch persönlich?
Naja, zuerst – noch bevor die Geschichte einsetzt – ist sie natürlich jung und völlig unbedarft gewesen. Sie hat an die große Liebe geglaubt und damit kann ich mich sehr gut identifizieren. Mein Mann und ich sind schon lange Jahre zusammen. Bei Fantine lief es aber nicht so gut und sie musste schon in jungen Jahren – in einer sehr schwierigen Zeit, in einer Männerwelt – alles ganz allein schaffen. Sie trifft die Entscheidung, dass sie ihr Kind abgibt, um für dieses Kind arbeiten zu können und es zu unterhalten. Sie opfert sich komplett auf und stellt sich selbst in den Hintergrund. Ihre Opferbereitschaft geht dann schließlich so weit, dass sie sogar ihre Haare, ihre Zähne und ihren ganzen Leib für ihre Tochter hergibt. In kürzester Zeit ist sie komplett leergefressen. Diese Figur ist also alles andere als ein Püppchen. Sie ist eine starke Frau, die für ihr Kind kämpft. Als Mutter von zwei Kinder bewegt mich das natürlich total.
Es gibt in den Proben Momente, in denen Sätze nicht rauskommen, weil sie noch zu roh, zu pur und zu emotional behaftet sind. Das sind dann Sätze, die ich schauspielerisch noch nicht verinnerlicht habe. Ich kann sie noch nicht sagen, weil es mich sonst innerlich total zerreißen würde. Ich merke bei Fantine, ‚the sky is NOT the limit‘. Ich muss mich an diesen Stellen abgrenzen, sonst verwunde ich mich. Irgendwann während der Proben muss dies dann aber zur Routine werden. Das ist vielleicht dann auch der Unterschied zu Rollen, die weiter von meiner eigenen Person entfernt sind. Die Mary Tudor in „Lady Bess“ habe ich zum Beispiel sehr geliebt, weil sie so eine wütende und verletzte Frau war.
Ja, ganz ähnlich war ja auch Stephanie in Rudolf, oder?
Ja und nein. Stephanie war nochmal ganz anders. Ich hatte als Stephanie ja nur diesen einen Song und der war sehr dankbar. Nach der „Ich“ in Rebecca war das toll. Ich konnte mal eine andere Farbe von mir zeigen und die Leute waren völlig überrascht, weil sie mich mit dieser wütenden, starken Frau nicht in Verbindung gebracht hätten. Aber ich liebe einfach das völlig Unerwartete und wenn mir ein Regisseur die Möglichkeit gibt, dass zu zeigen ist das ein großes Geschenk.
Emotional sind diese Rollen alle sehr anstrengend. Wie gelingt es dir, nach der Show wieder aus der Rolle rauszukommen?
Meine positive Grundstimmung hilft mir dabei sicherlich total. Natürlich gibt es Szenen, die so emotional sind, dass ich schonmal eine kurze Pause zum Durchatmen brauche, wenn ich von der Bühne gehe. Wenn ich aus dem Theater rausgehe, habe ich es aber auch immer hinter mich gelassen. Dann rufe ich auf dem Weg zuhause an und frage, ob alles okay ist und schon bin ich wieder ich. Das ist ja auch enorm wichtig. Du kannst ja nicht alle Figuren, die du spielst, mit nach Hause nehmen. Das würde dann zu sehr mit Wietske kollidieren. In den Proben kommt es aber schon öfter mal vor, dass es irgendwas gibt, was mich auch nach dem Theater noch beschäftigt.
Was tust du im Theater, wenn Fantine gestorben ist? Übernimmst du Rollen im Ensemble oder wartest du dann hinter der Bühne auf deinen Auftritt am Ende des zweiten Aktes?
Ich bin im zweiten Akt noch in zwei Szenen dabei: Ich bin auf den Barrikaden und bei einer Trauerszene nochmal auf der Bühne. Das Tolle am Theater ist für mich, dass Theater immer eine Gruppenleistung ist. Wenn ich gerade nichts zu tun habe, sitze ich dann tatsächlich hinter der Bühne und stricke.
Du hast sowohl Rollen kreiert wie „Mary Tudor“ in Lady Beth oder eben die „Ich“ in Rebecca und jetzt schlüpfst du in eine Rolle, von denen es bereits quasi ikonische Rollenvorbilder gibt. Gibt es einen Unterschied, wie du dich auf eine solche Rolle vorbereitest?
