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Unser Rezensent Frank Guevara Pérez war auf Stippvisite am Broadway und hat dort die Premiere der Neufassung von Andrew Lloyd Webbers jüngstem Werk besucht. Statt „Cinderella“ heißt die Märchen-Adaption nun „Bad Cinderella“ und wartet auch sonst mit einigen Änderungen gegenüber der kurzlebigen Londoner-Urfassung auf.
Was passiert, wenn sich eine Oscar-ausgezeichnete Autorin und der wohl erfolgreichste Musical-Komponist unserer Zeit zusammentun, um das Märchen vom Aschenputtel neu zu erzählen? Einen ersten Eindruck dessen gibt Andrew Lloyd Webber, wenn er das Publikum zu Beginn der Show per Durchsage im Königreich Belleville begrüßt: Ein Königreich, in dem alle so perfekt und wunderschön und alles so idyllisch ist, dass selbst Disney es „over the top“ findet. Und auch wenn die Geschichte nicht immer Sinn ergibt, macht sie höllisch viel Spaß. Dies liegt nicht zuletzt an Broadway-Legende Carolee Carmello, die als Stiefmutter zeigen darf, wie herrlich witzig es sei kann, böse zu sein.
Es war ein medialer Super-GAU als LW-Theatres, die Produktionsgesellschaft Andrew Lloyd Webbers das vorzeitige Aus der Londoner Spielzeit im Sommer 2021 verkündete. Die Verantwortlichen hatten nämlich versäumt, Cast und Crew, deren Verträge man vor kurzem noch verlängert hatte, vor der öffentlichen Bekanntmachung in den sozialen Medien über das Ende „Cinderellas“ im Gillian-Lynne-Theatre zu informieren. Gerade als sich der Shit-Storm wieder einigermaßen beruhigt hatte, gab Andrew Lloyd Webber bekannt, dass er „Cinderella“ im Frühjahr 2023 mit überarbeitetem Buch und neuen Titel als „Bad Cinderella“ an den Broadway bringen wird. Als nicht amerikanischer Komponist ist er es sicherlich durchaus gewöhnt, dass seine Stücke am Broadway erstmal äußerst argwöhnisch betrachtet werden. Die Ablehnung, die „Bad Cinderella“ und vor allem auch seiner Besetzung wiederum entgegenschlug noch bevor überhaupt ein erster Ton auf der Bühne erklungen ist, dürfte allerdings selbst für ihn beispiellos gewesen sein. Zweifelsohne ist „Bad Cinderella“ nicht Lloyd Webbers beste Show. Vielleicht ist sie aber seine witzigste und vermutlich auch sein charmantestes Werk.
Die 2021 mit dem Oscar für das beste Drehbuch für den Film „Promising Young Woman“ ausgezeichnete Autorin Emerald Fennell erzählt die Geschichte von Cinderella frei angelehnt an der Originalvorlage und erlaubt sich einige freie Interpretationen. Ihre Titelfigur entspricht so gar nicht dem Schönheitsideal des Königreichs Bellevilles und tut auch nichts dafür dem zu entsprechen. Außerdem ist Prince Charming, auf den alle Hoffnungen für die Zukunft des Königreichs liegen, verschollen. Seine geschäftstüchtige Mutter, die Königin Bellevilles beschließt also, dass Charmings nerdiger Bruder Prince Sebastian ran muss. Cinderella und Sebastian sind seit ihrer Kindheit miteinander befreundet und mehr oder weniger offensichtlich auch ineinander verliebt. Auf dem Ball, auf dem Sebastian seine Braut wählen soll, erkennt er Cinderella allerdings nicht, weil sie sich – gegen jede Erwartung – in eine Schönheit Bellevilles verwandelt hat. Beim mitternächtlichen Glockenschlag schubst die böse Stiefmutter Sebastian in die Arme ihrer Tochter Marie, die Sebastian dann küsst. Damit scheint das Schicksal besiegelt zu sein. Wäre da nicht Prince Charming, der in letzter Minute auftaucht und seinen Bruder rettet.
