Seit 1997 kooperieren die Neuköllner Oper und die Berliner Universität der Künste (UdK) bei der Ausbildung des Musical-Nachwuchses. Davon profitiert auch das Publikum.
Seit 1988 residiert die Neuköllner Oper in einem ehemaligen Ballsaal mitten im gleichnamigen Kiez der deutschen Hauptstadt. Das vom Berliner Senat mit zurzeit jährlich 1,3 Millionen Euro geförderte Privattheater führt die Bezeichnung „Oper“ eher mit einem Augenzwinkern im Namen. Als „Musiktheater fürs Volk“ charakterisiert Andreas Altenhof, im Direktorium des Trägervereins für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit zuständig, die Spielplanfarbe, mit der sein Haus erfolgreich um die Gunst des Publikums buhlt: „In unseren Stücken erzählen wir Geschichten mit einer gewissen sozialen Relevanz vor aktuellem Hintergrund.“
Dabei wolle man „schräg und bunt“ sein. Große Kunst, wie in den anderen drei Opernhäusern der Stadt, sei kein Anliegen. Pro Saison steht mindestens ein Musical, häufig als Uraufführung, auf dem Spielplan. Neben Eigenproduktionen wie „Der Elefantenmensch“ (2004) oder „Held Müller“ (2006) sind dies regelmäßig Co-Produktionen, die aus der in Deutschland einmaligen Kooperation zwischen einem Privattheater und dem Studiengang einer Universität entstehen.
Beide Partner fanden 1997 zueinander, weil die Neuköllner Oper eine kostengünstige Art der Sommerbespielung suchte. Peter Lund war damals Künstlerischer Leiter des Hauses. Zeitgleich hatte er einen Lehrauftrag im zwei Jahre zuvor an der UdK gegründeten Studiengang Musical/Show erhalten. Was lag näher, als seinen Studenten die Möglichkeit zu geben, sich vor großem Publikum zu beweisen? So entstand Gershwins „Lady, Be Good!“, 1997 noch ohne Mikroports und mit einem fast lächerlich wirkenden Etat von 5000 D-Mark. Dennoch wurde die Show ein großer Publikumserfolg, der sich zu einer Kooperation mauserte. Hierfür existiert zwar ein Vertrag, der schlummert allerdings bis heute ohne Unterschriften in einer Schublade.
Inzwischen sind die Aufführungen der Musical/Show-Studenten integraler Bestandteil ihres Studiums im sechsten von acht Semestern. „Dann haben sie ihre Bühnentypen gefunden“, sagt Peter Lund, der 2004 die Neuköllner Oper verließ, um als Professor im Fulltime-Job an der UdK zu lehren. Er ist froh, dass seine Studenten an diesem Theater die Möglichkeit haben, unter professionellen Bedingungen in einer mehrwöchigen Spielserie mit 25 bis 30 Aufführungen vor Publikum aufzutreten. Bedingt durch die räumlichen Gegebenheiten agieren die Darsteller sehr nah am Publikum. Ideale Bedingungen für eine Ausbildung, die auf die Entwicklung markanter Darstellerpersönlichkeiten setzt.
„Jeder Jahrgang hat seine eigene Aura“ sagt Lund, der schon deshalb Wert darauf legt, dass die gezeigten Stücke zu den jeweiligen Darstellern passen. Deshalb ist er dazu übergangen, ihnen die Musicals buchstäblich auf den Leib zu schreiben. Hierzu werden mit den Studenten Workshops veranstaltet, in denen eine Grundidee zu einem Buch entwickelt wird. Für „Kauf dir ein Kind“ (2007) mutierte die Vorgabe „Pinocchio“ zu einer skurrilen Geschichte um Pino, das genormte, von einem Wohlstandspärchen aus der Fabrik georderte Kind. Begleitet wird der sich über zwei Semester hinziehende Musical-Entstehungsprozess natürlich auch von einem Komponisten. Bei den jüngsten beiden Uraufführungen war dies Thomas Zaufke, der die Musical/Show-Studenten ebenfalls über einen UdK-Lehrauftrag betreut.
Allerdings lässt sich nicht für jeden Jahrgang etwas komplett Neues erfinden. Das zunächst für 2006 entwickelte Stück kam über ein Skript und einige Songs nicht hinaus und landete auf dem Müll. Peter Lund: „Es passte einfach nicht.“ Als Ersatz grub er eine Operette von Jacques Offenbach aus und verlegte deren Handlung ins Insektenreich. Lunds Grundprinzip, die Stücke auf die Darsteller zuzuschneiden, funktionierte auch bei „Maja & Co“. Für die Neuköllner Oper, die bei der Stückauswahl kein Mitspracherecht hat und auch nicht haben will, ist dieses Prinzip ein Glücksfall. „An der UdK werden keine Musical-Mäuse produziert“, freut sich Andreas Altenhof über die fundierte und breitgefächerte Ausbildung.
Gleichzeitig ist dies aber auch ein Fluch: Wenn eine Produktion von der Auslastung her so erfolgreich ist, dass sie in der Folge-Saison wieder aufgenommen werden soll, dann ist es oft schwer, das Original-Ensemble für die neue Aufführungsserie wieder zusammenzubekommen. „Unsere Studenten werden häufig vom Fleck weg in andere Produktionen verpflichtet“, sagt Peter Lund nicht ohne Stolz.
Wer heute auf Besetzungspläne in der deutschsprachigen Musical-Szene schaut, entdeckt zahlreiche Absolventen, die ihre ersten großen Auftritte in den Co-Produktionen an der Neuköllner Oper hatten. Uli Scherbel erinnert sich noch gut an die Proben zur „Lady, Be Good!“-Inszenierung von 1997: „An Improvisation war alles erlaubt und es wurde sehr genau gearbeitet. So entstanden wunderbare Szenen. Das brachte uns Studenten an unsere Grenzen und darüber hinaus.“ Auch Tilmann von Blomberg gehörte damals zum Ensemble: „Mir gefiel die Musik und der Unsinn, den wir trieben.“ Gleichzeitig habe ihn das Gefühl beschlichen, „Kellertheater“ zu machen, da „richtiges Musical“ nur an den großen Häusern der Stella gezeigt worden wäre. Erst in der Rückschau habe er erkannt, wie sehr ihn die Arbeit mit Peter Lund geprägt und seine Vorstellung von Musical und Theater beeinflusst habe. Auch Uli Scherbel bestätigt: „Mir hat die Musicalarbeit an der Neuköllner Oper vor allem beigebracht, nicht zu kopieren, sondern zu kreieren“. Lars Redlich, noch bis 15. März in „Kauf dir ein Kind“ als Zuhälter King auf der Bühne, schätzt darüber hinaus, dass er das Erlernte in regelmäßigen Spielterminen vor echtem, zahlenden Publikum ausprobieren kann. „Es ist eine ganz besondere Erfahrung, eine spielerische Leistung nicht wie im Studium üblich, nur einmalig abzuliefern. Dadurch erhalten wir Job-Routine in einer Cast, die sich schon vorher sehr gut kennt.“
Wer sich heute auf eine Inszenierung mit dem nächsten Studentenjahrgang freut, der muss sich allerdings etwas gedulden. Da in dem vierjährigen Ausbildungszyklus nur jeweils drei Jahrgänge zeitgleich ausgebildet werden, wird die nächste Produktion erst im Frühjahr 2009 herauskommen. Die ersten Workshops mit den Studenten, die Peter Lund als „großstädtisch“ charakterisiert, haben allerdings schon begonnen.