Gino Emnes ist gerade aus Wien zurückgekehrt, wo er den Tod bei der Schönbrunner Open-Air-Produktion von „Elisabeth“ verkörpert hat. Der sympathische Darsteller gehört zu den großen Namen des deutschsprachigen Musicalraums und dürfte vielen Fans aus „König der Löwen“, „Kinky Boots“ oder „Hamilton“ bekannt sein. Sein außergewöhnliches Casting als der Tod im Kunze-Levay-Musical haben wir zum Anlass genommen, um mit Gino über seine bisherige Karriere zu reflektieren. Dabei hat sich ein inspirierender Deep Talk entwickelt, in dem wir über Themen wie Diversität im Musical-Business und Selbstakzeptanz gesprochen haben.
Erzähle uns bitte ein bisschen was von deinen Ursprüngen – hat deine Familie dich für deine Laufbahn geprägt?
Ich bin in Holland geboren und aufgewachsen. Meine Familie würde ich schon als grundsätzlich musikalisch beschreiben – meine Schwester singt zum Beispiel in Bands. Aber dieses Bild, dass wir als Familie alle zusammen um ein Klavier saßen und gesungen hätten, gab es bei uns absolut nicht. Meine Eltern kommen aus der Karibik und Südamerika. Da tanzt und bewegt man sich natürlich sehr gerne, aber von professionellem Tanz ist das ein gutes Stück entfernt. Der Drive dazu kam also eher als mir heraus.
Was hast du gemacht, bevor du Musicaldarsteller geworden bist?
Von 12 bis 14 ½ Jahren war ich am Konservatorium für klassisches Ballett. Eine gute Freundin aus der Zeit hat diese Karriere weiter verfolgt, während ich nach der Schule dann Public Relations studiert habe. Diese Freundin hat mich dann auf den Weg gebracht, Tänzer zu werden. Ich habe sie in Amsterdam besucht, und weil das Institut von Lucia Marthas, wo sie studierte, noch Jungs suchte, hat meine Freundin mich dazu überredet, mal mitzumachen. So habe ich dann tatsächlich eine Tanzausbildung dort gemacht.
Kannst du uns von deinem Weg bis zu deinem Musical-Durchbruch, Simba in Hamburgs „Der König der Löwen“ erzählen?
Bevor ich nach Deutschland kam, hatte ich bereits eine kurze Karriere als Darsteller in Holland. Meine Laufbahn hat schon mit Rollen angefangen, nicht mit Ensemble. Meine erste Rolle war Tyrone im Musical „Fame“, das von Stage Entertainment als Tour produziert wurde. Das Singen auf der Bühne für ein Publikum war damals total neu für mich, da ich ja aus dem Tanzmetier kam. Eine Hauptrolle zu spielen und diese jeden Tag zu reproduzieren, habe ich während dieses Stücks auf der Bühne gelernt. Danach kam Benny in „Rent“ und im Anschluss bin ich noch drei Monate in „Saturday Night Fever“ eingesprungen.
Zu der Zeit gab es in Amsterdam einen Studiokomplex namens ‚Focus‘, wo man Proben hatte und auch Auditions stattfanden. Ich war dort mit einem Kumpel und wir haben für eine Show vorgetanzt und gesungen, als wir einen Aushang sahen, auf dem stand, dass für „König der Löwen“ in Deutschland noch TänzerInnen gesucht werden. Wir haben uns dann gedacht: Komm, wir sind doch eh hier und haben die Tanzklamotten noch an – lass uns das doch einfach mal versuchen. Also haben wir dort vorgetanzt. So habe ich dann erst einmal für einen Pas de deux vorgetanzt, der im Song „Can you feel the Love“ vorkommt. Als sie gemerkt haben, dass ich nicht nur tanzen, sondern ja auch singen kann, wurde mir Material für Simba und Banzai gegeben. Ich habe mich gleichzeitig für Hamburg und für das Londoner West End vorbereitet – beide Produktionen stammten von den gleichen Creatives, sodass für beide Shows gecastet wurde. Insgesamt neun Runden habe ich dann vorgesungen und habe am Ende die Zweitbesetzung des Simba am West End und die Erstbesetzung in Deutschland angeboten bekommen. Ich habe mich wegen meiner damaligen Unsicherheit gegen das West End entschieden, weil ich wusste, dass dort das Stück schon bekannt war und ich einen gewissen Maßstab schaffen musste zu erreichen. In Deutschland wäre ich dann der erste gewesen, sodass ich mich dann dafür entschieden habe. Und so hat das alles angefangen.