Offenbar haben die Macher von „(Bad) Cinderella“ die Schwächen im Buch der West-End-Inszenierung erkannt. So wurde für die Überarbeitung des Broadway-Skripts die erfahrene Playwright und TV-Autorin Alexis Scheer beauftragt. Wird in die Architektur einer bestehenden Geschichte eingegriffen, bleibt es allerdings nicht aus, dass zwar offene Baustellen geschlossen, andere allerdings aufgerissen werden. So auch bei „Bad Cinderella“. Auf der einen Seite gelingt es Scheer zwar sehr gut, die Personen und ihre Beziehungen zueinander deutlicher zu zeichnen. Vor allem der Titelfigur konnte Scheer mehr Tiefe verleihen – unter anderem damit, dass sie sie mit ihrem breiten Brooklyn-Akzent vom restlichen Königreich noch klarer abgrenzt. Von Anfang an ist nun auch viel klarer, dass Cinderella und Sebastian schon immer ineinander verliebt waren, beide dies aber – aus Schüchternheit bei Sebastian, aus Coolheit bei Cinderella – niemals zugeben würden. Viele der bisherigen Dialoge wurden gelungen überarbeitet und teils stark gekürzt. Auch ist es Scheer geglückt, erzählerische Bilder immer wieder aufzunehmen. Besonders schön ist dies in der Szene zu erkennen, wenn Sebastian Cinderella völlig entsetzt von den Heiratsplänen, die seine Mutter für ihn hat, erzählt und dabei mit ihr in Streit gerät. Er fragt sie, warum sie so herzlos sei, und Cinderella antwortet in ihrer immer cool-schnoddrigen Art, dass sie vielleicht überhaupt kein Herz habe. Dieses Motiv wird jetzt im großen Eleven-o’Clock-Song der Show „I Know I Have a Heart (Because You Broke It)“ wieder aufgenommen.
Auf der anderen Seite sind allerdings auch bisherige Verbindungen – teilweise völlig unnötig – der Schere zum Opfer gefallen: Nach der geplatzten Hochzeit sucht Sebastian nach Cinderella, die Belleville verlassen möchte. Dabei trifft er auf die Godmother, die gute Fee, die als Gegenleistung für Cinderellas Schönheit ein Medaillon – Cinderellas einziges Erinnerungsstück an ihre Eltern – erhalten hat. Die Godmother gibt Sebastian das Medaillon im Originalbuch zurück mit den Worten, dass er jetzt ein Erinnerungsstück daran habe, als er verpasst habe „zu sehen“. Damit nimmt sie das Motiv aus Sebastians Solo „Only You, Lonely You“ wieder auf, in dem er über Cinderella sagt, dass er nur durch sie sehen könne, wer er wirklich sei und was er wolle und ihr verspricht, sie dies auch sehen zu lassen. Im Original wird damit sehr schön ein Kreis geschlossen. Die neue Fassung verzichtet darauf, das Motiv des Sehens und Erkannt-Werdens sprachlich aufzugreifen.
Gabriela Tylesova hat ihr Kostüm- und Bühnenbild ebenfalls einer Überarbeitung unterzogen. Die Kleidung der Einwohner Bellevilles ist nun deutlich bunter und prachtvoller gestaltet; die Anspielung Lloyd Webbers auf Disney zur Begrüßung wird hier einmal mehr besonders deutlich. Cinderella – als Enfant terrible der Geschichte – ist jetzt nicht mehr im Gothic-Chick sondern in Kostüm und Akzent als typischer Brooklyn-Hippie und damit im krassen Gegensatz zum märchenhaft pittoresken Belleville gezeichnet. Im Bühnenbild ist die Überarbeitung am deutlichsten in der Ball-Szene ausgefallen: Am Broadway muss die Show leider ohne den großen Effekt der Londoner-Inszenierung – das in der Ballszene um die Bühne rotierende Auditorium – auskommen. Hierdurch verliert sowohl der Ball, aber auch die gesamte Show ein bisschen von ihrem bisherigen Flair. Vielleicht ist es allerdings eine Wiedergutmachung, dass die in London sehr mager ausgefallene und mit vielen vorproduzierten Orchesterparts vom Band ergänzte Cinderella-Band im Imperial-Theatre nun durch ein opulentes Musicalorchester mit über 20 Personen im Orchestergraben ersetzt wurde. Die Unterschiede im Sound sind deutlich hörbar.
Lloyd Webber selbst legte – für seine Kompositionen beinahe einzigartig – auch nochmal selbst beherzt Hand an seine Partitur an und tauscht gleich zwei Melodien komplett aus: Die Eröffnungsnummer „Buns ’n‘ Roses“ wurde durch das deutlich souligere „Beauty is Our Duty“ ersetzt. In seinen Lyrics macht es gleich zu Anfang auch nochmal deutlicher, worauf es im Königreich Belleville ankommt. Musikalisch wirkt die Nummer allerdings eher wie ein Fremdkörper und die nachträgliche Einfügung fällt deutlich auf. Viel besser gelungen ist hingegen der Tausch von „Unbreakable“ gegen „Easy to Be Me“. Es ist eine dieser sehr einfachen Melodien Lloyd Webbers, die sich ähnlich wie „Twisted Every Way“ aus „Phantom“ vom Gehörgang direkt ins Gehirn bohrt und nie wieder von dort verschwindt. In den verschiedenen Reprisen des Songs schwebt immer ein sehr schön gearbeiteter Underscore durch die Bläser mit ein und untermalt damit die jeweilige Situation sehr stimmungsvoll. Während es beim ersten Mal sehnsuchtsvoll und romantisch klingt, schwingt in der Reprise durch die Stiefmutter die aufziehende Bedrohung vor dem Ball deutlich mit.
