Mit seinem neuesten Stück für ein erwachsenes Publikum wendet sich das GRIPS einem der aktuellsten Themen der Hauptstadt zu: bezahlbarer Wohnraum. Das Ergebnis ist eher unterhaltend denn sozialkritisch oder bissig.
Lustvoll umspielen die Zungen die sinnlich geöffneten Lippen, während die Finger genussvoll die Brustwarzen stimulieren. Dazu singen Edel-Escortlady Charlotte (Jennifer Breitrück), die vom Leben überforderte Journalistin Adile (Katja Hiller) und die mausgraue Beamten-Anwärterin Anja (Nina Reithmeier) „Girls Just Want to Have Fun“ und greifen sich rhythmisch in den Schritt. Spaß dieser Art haben sie in ihren Beziehungen allerdings wenig. Charlotte kotzt nach der Freier-Befriedigung ins Klo, Adiles Lover, der um die Welt jettende Unternehmensberater Cyrus (Robert Neumann), findet für Matratzensport nur selten ein Zeitfenster in seiner Home-Base und bei Anjas Schatz Markus (Florian Rummel) rangieren Fußball und Fernsehen vor Familienplanung. Dabei sind die Damen für andere Männer durchaus Objekte der Begierde: Alt-68er Harald (Thomas Ahrens) hat Adile als Ehefrau Nummer Vier auserkoren, Sponti-Rocker Paul (Jens Mondalski) hat sich in Charlotte verguckt. Alle sieben vereint, dass sie Bewohner eines Berliner Mietshauses sind, in dessen vier Wände die Zuschauer blicken.
Jan A. Schroeder, der auch das Alltagskostümbild entworfen hat, stellt dafür als Spielort einen die volle Bühnenbreite einnehmenden, stilisierten Zweigeschosser zur Verfügung. In dessen erster Etage sind zwischen bodenlangen weißen Vorhängen eine Küche, ein Wohnzimmer und eine Toilette eingerichtet. Die schwarzen Wände werden nur durch jeweils eine herabbaumelnde Lichtquelle beleuchtet und sind mit dem Notwendigsten möbliert. Im Erdgeschoss befinden sich ein verrumpelter Keller und ein Treppenhaus mit Briefkästen, davor ein Hof mit durchgelegener Sonnenliege, Mülltonnen und einem Blumenkasten. Dieses gelungene, sich auf das Wesentlichste konzentrierende Bühnenbild ist Kulisse für die Hausgemeinschaft, gleichzeitig aber auch Spielort für die Vier-Mann-Band (Leitung: Tilmann Ritter), die im Zentrum des Erdgeschosses untergekommen ist.
Regisseurin Franziska Steiof, die gemeinsam mit ihrem Ensemble diesen „Ein singender Umzug“ untertitelten Abend geschrieben hat, zeigt das Wohnhaus als Mikrokosmos mit klar gezeichneten Charakteren und steuert eine Fülle witziger Ideen bei. Als Beispiele seien hier der von allen Darstellern mit den Lippen produzierte „Doktor Schiwago“-Handyklingelton von Yuppie Cyrus und die Einbeziehung des Publikums bei der Beleuchtung des Hoffestes genannt. Auf die Positivliste gehören auch Laura Leyhs Choreografien, mit denen sie das spielfreudige, sehr homogene Ensemble oft parodierend-überdreht zu den Songs bewegt.
Letztendlich reicht dieses von Kreativ-Team und Darsteller-Riege geschaffene Fundament nicht aus, um daraus ein tragfähigen, mitreißenden Theaterabend zu schaffen. Das liegt hauptsächlich an Franziska Steiofs Textvorlage, die den sozialkritischen Hintergrund fast schamhaft mit seichter Unterhaltung überdeckt. Als sich der Hausgemeinschaft mit dem „Activare“-Konzern ein neuer Vermieter vorstellt, der Haus und Kiez entwickeln will, freuen sich die Mieter zunächst. Nun werden ihre Forderungen nach Balkonen, Ceran-Herden und Fußbodenheizung endlich erfüllt. Letztendlich schlägt diese erste Euphorie durch Mieterhöhungen und Baulärm ins Gegenteil um und stellt die Bewohner auf eine harte Probe. Doch statt die Hausgemeinschaft vereint zum Kampf gegen den Miethai antreten zu lassen, nehmen die Bewohner die angebotene finanzielle Entschädigung des neuen Eigners an, um ihre Träume zu realisieren. Die dahinter stehende Botschaft des seichten Jukebox-Musicals lautet: Kauf dir lieber etwas Schönes statt für deine Ziele zu kämpfen. Immerhin reicht das Ensemble im Finale kommentarlos rote und gelbe Zettel in die Zuschauerreihen, auf denen Auszüge aus einem Manifest Hamburger Künstler gegen die sozialen Veränderungen in ihrer Stadt abgedruckt sind. Nur, was hat das mit Berlin zu tun und wer liest das auf dem Nachhauseweg?
Auch musikalisch hinterlässt der sehr langatmig wirkende, dreistündige Abend einen schalen Eindruck. Zwar steuert Thomas Zaufke einige Neukompositionen bei, die allerdings wie der Opener „Schöner Wohnen“ oder die Ensemble-Nummer „Meine vier Wände“ ihre enge Verwandtschaft zum bisherigen Werk des Komponisten nicht verleugnen können. Weitaus kreativer sind Zaufkes überraschende Arrangements für die Songs aus dem Pop- und Musical-Repertoire, die fast Zweidrittel der Partitur ausmachen. So ist der Britney Spears-Titel „Baby One More Time“ als Reggae-Nummer kaum wiederzuerkennen. Ihren Tiefpunkt erreicht die Show, wenn das Ensemble zur Pause „Eisern Union“, die Fan-Hymne eines Berliner Fußballzweitligisten, grölt.
Unter seiner neuen Künstlerischen Leitung schlägt das GRIPS neue Wege ein und orientiert sich am allgemeinen Trend der Compilation-Shows, wie sie viele mittlere und kleine nicht-kommerzielle Theater entwickeln. Bleibt abzuwarten, wie das Publikum darauf reagiert.
Fr, 02.09.2011 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | Premiere |
Sa, 03.09.2011 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | |
Fr, 16.09.2011 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | |
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Sa, 17.09.2011 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | |
Fr, 14.10.2011 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | |
Sa, 15.10.2011 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | |
Mi, 09.11.2011 18:00 | GRIPS Theater, Berlin | |
Do, 10.11.2011 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | |
Sa, 17.12.2011 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | |
Mo, 19.12.2011 18:00 | GRIPS Theater, Berlin | |
Fr, 20.01.2012 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | |
Sa, 21.01.2012 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | |
Mi, 08.02.2012 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | |
Do, 09.02.2012 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | |
Do, 08.03.2012 18:00 | GRIPS Theater, Berlin | |
Fr, 09.03.2012 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | |
Mo, 16.04.2012 18:00 | GRIPS Theater, Berlin | |
Fr, 27.04.2012 19:30 | GRIPS Theater, Berlin | zum letzten Mal |
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