Henning Bäcker (Clifford Bredshaw), Sascha Maria Icks (Conférencier) © Heiko Sandelmann
Henning Bäcker (Clifford Bredshaw), Sascha Maria Icks (Conférencier) © Heiko Sandelmann

Cabaret (2019)
Stadttheater, Bremerhaven

Kurz­bewertungRezen­sionKreativ­teamCastTer­mi­neTermi­ne (Archiv)
 

Mark Zurmühles Inszenierung ist eine Gratwanderung zwischen zügellosem Amüsement und – besonders im ersten Teil – sehr weich gespültem Unterhaltungstheater. Eine tolle Band und ein solider Cast garantieren einen runden Musical-Abend mit eindrucksvollen Bildern zu den Aktschlüssen. Hier wird der Conférencier von einer Frau dargestellt.

Rechtsruck bei der Verlobungsfeier: Als Fräulein Kost beim Fest von Fräulein Schneider und Herrn Schultz naiv-berechnend voller Inbrunst das deutschtümelnde „Der morgige Tag ist mein“ anstimmt, stoppt die sich während der gesamten Vorstellung permanent bewegende Drehbühne abrupt und ändert für den Rest des Stücks ihre Fahrtrichtung. Aus der Links- wird eine Rechtsdrehung, die Musiker wechseln bei den untermalenden Variationen des „Ananas“-Songs vom Walzer- in den Marschrhythmus und die meisten der Gäste paradieren wie ferngesteuert im Stechschritt. Mit diesem eindrucksvollen Bild entlässt Regisseur Mark Zurmühle sein Publikum in die Pause.

Bis dahin plätschert seine Inszenierung als handwerklich gut gemachtes Unterhaltungstheater daher. Dabei werden die dem Musical-Buch zugrundeliegenden biografischen Erzählungen von Christopher William Bradshaw Isherwood stärker einbezogen als anderswo. Aus ihnen lässt der Regisseur Clifford immer wieder zusätzliche Passagen sprechen, sodass eine etwas lange, sehr textlastige Fassung entsteht, die stärker Bradshaws Bisexualität thematisiert und die Rolle seiner früheren Affäre Bobby (Helge Mark Lodder) aufwertet. Dieser androgyn-muskulöse Jüngling pendelt im anrüchigen Kit-Kat-Amüsiertempel zwischen den Geschlechterrollen hin- und her und bahnt auf der Herrentoilette sexuelle Begegnungen an, bei denen auch der gegenderte Conférencier mitmischt. Zurmühles freizügiger Berliner Sündenbabel entspricht ganz der Textzeile „We switch partners daily“ aus „Two Ladys“: Ernst Ludwig steigt zu Clifford und Sally ins Bett, die wiederum mit dem Conférencier knutscht, der/die eine Affäre mit Fräulein Kost (auf den Punkt besetzt: Juliane Schwabe) hat.

Erst im zweiten Teil wird aus zügellosem Amüsement bitterer Ernst. Zurmühle verlagert seinen Fokus, die Inszenierung wird zusehends düsterer und gipfelt in einem furiosen Finale: Unter einem riesigen Hakenkreuz wird das gesamte Personal des Kit-Kat-Clubs in einen Käfig getrieben, in dem parteitreue Blondinen es – von einem blutroten Nazi-Banner umhüllt- abtransportieren. Grinsend wünscht der Conférencier „Gute Nacht“, das Licht verlischt und in der Dunkelheit herrscht für einige Momente absolutes Schweigen. Diese Figur ist als diabolisch-triebgesteuerter Gastgeber angelegt, den die grandios singende Sascha Maria Icks als Zigaretten rauchenden, Lutscher lutschenden oder Bananen essenden Beobachter ohne wirkliche Aufgaben geben muss. Einzig beim Song „Money“, den der Regisseur als Plädoyer des Conférenciers für Cliffords Zusammenarbeit mit den Nazis deutet, darf Icks gemeinsam mit Sally, Ernst Ludwig (etwas zu sympathisch: Jakob Tögel) und den Kit-Kat-Girls und -Boys die ganz große Show mit goldenen Pailletten-Schals und -Hüten zelebrieren. Nicht nur für diese Szene hat Andrea Danae Kingston rasante Choreografien mit Akrobatik-Elementen entwickelt, die vor allem das achtköpfige Ensemble mit vollem Körpereinsatz gekonnt umsetzt.

Punkten kann Bremerhavens „Cabaret“-Neuinszenierung auch mit einer grandiosen Sechs-Mann-Band (Leitung: Jan-Hendrik Ehlers), die Bühnenbildnerin Eleonore Bircher in ihren Kit-Kat-Club integriert hat. Dieser befindet sich auf dem halb-hochgefahrenen Orchestergraben, der durch einen mit Glühbirnen bestückten Steg geteilt wird. Links sitzen die Musiker, rechts befinden sich Tische mit Telefonen, an denen die Gäste und die Souffleuse Platz nehmen. Für die Bühne selbst hat Bircher einen schäbig wirkenden Innenhof entworfen, der im Erdgeschoss mit einer blauen Tapete mit Bourbonen-Lilien dekoriert ist. Das dient sowohl als Club-Ambiente, als auch für die Zimmer von Fräulein Schneider. Der Clou: durch zwei zentrale Tore werden per Drehbühne in Dauer-Rotation immer wieder Versatzstücke gefahren, was schnelle Szenenwechsel ermöglicht. Warum Bircher die Fenster in den beiden oberen, nur als Staffage genutzten Etagen mit Nummern versehen hat, bleibt allerdings ihr Geheimnis.