Die beiden Hauptrollen übernehmen Linedy Genao als Cinderella und Jordan Dobson als Prince Sebastian. Linedy Genao legt ihre Cinderella cool und schnoddrig an und schafft es damit sehr gut zu zeigen, wie sehr sie alles, wofür Belleville und seine Einwohner stehen, verachtet. Sie hat einige witzige Momente, die sie auch voll auszuspielen vermag. Die stimmlichen Herausforderungen der Rolle meistert sie mühelos und zeigt ihre verschiedenen Facetten, sei es bei ihrem Titelsong, beim kraftvollen und herzzerreisenden „I Know I Have a Heart“ oder auch im neu dazugekommenen „Easy to Be Me“, das Lloyd Webber offenbar ganz speziell für sie in die Show eingearbeitet hat.
Jordan Dobson reist das Publikum mit seinem Solo „Only You, Lonely You“, das für die Broadway-Fassung einen noch deutlich aufgemotzten Schlussakkordverordnet bekommen hat, zu minutenlangen Szenenapplaus hin. Auch in seinen Schauspielszenen beweist er genau das richtige Timing, so zum Beispiel, wenn er hinter der alles dominierenden Königin hervortritt und das Volk Bellevilles mit einem schüchtern-nerdigen „Hi!“ begrüsst. Selten kann ein Darsteller mit nur einem Wort seine Figur so deutlich charakterisieren. Stimmlich und tänzerisch sind sowohl Linedy Genao als auch Jordan Dobson dort angekommen, wo sie ganz klar hingehören: in eine Hauptrolle am Great White Way.
Christina Acosta Robinson liefert als Godmother ein äußerst stimmgewaltiges „Beauty Has a Price“ ab, ein Song, der direkt aus einer der neueren Überarbeitungen von „Tell Me on a Sunday“ kommen könnte.
Jeder, der im West End Victoria Hamilton Barritt als böse Stiefmutter gesehen hat, wird sich zweifellos die Frage stellen, ob Broadway-Ikone Carolee Carmello in diese Fußstapfen treten kann. Und die Antwort ist: Ja, sie kann! Und wie sie kann! Zwar hat sie nicht das urkomische Minenspiel ihrer Londoner Vorgängerin, aber auch sie ist abgrundtief böse und dabei unglaublich lustig. Besonders im Zusammenspiel mit Grace McLean als völlig durchgeknallte Königin gelingen Momente voller Situationskomik. Die Szene, in der die Stiefmutter bei der Königin vorspricht, um ihre beiden Töchter als geeignete Bräute anzupreisen, und dabei auch gleich anmerkt, dass sie die Königin aus ihrer Zeit als Tänzerin in einer zwielichtigen Bar kenne, ist urkomisch: Angefangen mit der non-verbalen Kommunikation zwischen den beiden, wenn die Königin möchte, dass sich die Stiefmutter noch tiefer vor ihr verneigt, diese es aber altersbedingt nicht mehr schafft – bis hin zur Slapstick-Komik, als die Königin versucht, die Stiefmutter mit einer Tortenschaufel zu erstechen. Immer wieder wechselt die Stiefmutter im entscheidenden Moment den Platz und fischt besagte Tortenschaufel aus einer Sofaritze heraus, wohin sie die Königin flugs hat verschwinden lassen, nur um sie der Königin gleich wieder zurückzugeben, als sei es das normalste auf der Welt. Eine Strapaze für die Lachmuskeln!
Der Humor in „Bad Cinderella“ wandelt stets auf einer sehr dünnen Klinge. Selbst wenn zum Ende der Show hin Prince Charming zurückkehrt und die gesamte Hochzeitsgesellschaft inklusive der Stiefmutter und der Königin in völlige Verzückung verfällt, gelingt es der Cast, nicht in Klamauk abzurutschen, sondern eine gute Balance zu halten.
Am Ende scheint sich alles in Wohlgefallen aufzulösen: Prince Charming ist zurück und hat mit der Hochzeit mit seinem eigenen Prince Charming das Königreich gerettet und die böse Stiefmutter hat doch nicht über Cinderella gesiegt. Aber werden sich Cinderella und Sebastian noch finden? Das ist eine andere Geschichte und soll an einer anderen Stelle erzählt werden.
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