Und das alles komplett ohne Deutschkenntnisse?
Wir haben alle die Show komplett phonetisch gelernt. Von 45 Leuten in der Cast konnten etwa 37 kein Deutsch sprechen. Es hat bei mir auch eine Weile gedauert, mich mit Deutsch wohlzufühlen – das hat was mit Perfektionismus zu tun, aber auch damit, dass Holländisch und Deutsch sich einerseits sehr ähnlich, dann aber wieder gefährlich unähnlich sind. Heutzutage fühle ich mich absolut sicher auf der Bühne, aber es bleibt einfach meine Zweit- oder Drittsprache. Wenn mir bewusst wird, dass ich gerade vor Deutschen spreche, werde ich ab und zu auf einmal unsicher über Grammatik, zum Beispiel die Fälle. Ich glaube, das geht vielen so, wenn man mit Muttersprachlern spricht und es für einen selbst eine Fremdsprache bleibt. Aber insgesamt fühle ich mich mittlerweile doch ganz wohl.
In was für einer Phase deines Lebens kam „König der Löwen“ hinein?
Das war 2001, ich war 23 Jahre alt. Drei Jahre zuvor ist meine Mutter plötzlich verstorben. Ich war sehr suchend und wusste nicht genau, was ich vom Leben wollte. Daher war ich auch sehr offen und habe mit der Show einen neuen Anfang bekommen, ins Ausland zu gehen, neue und unfassbar inspirierende Leute kennenzulernen. Es war faszinierend für mich zu sehen, dass wir alle People of Colour waren, die diesen Schritt nach Deutschland gewagt haben – auch ohne die Sprache zu verstehen. Für mich war es so stark zu sehen, dass Kunst, egal welche Sprache man spricht oder wo man sein Handwerk gelernt hat, mit der richtigen Energie und Leidenschaft, alle verbinden kann. Wenn die Chemie auf der Bühne stimmt, versteht man es einfach, ganz egal ob Deutsch, Swahili oder Chinesisch. Die Zeit dort war extrem prägend für mich: Ich habe bei „König der Löwen“ meinen Beruf erst richtig kennen gelernt und auch für mich als Künstler verstehen gelernt, wofür ich stehe. Auch für mich als Mensch habe ich dort viel gelernt und angefangen zu lernen. Viele riesige Lektionen habe ich dort also lernen dürfen.
Du hast schon in vielen Erstaufführungen in Deutschland auf der Bühne gestanden. Ist so eine Arbeit für dich eher positiv oder negativ konnotiert?
Es hat etwas von beiden Seiten: Wenn es schonmal gemacht worden ist, weiß das Team genau, was sie wollen und brauchen und wohin die Reise gehen soll. Bei Erstaufführungen haben die Creatives oft viel Stress und wissen nicht genau, wie das Stück beim Publikum ankommen wird. Dieser Druck überträgt sich dann auch auf uns DarstellerInnen.
Wie gehst du mit diesem Druck um?
Das ist meine Normalität. Erstaufführungen zu spielen, ist ja ein großer Teil meiner Karriere, wie du schon gesagt hast. Ich weiß also, was ich tun muss, um zu funktionieren und das alles nicht zu sehr an mich ranzulassen. Klar, das musste ich auch erst einmal lernen. Oftmals die einzige Person of Colour in einer Produktion zu sein, bringt auch einen gewissen Druck mit sich – aber auch das ist meine Normalität.