Im Großen und Ganzen macht das für mich eigentlich keinen Unterschied. Ich versuche die Figur immer an mich heranzuholen. Ich versuche alles zu finden, was ich für diese Rolle brauche. Es ist mir wichtig, dass ich musikalisch alles habe und dass ich eine Stimme für die Figur finde. Für die Rolle der Fantine gäbe es natürlich viele Rollenvorbilder, an denen man sich orientieren könnte, aber sich an den Anderen zu orientieren bringt mir nichts. Eine Figur, die ich erstmal nur auf dem Papier – also in Noten und einem Textbuch bekomme – kann ich nur dann entwickeln, wenn ich mich mit ihr verbinden kann. Ich sammle mir dann Informationen zusammen: Wie alt ist die Figur, was ist ihre Vergangenheit, was war vorher, wo will sie hin? Für die Fantine wollte ich eigentlich den Roman lesen, das habe ich nicht ganz geschafft. Aber Victor Hugo beschreibt seine Figuren sehr sehr ausführlich, daran kann man sich gut bedienen. Im Musical ist das natürlich alles sehr auf einzelne Szenen komprimiert, aber die Beschreibung der Fantine ist trotzdem sehr eng an der Vorlage orientiert.
Wenn man an „Les Misérables“ denkt, fällt einem natürlich diese große Original-Inszenierung ein. Was erwartet das Publikum denn in St. Gallen und München?
Cameron Mackintosh ist ja immernoch in jede einzelne Inszenierung eingebunden und legt auf bestimmte Dinge in „Les Misérables“ enorm Wert. Von daher wird es nicht so weit vom Original entfernt sein. Wir machen einiges anders, aber auch nicht zu anders. Das Publikum wird „Les Misérables“ also auf alle Fälle wiedererkennen. Mehr möchte ich aber auch nicht verraten. Ihr müsst einfach kommen und es euch anschauen.
Ich fand sehr schade, dass ich die Inszenierung damals in Berlin nicht gesehen habe. Wenn ich mir da die Besetzung anschaue, denke ich immer immer „wow!“, Und mein Mann war Enjolras! Ich hab „Les Misérables“ einmal in London gesehen, ein paarmal in Thun, als Martin es gemacht hat. Vielleicht hab ich es noch einmal in Holland gesehen, aber das ist vor langer Zeit gewesen. Und öfter hab ich es nicht gesehen. Aber die Musik ist so großartig, sie hat alle Musiker wohl begleitet, also zumindest die Musiker meiner Generation.
Du hast vorhin erzählt, dass du keine Bucket-List an Rollen hättest, es aber natürlich Shows geben würde, die du gerne spielen würdest…
Ja, die gibt es natürlich, aber ich verrate sie nicht. Ich habe immer Angst, dass diese Rollen nicht kommen, wenn ich sie ausspreche. Im Moment bin ich aber einfach nur froh und dankbar, dass ich auch als Mama von zwei Kindern immer noch im Beruf stehen und arbeiten kann. Das ist ja immer noch nicht selbstverständlich. Mein Mann und ich sind da aber ein gutes Team. Ich konnte letzte Woche die gesamte Woche zuhause sein, weil ich als Fantine ja tot war. Jetzt bin ich während der Proben immer von Montag bis mittags unterwegs. Wenn wir die Show mal spielen, ist es natürlich noch einfacher. Dann bin ich höchstens fünf oder sechsmal im Monat weg.
Neben den ganzen Klassikern, die immer wieder auf den Spielplänen auftauchen, gibt es gerade einige neue Shows auf den Bühnen zu entdecken. Hast du Shows, die du gerade besonders interessant findest?
„Dear Evan Hanson“ wird bestimmt ganz toll im nächsten Frühjahr in Gmunden. „Hamilton“ fand ich sehr spannend. In der letzten Woche habe ich hier am Haus „Tootsie“ gesehen und das war ein so herrlicher und großer Theaterabend. Es ist sowohl musikalisch als auch schauspielerisch so toll und empfehlenswert. Das sollte mal auf deine Bucket-List! Eine tolle Inszenierung mit vielen tollen Leuten auf der Bühne. Ich musste so viel Lachen, soviel. Aber es berührt auch.
Liebe Wietske, vielen Dank für deine Zeit und natürlich Toi Toi Toi für eure Premiere am 09.12. in St. Gallen. Wir werden im Publikum sitzen und euch fest die Daumen drücken!
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