Im Mittelpunkt jeder „Cabaret“-Aufführung steht vorlagenbedingt die Darstellerin der Sally Bowles. Dorothea Maria Müller füllt diese Rolle mit starkem Musical-Sopran aus und gibt zunächst ein flatterhaftes Naivchen, das im Laufe der Show verbittert erkennen muss, dass ihre Liebe zu Clifford gescheitert ist. Trotzig kehrt sie in den Kit-Kat-Club zurück und singt mit verheultem Makeup und leicht zitternder Stimme den bekannten Musical-Titelsong. Die ganz große Show liefert sie bei „Mama“ und „Mein Herr“ ab, sehr nachdenklich gerät „Maybe this time“. Nicht nur bei Sally Bowles gefällt das den 1930er Jahren huldigende Kostümbild, für das Cornelia Schmidt glitzernde Showoutfits aber auch schicke Anzüge mit Marlene-Hosen entworfen hat.

Durch die bereits erwähnten textlichen Ergänzungen aus den Erzählungen gewinnt auch die Rolle des Clifford an Potenzial. Henning Bäcker spielt den amerikanischen Schriftsteller sehr souverän und warmherzig. In dieser Inszenierung ist ihm sogar der sonst oft gestrichene Song „Why should I wake up till now“ vergönnt, den Bäcker mit angenehmem Bariton intoniert. Hier gefällt er auch im Tanz mit Dorothea Maria Müller. So gut dieses Paar harmoniert, so problematisch ist das bei Isabel Zeumer (Fräulein Schneider) und Kay Krause (Herr Schultz). Zeumer spielt eine sehr quirlige Zimmerwirtin, die mit einer grandiosen Chanson-Stimme verbittert „Wie geht’s weiter?“ fragt. Gesang ist hingegen nicht gerade das Zuhause von Kay Krause, der sich mit dem „Ananas“-Song und „Heirat“ abmüht und dem das Couplet „Mischnick“ erspart bleibt. Sein Herr Schultz ist ein liebenswerter Herr der kleinen Gesten, der nach dem Anschlag auf sein Geschäft die Welt nicht mehr versteht und mit Koffer in der Hand und Ölgemälde unterm Arm zum Schluss das Stücks von der Bühne schleicht.

Eine alles andere als weichgespülte „Cabaret“-Inszenierung ist in Zeiten von national-radikal predigenden Parolen unter dem Demokratie-Denkmäntelchen ein wichtiger Beitrag, um die Gesellschaft wachzurütteln. Mark Zurmühles Bremerhavener Inszenierung schafft das mit wuchtigen Bildern zu den Aktschlüssen zumindest in Ansätzen.

 
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KREATIVTEAM
InszenierungMark Zurmühle
Musikalische LeitungJan-Hendrik Ehlers
BühnenbildEleonore Bircher
KostümeCornelia Schmidt
ChoreografieAndrea Danae Kingston
VideoAaron Bircher
 
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CAST (AKTUELL)
Sally BowlesDorothea Maria Müller
Clifford BradshawHenning Bäcker
ConférencierSascha Maria Icks
Ernst LudwigJakob Tögel
Fräulein SchneiderIsabel Zeumer
Herr SchultzKay Krause
Fräulein KostJuliane Schwabe
Max, Matrosen u.a.Marc Vinzing
BobbyHelge Mark Lodder
KindersoloAnuschka Waitz
Delaya Kordyla
Alison Schimpf
Kit-Kat-GirlsLidia Melnikova
Juliane Schwabe
Rena Somehara
Judith Urban
Kit-Kat-BoysHelge Mark Lodder
Ilario Frigione
Edward Hookham
Marc Vinzing
Kit-Kat-BesucherHanns-Carl Engels
Andreas Kaib
Jan Philipp Martens
Leo Pahl
Miro Suvelo
Enrico von Jakusch-Gostomsky
Es spielt die Kit-Kat-Band
Trompete, FlügelhornNigel Moore
Saxofon, Klarinette, FlöteMarco Priedöhl
Gitarre, BanjoMatthias Strass
Kontrabass, TubaStephan Werner
Schlagzeug, PerkussionOlaf Satzer
Klavier, Posaune, AkkordeonJan-Hendrik Ehlers
  
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TERMINE (HISTORY)
Sa, 23.02.2019 19:30Großes Haus, BremerhavenPremiere
Mi, 27.02.2019 19:30Großes Haus, Bremerhaven
Fr, 08.03.2019 19:30Großes Haus, Bremerhaven
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