Wie sieht es mit Kritik aus?
Es ist total davon abhängig, wer etwas zu mir zu sagen hat. Ich habe das Glück, eine schöne Karriere zu haben. Damit einher geht aber auch, dass man oft im Fokus steht, zum Beispiel auch bei Social Media. Auch ich bin nur ein Mensch. So habe ich mir angewöhnt, 90% der Zeit die Sachen nicht zu lesen. Selbst auf meinem eigenen Kanal lese ich 70% nicht, denn wir kennen das alle: Es können 9 Leute sagen, du bist Hammer, und einer äußert sich abfällig – und das bleibt dann hängen.
Eine deiner weiteren großen Rollen war Eddie Fritzinger in „Sister Act„. Eine sehr introvertierte und ruhige Persönlichkeit. Bist du das privat?
Auch das bin ich, ja. Aber ich würde nicht unbedingt sagen, dass ‚Schwitzefritze‘ [Anm. d. Redaktion: Spitzname der Rolle im Stück] mir näher ist als andere Rollen oder es mir einfacher fiel, ihn zu spielen, nur weil er introvertiert ist. Ich habe sehr viele unterschiedliche Rollen gespielt, durch die ich gelernt habe, dass so viele Facetten in mir stecken. Auch wenn Aspekte von einigen Figuren bei mir privat alltäglich nicht so rauskommen, heißt das nicht, dass sie nicht Teil von mir sind.
Eine Paraderolle von dir ist sicherlich Lola in „Kinky Boots„. Die Rolle und das Stück kann man auch als eine Art Politikum sehen. Nicht selten wird darüber diskutiert, dass die Darstellung von LGBTQIA+ in diesem Musical recht eindimensional sei. Was ist für dich die Relevanz dieses Stücks?
Wenn man mich als queeren Mann fragen würde, ob ich Lola ehrlich, menschlich und mit verschiedenen Facetten gespielt habe, würde ich sagen: Ja. Ich finde diese Figur faszinierend und sehr greifbar. Ein Mann, der sich als Schutzmechanismus selbst das Boxen angeeignet hat und somit eine gewisse körperliche Stärke im Alltag mitbringt, fühlt besondere persönliche Bestärkung im Tragen von Frauenkleidern. Ich selber mache kein Drag, habe aber mit vielen Drag Queens gesprochen, denen es auch so geht. Für mich war da an der Figur auch etwas, worin ich mich finden konnte: Nicht, dass ich mich als Gino in Frauenklamotten stärker fühle, aber dieses Gefühl, weg zu müssen und zu wollen aus der eigenen Realität, das kannte ich als queere Person auch. Als Teil der queeren Community kennen das viele. Man schämt sich anfangs für die eigene Realität. Man lernt, mit sich selber zu leben und mit dem klarzukommen, wie man von außen gesehen wird. Man sucht nach Akzeptanz und will dazu gehören. Man hat Ängste, ob man ‚trotzdem‘ von seinem Umfeld akzeptiert wird. Solche Ängste habe ich aus meiner Teenagerzeit absolut auch mitgenommen, auch wenn das Leben sie manchmal nach hinten drückt und meine Familie letztendlich mit meinem Outing gut klar kam. Meine Mutter hat es nicht offiziell von mir gehört, da ich mich erst nach ihrem Tod geoutet habe – aber natürlich wird sie es gewusst haben. Um Lola aus mir selbst heraus authentisch zu zeigen, habe ich auch aus meiner Vergangenheit geschöpft: Ich habe mich damals auch in die Schuhe meiner Mutter gestellt und mich in ihre Schals gewickelt. Sehe ich Lola, denke ich an meine Mutter und meine Tante. Wie sie ihren Körper trugen, wie sie laut waren, wie sie strahlten. Und so versuche ich, jede Rolle anzugehen und zu schauen: Wo lebt diese Person in mir?
À propos Boxen: Auch bei „Rocky“ hattest du mit diesem Sport zu tun. Erzähl uns doch ein bisschen davon!
Also, Boxen ist schon cool, aber privat habe ich damit gar nichts am Hut. Für die Rolle des Apollo habe ich damals 8 Kilogramm an Muskelmasse antrainiert. Bevor ich dafür engagiert wurde, hätte ich mir das nie zugetraut und mich selber darin überhaupt nicht gesehen. Ich denke da an die Originalbesetzung von Apollo in New York: Ein riesiger, breiter Mann! Seine Oberarme waren so breit wie meine Oberschenkel, das war unfassbar! [lacht] Aber so, wie ich es hinbekommen habe und was ich alles für diese Rolle gemacht habe, bin ich doch ganz stolz auf mich.
Bist du denn privat eher eine Sportskanone oder eine Couch Potato?
Ich bin mittlerweile eine Sports Potato! [lacht] Aber Fitness mache ich absolut noch, und war auch immer dabei. Früher war ich da etwas eiteler und wollte auch was präsentieren können, wenn ich oberkörperfrei auf der Bühne war. Mittlerweile sind meine Rollen ja nicht mehr so körperlich in diesem Sinn. Mit Anzug oder Hemd drüber sieht man es ja eh nicht so, also brauche ich auch keine Sportskanone mehr sein – Sport Potato reicht aus!
Vermisst du den Tanz in deinen Hauptrollen?
Ich komme zwar aus dem Tanz, aber richtig intensive Tanzrollen hatte ich ja eigentlich nie. Trotzdem hilft mir mein Tanzhintergrund immer wieder, mich in die Körpersprache der Rollen einzufinden. Außerdem liebe ich es, mit TänzerInnen zu arbeiten! Sie können so gut über sich selbst und andere lachen und sind viel ehrlicher. Ich habe nie eine SängerIn gehört, die sagt: „Mein Gott, was war das für ein Ton?“ oder eine SchauspielerIn, die sagt: „Hä, wie hast du das denn da gerade gespielt?“ – aber TänzerInnen untereinander sind etwas mehr ’shady‘ zueinander, aber immer mit Spaß dahinter! Dabei sind TänzerInnen wahrscheinlich am meisten mit sich selbst konfrontiert und müssen harter Kritik standhalten. Alleine die verspiegelten Trainingsräume: Man sieht sich selbst und die anderen die ganze Zeit und bewertet. Das hat mich sehr lange in meinem Leben begleitet, und zwar nicht im positiven Sinne.
Auch „Hamilton„, wo du Aaron Burr gespielt hast, hat viel mit Politik zu tun. Wie erging es dir beim Erarbeiten dieses Stücks?
Als ich das Skript bekommen habe, hatte ich gerade „Miss Saigon“ in Wien gespielt und war daher zu dem Zeitpunkt ziemlich eingespannt. Immer wenn ich Zeit hatte, habe ich mir das Skript angeschaut und mir drei Tage lang die Frage gestellt: Wie fange ich damit an? Von vorne, von hinten, von meinem Lieblingsliedern? Es war einfach so unglaublich viel. Nach drei Tagen habe ich mir dann gesagt: Du gehst in ein Café und hörst dir jeden Tag anderthalb Stunden die Texte an. Das ganze Stück war damals für uns alle eingesprochen, was mir sehr zugute kam. Ich bin ein sehr auditiver Lerntyp. So habe ich mich einfach hingesetzt und mir das ganze angehört. Der historische Aspekt des Stücks war für mich erstmal absolut nicht wichtig, daraus habe ich keine Studie gemacht. Generell finde ich das bei der Erarbeitung nicht so relevant – denn in erster Linie geht es immer um eine menschliche Geschichte.
Du bist frisch aus Wien von „Elisabeth“ zurück, wo du den Tod gespielt hast,eine ikonische Rolle für den deutschsprachigen Musicalmarkt. Hattest du dich vor dem Casting selbst in der Rolle gesehen? War das eine Wunschrolle für dich?
Ich selber kann mir vieles vorstellen, wenn ich es singen und spielen kann – leider hat unsere Gesellschaft mich auch gelehrt, der Realität ins Auge zu blicken. Ich hätte nicht unbedingt gedacht, dass ich die Chance bekomme, diese Rolle zu spielen. Okay, es gab in den Niederlanden Stanley Burleson, der den Tod gespielt hat. Aber er ist vergleichsweise doch sehr hell von der Hautfarbe her und wird daher auch in vielen Rollen eingesetzt. Trotzdem habe ich das Stück generell eher für mich ausgeblendet, weil der Tod konventionell weiß gecastet wird. Während Corona kam dann von Christian Struppeck für die VBW-Fernsehgala die Anfrage, „Der letzte Tanz“ zu singen. Ich denke, für viele DarstellerInnen, die nicht PoC sind, gehört so ein Song zum Repertoire, das man schon in der Ausbildung kennenlernt oder Zuhause einübt – denn es könnte ja mal sein, dass sie dieses Stück spielen werden. Ich kannte den Song bis dahin gar nicht wirklich, da ich als Person of Colour über dieses Stück kategorisch nie nachgedacht hatte. Ich bin mir schon bewusst, dass ich als ‚Produkt Gino Emnes‘ wohl mehr Chancen von RegisseurInnen und ProduzentInnen bekomme, wofür ich auch dankbar bin. Lange Zeit gab es nur mich in der Szene als PoC-Mann mit dieser Art von Karriere. Insofern war meine Reaktion bei der Anfrage für die Rolle in Wien überrascht, aber ich dachte mir: Ja, cool, das mache ich gerne! In Wien angekommen war ich dann aber auch wirklich überwältigt, was diese Produktion für eine riesige Maschine ist: Dass es 11.000 Leute am Abend schauen, ist der Wahnsinn. So eine Kultshow, dessen großes Following alles auswendig kennt – das ist schon nochmal ein besonderer Druck. Ich habe versucht, den Tod mit möglichst vielen unterschiedlichen Facetten anzulegen: Ein bisschen lauernd, schon fast wie ein wildes Tier, aber dann auch wieder warm und einladend. So etwas gefällt mir ganz besonders!
Dann hoffen wir mal, dass weitere traditionell als ‚weiße Stücke‘ geltende Musicals ihre Tore öffnen und Color-Coding für Figuren obsolet wird.
Das würde ich mir absolut wünschen. Aber auch generell: Sexualität, Gender, Handicaps, unterschiedliche Lebenskonzepte. All das gehört in unsere Welt, in unsere Gesellschaft. Warum soll man es dann nicht authentisch auf der Bühne zeigen? Die Bühne sollte doch Spiegel unserer Gesellschaft sein. Frauen, die kleiner und schmaler sein müssen als der Mann… warum? Meine Nachbarin ist doch auch nicht kleiner als ihr Mann, und das ist doch auch völlig okay – oder lieben sie sich deswegen etwa weniger?! Aber diese Stereotypen werden kreiert und prägen uns und sollten doch dann im Leben und somit auch auf der Bühne aufgebrochen werden. Obwohl ich gegen diese Stereotypen kämpfe, erwische ich mich auch immer wieder dabei, nach solchen Mustern zu denken. Auch ich bin so geprägt und konditioniert worden, dass ich bestimmte Sachen als ’normal‘ sehe und muss mich selbst dann zurückrufen und sagen: Nein! Raus aus diesem Denken! Auch DAS ist normal! Wir haben alle unheimlich viele Meinungen und Vorurteile, die man hinterfragen sollte.
Es ist wichtig und an der Zeit, dass wir Diversität ins breiteste Spektrum der darstellenden Künste bekommen. Nicht nur in den Besetzungen soll sich diese widerspiegeln, sondern auch in den kreativen Teams, damit wir verschiedene Perspektiven sehen, hören und spüren. Natürlich ist es als PoC immer schön und einfach ein anderes Erlebnis, mit anderen PoC zusammen in einer Cast zu sein. Aber wir müssen auch endlich in der Kreation der Stücke, also ganz am Start der kreativen Prozesse, diverser werden. Sonst werden die gleichen Storys immer wieder erzählt. Die Geschichte von einer queeren Person wird anders aussehen, wenn das Kreativteam queer ist, als wenn es aus hetero-cis-Leuten besteht. Ganz egal wie offen sie sind, es werden immer Aspekte und Schichten der Geschichte fehlen. Dasselbe gilt zum Beispiel auch bei Stücken über Frauen, über PoC oder über Menschen mit Behinderungen. Die Perspektiven der angesprochenen Leute müssen mit einbezogen werden, denn nur so kann man verstehen, wie es für alle ist, in dieser Gesellschaft zu leben. Das halte ich für unglaublich wichtig!
Hast du eine Rolle, die du noch gerne verkörpern würdest?
Solange sie facettenreich ist, bin ich für alles offen. Es kommen ja auch immer wieder tolle neue Stücke nach, deswegen fällt mir die Auswahl schwer. Aber ich würde doch ganz gerne mal bei einer Musical-Verfilmung mitmachen! Das wäre doch mal was! Durch die Kameras kann man so klein und subtil arbeiten, was ich total cool fände. Außerdem kann man im Film sich auch ganz anders einbringen, wenn man es sozusagen nur einmal auf Band bekommen muss, als es 8x die Woche auf der Bühne zu spielen. Das fände ich sehr reizvoll, mal zu machen.
Gibt es Stücke, die es deiner Meinung nach mal nach Deutschland schaffen sollten?
Ich würde das anders sehen. Wenn man Stücke nimmt, die schon millionenfach gespielt wurden – können wir da bitte versuchen, das ein bisschen aufzufrischen und die Stoffe für 2024 aufzuarbeiten? Wenn wir zum Beispiel „Tanz der Vampire“ anschauen, wo es um angestaubte Vampire geht: Können wir dann bitte auch mal 2024-Vampire haben? Keine alten Männer, die minderjährigen Frauen nachstellen. Das ist nicht sexy, sondern ekelhaft. Keine Klischees mehr. Ein bisschen mehr Sex, mehr Diversität, mehr Mut. Die Musik ist wunderschön, aber die Geschichte könnte man aufpimpen. Dafür gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Auch bei „Elisabeth“ – ja, sie ist eine historische Person, ja, sie war eine weiße Frau. Aber ich verlange doch von meinem Publikum auch, dass sie zum Beispiel annehmen, dass das Glas, das ich in einer Szene in der Hand halte, in der nächsten Szene dann abstrahiert ein Fernglas darstellen soll. Warum geht so etwas, aber bei anderen Themen ist man so selektiv und festgefahren? Es ist doch Kunst. Können wir sie nicht öffnen und frischer gestalten?
Danke für den sehr wichtigen und inspirierenden Deep Talk, lieber Gino! Zum Schluss nur noch eine kleine, seichte Frage: Wie verbringst du deine Freizeit?
Schlafen und Kekse essen! [lacht]
Du hast im Interview viele sehr relevante Themen angesprochen, was auch Mut verlangt. Wir danken dir ganz herzlich für deine Offenheit in diesem Gespräch. Auch hoffen wir, dass unsere LeserInnen durch deine Perspektiven ebenfalls mit ein paar neuen Impulsen und Inspirationen bereichert werden, so wie wir es durch dein Interview auch wurden. Alles Gute auch für deine nächsten Projekte!
Galerie | |||||||||
GALERIE |
---|